Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.08.2006. In der Welt bittet Wolfgang Sofsky nunmehr um Schweigen in der Sache Grass. Die anderen halten sich schon dran. In der SZ kritisiert der Autor Yitzhak Laor die israelische Armee, aber auch die Friedensbewegung. Die NZZ ist nicht zufrieden mit der Vorauswahl für den Deutschen Buchpreis. Die taz fragt: Wozu Musikkritik im Zeitalter der allgemeinen Herunterladbarkeit?

Welt, 22.08.2006

"Scham" war keine gute Erklärung für das späte Bekenntnis von Günter Grass, findet Wolfgang Sofsky. "Lautstark demonstriert der Schamgebeugte, dass er das historische Lernsoll erfüllt hat. Er zeigt das Gegenteil dessen, was er zu zeigen behauptet. Er senkt nicht das Haupt, sondern erhebt es selbstgewiss und voller Mitteilungsdrang. Was unbedingt aus dem Autor heraus wollte, das war nicht das schamhaft Verschwiegene, sondern der erneute Nachweis, sich sittlich gebessert zu haben. Für seine Läuterung wollte sich der Autor noch einmal gewürdigt sehen. Angesichts solch historischer Torheit und Schamlosigkeit kann der Kritiker nur noch sein Haupt verhüllen und hinfort um Schweigen in dieser Angelegenheit bitten."

Der Chefdirigent des Teheraner Symphonieorchesters Nader Mashayekhi erzählt im Interview, wie kompliziert es ist, im Iran Musik zu spielen. "Die strengen Sittenwächter sind stets zugegen und betonen immer wieder, Frauen sollen nicht singen. Wenn man Mahlers 'Lied von der Erde' aufführen will, muss man sich deshalb überlegen, ob man es mit einem Bariton anstelle eines Mezzo macht. Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeit, Beethovens 9. Sinfonie zu spielen, obwohl darin sehr lange Soli von Frauen vorkommen. Solange mehrere Soli nebeneinander gespielt werden, geht das aber. Es ist ziemlich kompliziert, vieles hängt vom Wann, Wie und Wer ab."

Weitere Artikel: Holger Kreitling hat eine seltsame Weinprobe im Ex-SED-Weinkeller mit Stuart Pigott erlebt: Mit dabei war ein Mr. Taylor, der Dinge schrie wie "Does anybody know what this fucking 'structure' means?" Dankwart Guratzsch erzählt, wie ein Gelehrten-Verein den Sitz Kardinal Albrechts in Halle rekonstruieren will. Ein Bronze-Relief von Marx wurde vom Eingang der Universität Leipzig abgehängt, nun weiß man nicht, wohin damit, berichtet Hendrik Werner.

Besprochen werden ein Konzert von Madonna in Düsseldorf (Michael Pilz ist begeistert) und eine Werkschau des Bildhauers Stephan Balkenhol in der Kunsthalle Baden-Baden.

NZZ, 22.08.2006

Die Vorauswahl für den Deutschen Buchpreis kommt Andreas Breitenstein recht altbacken vor. Mit Ingo Schulzes "Neue Leben" gibt es sogar ein Buch von 2005. "Auf der Strecke blieben Herbstbücher, von denen man sich schwerlich vorstellen konnte, dass sie auf der Longlist fehlen: Christoph Ransmayrs Roman 'Der fliegende Berg' (auf den man seit einem Jahrzehnt wartet), Thomas Glavinics grandioses Spiel von letzten Menschen, 'Die Arbeit der Nacht', sodann Ernst-Wilhelm Händlers 'Die Frau des Schriftstellers' und Christina Viraghs 'Im April'... Wie glücklich muss es um die deutschsprachige Literatur bestellt sein, wenn man die vermissten vier Autoren unter 'Ferner liefen' abhaken kann." (Leseprobe zu "Im April" hier.)

Weiteres: Hassan Dawud, Beiruter Schriftsteller und Feuilletonchef der Zeitung Al-Mustaqbal, pflegt Erinnerungen an die Mutter und deren lebenslange Sehnsucht nach ihrer südlibanesischen Heimatstadt Nabatiya. Stefana Sabin schreibt zum Tod des israelischen Schriftstellers S. Yishar. Besprochen werden die 37. Rencontres de la Fotografie mit mehr als sechzig Ausstellungen zur Dokumentarfotografie in Arles, ein Porträtkonzert mit drei Werken von HK Gruber beim Lucerne Festival, und Bücher, darunter Wojciech Kuczoks Erzählungen "Im Kreis der Gespenster" und Philip Roths Roman "Jedermann" (mehr aus unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 22.08.2006

In der Reihe über den Stand der Kritik versucht sich Tobias Rapp über die Lage der Popmusikkritik im Zeitalter der "allgemeinen Herunterladbarkeit von Musik" klar zu werden: "Wo es aber den Mainstream nur noch in Rudimenten gibt, wo die Charts sich nur noch in der Mehrzahl als Abbild des Geschehens in einer Szene denken lassen, ist es schwieriger geworden, jene Art von Geschichten zu erzählen, die diese Art von allgemeiner Gültigkeit entfalten können: die 'Thema' sind, wie man unter Journalisten dann sagt, 'für die Seite 1 taugen', die 'den Leser' interessieren. Man ist vor allem Hörer, mit mehr Zeit als viele andere, aber das war es dann auch schon. Wie geht man mit einer solchen Situation um? Was tun mit all der Freiheit?"

Weitere Artikel: Christian Broecking begibt sich auf die Suche nach Jazzplatten, die die Tradition des politischen Engagements der Afroamerikaner wieder aufnehmen. Madeleine Bernstorff stellt eine dreibändige "Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1895-1945" vor. In tazzwei unterhält sich Susanne Lang mit jungen Filmregisseuren, die mit ihren Filmen für den First-Steps-Nachwuchspreis nominiert sind, und über ihr Bild von der Familie Auskunft geben.

Und Tom.

FR, 22.08.2006

Trotz aller Unklarheiten: Günter Grass' SS-Geständnis ist nichts weniger als ein "erinnerungspolitischer Geniestreich", staunt Ina Hartwig. "Man stelle sich vor, ein Martin Walser mit seinem pompösen 'Geschichtsgefühl' hätte uns jetzt ein so unangenehmes autobiografisches Detail zugemutet, angereichert mit Rötelzeichnungen und zwiebelfeuchten Augen! Walser, der eifersüchtig über seine persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen wacht, weil er sie bedroht sieht durch eine nationale Erinnerungskultur, die er des Kitsches bezichtigt. 'Moralkeule Auschwitz', so etwas wird man von Günter Grass niemals hören. Wie Grass - als Linker - exakt jene Themen besetzt, die traditionell von Konservativen okkupiert werden, das ist psychologisch gesehen geradezu genial. Mit Grass im Gepäck lässt sich das alte Reichsgebiet gemütlich bereisen, tauchen West- und Ostpreußen wieder auf aus dem Nebel des Kalten Kriegs, unter Grass' wachsamem Auge darf über Vertreibung sinniert werden, dürfen die Deutschen sogar Opfer sein."

Helmut Ploebst beklagt den Niedergang des Ballettwesens in Wien. Wieder abgedruckt wird Iring Fetschers 1970 im "Neuen Forum" erschienene Kritik von "Easy Rider" mit dem schönen Titel "Freilaufende Jugend wird erschossen". Besprochen wird ein Konzert von Madonna in Düsseldorf, und Bücher, darunter eines über die Dekodierung der Mona Lisa, Watsuji Tetsuros Reflektionen über die "Ethik als Wissenschaft vom Menschen" sowie Wolf Lepenies' Gedanken zu "Kultur und Politik" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 22.08.2006

Minutiös schildert Heinrich Wefing die scharf kritisierten Umstände, unter denen Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Berliner Straßenszene" an die Erbin des ehemaligen jüdischen Eigentümers zurückgegeben wurde. Peter Kropmanns porträtiert die Billardakademie an der Pariser Place de Clichy. In der Glosse geht es um Kaminofenwerbung in deutschen Tankstellenklos. Der Fall Grass findet heute nur in den Presseschauen statt, eine berichtet von Reaktionen in der Schweiz (große Aufregung von Beginn an), die andere aus den USA (Diskussion kommt langsam in Gang, auch dank Daniel Kehlmann in der New York Times). Vorgestellt, eingeordnet und abgedruckt wird ein erst jetzt aufgefundener Brief Thomas Manns aus dem Jahr 1941an den Emigranten Dr. Eduard Frank. Ingeborg Harms gratuliert dem Schneider Marc Bohan zum 80. Geburtstag. Den Nachruf auf den israelischen Schriftsteller S. Yishar hat Jakob Hessing geschrieben.

Auf der letzten Seite porträtiert Catrin Lorch Isa Genzken, die bei der Biennale in Venedig im nächsten Jahr Deutschland vertreten wird. Aus Rom berichtet Dirk Schümer, dass die zur Max-Planck-Gesellschaft gehörende Hertziana-Bibliothek in Rom gleich neben der Spanischen Treppe ein neues Bibliotheksgebäude baut. Gar nicht einverstanden zeigt sich Andreas Rossmann mit allerlei Sparplänen der Stadt Münster.

Besprochen werden ein Kölner Konzert der Band Hawthorne Heights, das Debüt des Duos Broken Keys eine konzertante Aufführung von Mozarts "Bertulia liberata" in Salzburg und Fernsehserien auf DVD. Eine Doppelrezension gibt es zu Joachim Köhlers Roman "Ich, Cosima" und Walter Hansens "Richard Wagner"-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 22.08.2006

 Der israelische Autor Yitzhak Laor kritisiert die Armee seines Landes, aber auch die traditionelle Friedensbewegung, die sie gewähren ließ, und er sieht den Libanonkrieg als eine Übung für einen Krieg gegen den Iran: "Die israelische Armee hat keine Feinde ihrer eigenen Größe. Sie setzt F16-Kampfflugzeuge gegen palästinensische Hütten ein. Sie wartet darauf, dass der 'wirkliche Krieg' endlich kommt, und sie hält in der Zwischenzeit für keinen Moment inne. Sie braucht ein größeres Budget, sie muss also den Geist des Entweder-Oder wachhalten, denn, so heißt es, 'wenn wir genau diese Schlacht nicht gewinnen, dann werden wir gar keine Chance mehr haben'. Und die Armee braucht auch eine Friedensbewegung, von der sie mit dem typischen Satz verteidigt wird: 'Normalerweise sind wir für Frieden, aber gerade jetzt müssen wir diesen besonderen Krieg unterstützen.'"

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff verteidigt die Rückgabe von Kirchners "Straßenszene" an die Erben einer jüdischen Familie. Ira Mazzoni besucht die ehemalige und neu eingeweihte "Kohlenwäsche" auf der Zeche Zollverein in Essen und ist nicht ganz überzeugt von der Lösung der Architekten Rem Koolhaas und Heinrich Böll (so heißt er). Christoph Kappes stellt das Projekt "Space Soon - Art and Human Spaceflight" in London vor, das mit Ausstellungen und Symposien Visionen der Raumfahrt beschwört - initiiert von der europäischen Raumfahrtagentur Esa. Christopher Schmidt sinniert über die neudeutsche Wortkombination "Rail Marshal"

Besprochen werden ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Pierre Boulez mit Mozart und Olga Neuwirths Trompetenkonzert, ein Düsseldorfer Madonna-Konzert, die amerikanische Filmkomödie "Zum Glück geküsst", eine Aufführung von Anton Bruckners Neunter Sinfonie mit rekonstruiertem Finale in St. Florian und Ereignisse des Berliner Festivals "Tanz im August".