Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2007. Die FR hofft, dass mit Stoiber nicht auch dieser ganze liebenswürdige Zinnober aus Brauchtum und bayerischem Idiom untergeht. Heute läuft der "Aufstand der Alten" im ZDF. In der FAZ äußert sich der Bevölkerungswissenschaftler James Vaupel gar nicht mal so pessimistisch über unsere demografische Zukunft. Die Welt sieht sich die die Entwürfe für die Hamburger Hafencity an und stößt auf Wüsten des Ökonomismus. In der taz hat der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich Thesen über den Ausnahmezustand auf dem Kunstmarkt. Und die SZ stellt zu den Berliner Scharmützeln um Wolf Biermann fest: "So unsouverän wie das Abgeordnetenhaus im Umgang mit Wolf Biermann war zuletzt das Politbüro der SED."

FR, 16.01.2007

Peter Michalzik hofft inständig, dass mit Stoiber nicht auch die CSU untergeht. Das bayerische Modell des permanenten Karnevals ist ihm doch zu sehr ans Herz gewachsen. "Vom Rest des Landes aus betrachtet ist Bayern immer noch eine Mischung aus einer Insel der Seligen und einer kuriosen Kinderei. Den Bayern geht es einfach besser, stellt man mit leichtem Neid fest, sie sind aber auch mehr oder minder liebenswürdige Spinner, mit ihrem Zinnober aus Brauchtum und bayerischem Idiom weitgehend unverständlich. Ganzjährig führen sie eine Art Kasperltheater oder Fasching auf, dessen immerwährendes und unerschöpfliches Motto Bayern heißt."

Welche Schlussfolgerungen der junge israelische Zuschauer aus Dani Levys Film "Mein Führer" ziehen soll, beschäftigt Claudia Schmölders. "Soll er den rasenden Hitlerkult der arabischen Nachbarländer vergessen, sich Herrn Ahmadinedschad lieber als eine vom Vater geprügelte Kreatur denken, ihm Therapie anbieten und vorauseilendes Mitleid? Und wie soll überhaupt der Zeitgenosse diese deutsche Selbstheilungsposse mit dem dänischen Karikaturendrama des Jahres 2006 zusammendenken?" Fragen über Fragen.

Weiteres: Christian Schlüter schreibt zum Tode von Michael Brecker. Harry Nutt denkt in Times mager und selbst beim Berliner Presseball an Klaus Wowereit und das Opernproblem. Besprochen wird Calixto Bieitos mit "ungeteiltem Jubel" quittierte Inszenierung von Leos Janaceks Oper "Jenufa" am Stuttgarter Staatstheater sowie Ivan Panteleevs Stück "Herr Rossi sucht das Glück" in Freiburg.

NZZ, 16.01.2007

Besprochen werden die Wiederaufnahme von Händels Opernoratorium "Semele" im Opernhaus Zürich (mit einer Cecilia Bartoli, die laut Peter Hagmann großartig bei Laune und Stimme war), Elias Perrigs "hochvergnügliche" Aufführung von Shakespeares "Was ihr wollt" in Basel, die Schau "Piktogramme" im Kunstmuseum Stuttgart und Bücher, darunter Niels Fredrik Dahls Roman "Im letzten Sommer" und Carlos Fuentes' Erzählungen "Unheimliche Gesellschaft" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 16.01.2007

Dankwart Guratzsch hat sich die Entwürfe für die Hamburger Hafencity angesehen, die zur Zeit im Cruise Center präsentiert werden. Einige kühne Entwürfe sind darunter, alles in allem bot sich ihm jedoch eine "Wüste des Ökonomismus, der platten Nützlichkeit", die städtisches Leben nicht gerade fördere. "Auffällig ist die fast völlig verloren gegangene Einfühlung in 'Milieu'. An einem der sicherlich künftig zugigsten Orte Hamburgs will den Baugestaltern kein noch so bescheidener Beitrag zur Verweilkultur, zu kommunikativer Gestaltung des öffentlichen Raums oder gar regionaler Typologie gelingen."

Weitere Artikel: Das Berliner Museum "Haus am Checkpoint Charlie" erhält heute eine Liste überreicht mit den Namen von 43.035 Menschen, die zwischen 1945 und 1950 in sowjetischen Lagern in der SBZ und DDR starben, berichtet Sven F. Kellerhoff. Der Historiker Richard Evans bestätigt, dass man über Hitler lachen darf - wenn's lustig ist. Josef Engels schreibt zum Tod der Jazzmusiker Alice Coltrane und Michael Brecker.

Besprochen werden eine Aufführung von Händels Oper "Semele" mit Cecilia Bartoli in Zürich, eine CD mit dem Vivaldi singenden Countertenor Philippe Jaroussky, Clint Eastwoods Film "Flags of our Fathers", Calixto Bieitos Inszenierung von Janaceks Oper "Jenufa" in Stuttgart und eine Ausstellung im Jüdischen Museum in Prag, die das Schicksal der Thora-Rollen der böhmischen und mährischen Gemeinden dokumentiert.

Tagesspiegel, 16.01.2007

Nicola Kuhn stellt den mexikanischen Künstler Damian Ortega vor, der für den Preis der Nationalgalerie nominiert ist. "Die Polizisten dürften nicht schlecht gestaunt haben. Nachdem der adrett gekleidete junge Mann mit dem kleinen Kinnbärtchen erst einmal Tisch, Stuhl und Bett mühsam auf die Fußgängerbrücke am Holsteiner Ufer geschafft hatte, warf er diese in einem weiteren Kraftakt über das eiserne Geländer einfach in die Spree. Damian Ortega bekam allerdings selbst den größten Schrecken, als ihn die beiden Uniformierten darauf streng befragten, was er denn hier mache. Der mexikanische Daad-Stipendiat fürchtete sogleich, das Ende seines Berlin-Aufenthalts sei gekommen. Die Errettung brachte ihm schließlich einer der Polizisten, indem er etwas freundlicher wissen wollte, ob dies alles vielleicht nur ein Kunstprojekt sei." Heute abend eröffnet Ortega zusammen mit dem japanischen Künstler Shimabuko die von ihnen entworfene Bar "Fish & Ships" in der Daad-Galerie.

Auf der Meinungsseite setzt sich der Theologe Richard Schröder (diesmal stimmt der Namen aber!) für die Verleihung der Berliner Ehrenbürgerwürde an Wolf Biermann ein. Alles andere wäre "eine handfeste Blamage".

FAZ, 16.01.2007

Heute Abend läuft im ZDF der Demografie-Schocker "Aufstand der Alten", der im Jahre 2030 spielt und von der Aufdeckung eines Euthanasieprogramms zur Abschaffung überzähliger Alter handelt: Methusalemkompott, sozusagen. "Wir, das friedens- und wohlstandsverwöhnteste Deutschland aller Zeiten, werden die Krise als Alte erleben", schreibt Demografie-Spezialist Frank Schirrmacher dazu im Aufmacher. Der Rostocker Bevölkerungswissenchaftler James Vaupel sieht es im Interview mit Christian Schwägerl nicht ganz so pessimistisch: "Ich kenne keine seriöse ökonomische Prognose, die davon ausgeht, dass die Deutschen im Jahr 2030 ärmer sein werden als heute. Wenn es gelingt, das reale Rentenalter zunächst auf die offizielle Grenze von fünfundsechzig Jahren zu bringen und dann auf siebenundsechzig Jahre anzuheben, gerät das Rentensystem nicht aus den Fugen. Damit dies so kommt, muss enorm viel passieren, die Arbeitskraft der Älteren darf zum Beispiel nicht weiter grundsätzlich so teuer bleiben, Arbeitgeber sollten Ältere nicht als unproduktiv abstempeln."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel glossiert Zadie Smiths Guardian-Essay über das literarische Scheitern. Die vollständige Liste der Berlinale-Wettbewerbsfilme wird bekanntgegeben. Ulrich Olshausen schreibt zum frühen Tod des Jazz-Saxofonisten Michael Brecker. Und Kerstin Holm berichtet kurz über die Festnahme eines milliardenschweren russischen Oligarchen in Frankreich - er hatte sich in einem Luxushotel mit einer ganzen Gruppe minderjähriger Mädchen vergnügt.

Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender den "Aufstand der Alten" und andere Beiträge einer Sendewoche, die das demografische Thema in den Vordergrund rückt. Michael Hanfeld geht auch der Staatsaffäre um Günther Jauchs Absage für die Christiansen-Nachfolge bis ins Detail weiter nach. Sabine Sasse empfiehlt eine Dokumentation über Doping Fahnder heute Abend im Ersten. Robert von Lucius meldet, dass Madsack und Springer in Leipzig ein neues Druckhaus eröffnen.

Auf der letzten Seite beobachtet Martin Wittmann einen bayerischen Katastrophen-Voyeurismus in Wildbad Kreuth, wo das bayerische Volk neugierig auf den Sturz Stoibers wartet. Eleonore Büning annonciert, dass Daniel Barenboim heute Abend in der Scala ein Toscanini-Gedenkkonzert zu dessen fünfzigstem Todestag leiten wird. Und Dirk Schümer betrachtet eine aus einem angeblichen Dante-Schädel erarbeitete Physiognomie des Dichters (hierzu ein gut illustrierter Artikel im Standard).

Besprochen werden eine Ausstellung über "fiktive Bauten und Städte in der Literatur" in München, Lessing- und Garcia Lorca-Inszenierungen in Düsseldorf und Essen, ein Auftritt der Fuzztones in München, neue Big Band-CDs, Elias Perrigs "Was ihr wollt"-Inszenierung in Basel und eine Ausstellung über die Expressionisten und van Gogh in Amsterdam.

Reich illustriert Florentine Fritzens Artikel über die neuesten Mailänder Männermodenschauen im FAZ-Net.

TAZ, 16.01.2007

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich vermutet, dass es das mitgelieferte Gefühl der Andersartigkeit ist, das die zeitgenössische Kunst derzeit so begehrt und teuer werden lässt. "Seit der Romantik und erst recht in den Generationen der Avantgarde stand Kunst für den Ausnahmezustand, für das radikal Andere und durchaus auch schockierend Fremde. Erzeugten ehedem radikale Abstraktionen, gestische Ausbrüche oder tabuverletzende Performances die erstrebte Differenz zwischen der Kunst und allem anderen, so sind es heute die exzeptionellen Preise, durch die dasselbe gelingt... Kunst, die sich trashig, dilettantisch oder flott gemacht gibt, hat die besten Chancen, Sensationsmaxima zu generieren."

Weiteres: Katrin Bettina Müller liest sich durch einige Gegenwartsstücke und findet die konsequent beschädigten Helden anstrengend, aber glaubwürdig: "Der neue Held ist und bleibt eine Zumutung, der mit seiner Bedürftigkeit und seinen Wünschen zum Querschläger in seiner Umwelt wird. Politik ist seine Sache nicht - er verlangt, was das System ihm verweigert, vom Nächsten." Sabine Leucht porträtiert die Münchner Theaterschauspielerin Brigitte Hobmeier und verfällt ihrer genresprengenden Erotik. Alexander Cammann blättert in den Zeitschriften Wespennest und Lettre, und stellt bei letzterer eine "massive Auraverstärkung" fest.

Eine Besprechung widmet sich einer Ausstellung mit Werken des britischen Künstlers Cerith Wyn Evans im Münchner Lenbachhaus.

Und Tom.

SZ, 16.01.2007

Der Schriftsteller Guillermo Fadanelli beschreibt in der Reihe zu den Mega-Cities heute Mexiko City liebevoll als künstlerisch inspirierende Hölle. "Wer heute durchs Tepito-Viertel geht, befindet sich in einem selbstverwalteten Bezirk. Die Anführer, die Boxer, die mächtigen Kriminellen, die Schmuggler und Crack-Dealer, die unterirdischen Bodegas und die Geheimgänge, die Gewissheit der Alteingesessenen, dass sie auf die Polizei nicht rechnen brauchen - das alles sind Teile eines Zoos, den man zu den erfolgreichsten der Welt zählen darf. Alle zwei Jahre entert die Polizei, bis an die Zähne bewaffnet, das Viertel, nimmt Gefangene, stellt Drogen und Diebesgut sicher. Aber das ist eher ein Spektakel fürs Fernsehen. Am nächsten Tag zieht die Polizei ab und die frühere Geschäftigkeit wird wieder aufgenommen."

"Darüber, dass Wolf Biermann jede patriotische Auszeichnung verdient, kann überhaupt kein Zweifel herrschen", stellt Thomas Steinfeld klar und fordert Berlin auf, ihm endlich die Ehrenbürgerschaft zu geben: "So unsouverän wie das Abgeordnetenhaus im Umgang mit Wolf Biermann war zuletzt das Politbüro der SED."

Weiteres: Die moderne Intrige, konstatiert Lothar Müller mit Blick auf die Münchner Staatskanzlei und das alteuropäische Erbstück der Kabale, tarnt sich als Vollstrecker des Volkswillens. Die französische Regierung hat begonnen, sich von einigen ihrer Palais im siebten Arrondissement zu trennen, berichtet Johannes Willms. Harald Eggebrecht denkt in einer Zwischenzeit an die französische Austauschschülerin Ginette zurück. Henning Klüver fasst italienische Reaktionen auf das Urteil zum SS-Massaker von Marzabotto zusammen. Gerhard Matzig wirbt für die Teilnahme an der hauseigenen Online-Abstimmung für die neue Publikumsvariante des BDA-Preises Bayern. Joseph Hanimann registriert im Literaturteil das wieder aufgeflammte Interesse am Schriftsteller und Dramatiker Antonin Artaud in Frankreich.

Besprochen werden die als "großes Fest" inszenierte Aufführung von Gaetano Donizettis Oper "Regimentstochter" in Covent Garden, eine Ausstellung mit Fotografien von Boris Ignatowitsch im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, die Aufführung von Gustav Mahlers sechster Symphonie durch die Staatskapelle Berlin in München (dazu ein Interview mit dem Dirigenten Pierre Boulez über seine Vorliebe für Mahler), und Bücher, darunter Ernst Schuberts "faszinierende" Studie "Essen und Trinken im Mittelalter" sowie Ralph Konersmanns Überlegungen zur Kulturphilosophie "Kulturelle Tatsachen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).