Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2006. In der taz kritisiert Tjark Kunstreich die Ignoranz der Europäer gegenüber der "klerikalfaschistischen Bedrohung" durch den Islamismus. Und Ilja Trojanow kritisiert die "Ihr habt angefangen"-Rhetorik Israels. Im Tagesspiegel empfiehlt Rainer Moritz zur Beruhigung Adalbert Stifters nahezu handlungslosen Roman "Witiko". Die SZ möchte, dass sich Europa am WWW, dem weltweiten Wolkenkratzerboom beteiligt. Die FAZ zeigt sich zugleich beeindruckt und irritiert vom venezolanischen "Sistema Nacional de Orquestas".

TAZ, 09.08.2006

In harschem Ton kritisiert Tjark Kunstreich im Kulturteil, dass die europäische Politik den Kampf Israels gegen einen islamistischen Antisemitismus nicht wahrhaben wolle und ihm stattdessen mit ihren Forderungen nach Verhandlungen im Gegenteil Legitimität verschaffe. Kunstreich greift dabei das Wort vom "Euro-Antisemitismus" auf, wie Imre Kertesz kürzlich die Haltung der Europäer bezeichnete. Hart geht Kunstreich auch mit den Medien ins Gericht, in deren Berichterstattung israelische Juden "nur als Täter und Aggressoren", die Hisbollah dagegen "ebenso wenig" vorkomme wie das Flüchtlingselend auf israelischer Seite. Die These, räumt er ein, klinge "zunächst völlig irrsinnig: Weshalb sollte Europa ein Interesse am islamistischen Terror gegen Israel haben? Die Begründung ist ziemlich einfach, verweist aber auf nicht weniger Irrationales: Den Europäern dient der Terror gegen Israel vor allem zur Ablenkung von der klerikalfaschistischen Bedrohung, zu der sich der politische Islam in dieser Region formiert hat. Solange es keinen palästinensischen Staat gebe, könne es auch keinen Frieden geben, lautet das Credo der europäischen Politik. Nur weiß man mittlerweile, dass, aufgrund der geopolitischen Ein- und Zusammenbrüche der letzten Jahrzehnte, ein palästinensischer Staat ganz und gar keine Sicherheitsgarantie für Israel oder gar gleichbedeutend mit dem Ende des Konflikts wäre."

Auf den Tagesthemenseiten ist ein Interview mit dem Berliner Islamwissenschaftler Stefan Rosiny über die libanesische Hisbollah zu lesen. Seine These: Die Hisbollah rede zwar von der Vernichtung Israels, sei vor allem aber eine Widerstandsbewegung und ihr Wahlprogramm ein "nationalistisches Entwicklungsprojekt", in dem die Wörter "Islam" und "Muslim" nur am Rande auftauchten. Auf der Meinungsseite kritisiert Ilija Trojanow die "Du hast doch angefangen"-Rhetorik der Israelis: "Hunderte von Zivilisten sind getötet, und eine Million Libanesen vertrieben worden, und nur die gebetsmühlenartig wiederholte Anklage 'ihr habt angefangen' steht zwischen dem Staat Israel und der Schuld an einem Angriffskrieg oder an Massenmord."

Weiteres in der Kultur: Helmut Höge schließlich fürchtet den Aufzug "neobiblischer Zeiten", der sich anlässlich des 150. Jahrestages des Knochenfundes mit einer Feier im Neander-Museum namens "Garten Eden oder Evolution" ankündige, indem unter ökumenischer Beteiligung die Widerspruchsfreiheit von Geschichtswissenschaften und Glaube demonstriert werde. Besprochen werden die Ausstellung "Kultur der Angst" in der Weimarer ACC-Galerie und der Stiftung Federkiel sowie die aktuelle CD "Highway Companion" von Tom Petty, die den Musiker als "vitalen Klassiker mit genauem Sensorium" zeigt, wie Wiglaf Droste schreibt.

Schließlich Tom.

NZZ, 09.08.2006

Im Münchener Herzogpark ist das ehemalige Domizil Thomas Manns, auch "Poschi" genannt, wiederaufgebaut worden. Ein "Desaster", findet Ingo Flothen: "Die tote Poschi soll reanimiert werden. Zumindest die Fassade - so will es München - soll wiedererstehen. Innen hat der Architekt freie Hand, außen jedoch, bitte schön, eine saubere Rekonstruktion, das darf der vertriebene Sohn der Stadt schon erwarten. Und Thomas Mann selbst muss herhalten für das groteske Bric-a-brac-Ansinnen: 'Auf eigene Art einem Beispiel folgen, das ist Tradition', wird er zitiert."

Weiteres: Andreas Maurer fässt das Programm des 59. Internationalen Filmfestivals in Locarno zusammen. Martina Wohlthat berichtet von den Bregenzer Festspielen, wo er die Uraufführung der rekonstruierten Fassung von Claude Debussys Opernfragment "Der Untergang des Hauses Usher" sah, die mit zwei Balletten kombiniert wurde. Besprochen werden weiter Bücher, darunter eine Studie Michael Borgoltes über das Mittelalter, Erzählungen von Felisberto Hernandez und Elke Schmitters Roman "Veras Tochter" (hier eine Leseprobe). (Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.)

FR, 09.08.2006

Dieter Rulff räsoniert angesichts der seit 1. August geltenden neuen Duden-Schreibweise für Große Koalition über deren historische Wurzeln und die aktuelle Berechtigung dieser Adelung per Versalie. Sein Fazit nach Analyse des derzeitigen Regierungsbündnisses: "In dieser Unfähigkeit, die alle aus ihrer Größe erwachsenen Erwartungen konterkariert, liegt die aktuelle Gesamtbedeutung der großen Koalition. Man kann in dem Vorgehen des Rates für Rechtschreibung unschwer den Versuch erkennen, den historischen Begriff der großen Koalition angesichts seiner aktuellen Demontage sprachlich zu konservieren. Gerade weil sie an Mandaten abgenommen hat und ihre politische Wirkung so klein ist, lässt sich diese Koalition nur noch eine große nennen, indem eine 'Gesamtbedeutung' auf sie übertragen wird. Wäre es anders, könnte auch der Duden sie einfach weiterhin klein schreiben."

Weitere Artikel: Harry Nutt informiert über neuerliche Anläufe zum Projekt einer nationalen Akademie und den Versuch, die verschiedenen regionalen wissenschaftlichen Akademien unter ein einziges Dach zu bringen. Und in Times mager berichtet Elke Buhr über vier Klimt- und ein Kirchner-Gemälde, die im Herbst auf den Kunstmarkt kommen.

Besprochen werden das neue, "wiederum gelungene" Album "Damaged" von Lambchop, die Ausstellung "Der Bibliothekar als Detektiv" im Mainzer Gutenberg-Museum und Bücher, darunter eine Biografie der Psychoanalytikerin Sabina Spielrein und eine Gedichtsammlung des Frankfurter Dichters Horst Peisker (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 09.08.2006

Rainer Moritz vom Literaturhaus Hamburg möchte im Urlaub nur eins: Lesen. Zu diesem Zweck hat er sich mit Frau und Kind ins stille Nordjütland begeben, um frühere beglückende Erfahrungen zu wiederholen. "Adalbert Stifters 'Witiko' zum Beispiel, diesen sehr opulenten, sehr handlungsarmen Mittelalterroman, der an Langatmigkeit kaum zu überbieten ist und Stifters 'Nachsommer' als Actionthriller erscheinen lässt, las ich einst beim Campen in der Bretagne. Die Witterung war ungastlich; der Zeltplatzladen bot Rotweinverschnitt aus 'verschiedenen Ländern der Europäischen Gemeinschaft' an, ich saß auf meinem Stühlchen unterm tropfenden Zeltdach und hörte nicht eher auf, bis ich zu den wenigen Menschen gehörte, die 'Witiko' ganz gelesen haben."

SZ, 09.08.2006

In einem Interview spricht der Beiruter Architekt Bernard Khoury über die Politik von Zerstörung, Wiederaufbau, neuerlicher Zerstörung und die Aussichten für eine neue Nachkriegszeit: "Es gab eine erschreckende Diskrepanz zwischen dem Bild des Lebens, das aus dem 'Paris des Nahen Ostens' projiziert wurde, und dem Elend im Süden, wo dieser Krieg, genau wie der vorangegangene, seinen Anfang nahm... Schon vor dem jetzigen Krieg lagen Welten dazwischen. In den vergangenen Jahren wurden alle ökonomisch und politisch wichtigen Institutionen in Beirut konzentriert. Das war ein politischer Fehler. Der Bürgerkrieg hatte, wenn auch auf schmerzhafte Weise, zur Dezentralisierung des Landes beigetragen. Es wäre besser gewesen, in diese Richtung weiterzugehen. Stattdessen hat man durch die ungleiche Verteilung der Aufbaumittel die Radikalisierung der Bevölkerung im Süden noch befördert. Man hat die Leute der Hisbollah in die Arme getrieben. Der Wiederaufbau ist aber auch ein Beispiel dafür, dass es keinen ernsthaften Versuch gab, einen kohärenten Staat Libanon zu schaffen."

Thomas Steinfeld fasst die Reaktionen auf einen Essay des Schriftstellers Jostein Gaarder zusammen, der in der Osloer Tageszeitung Aftenposten dem Staat Israel "jede weitere Anerkennung" verweigert und ihn als "Geschichte" bezeichnet hatte (hier Gaarders Originalartikel und hier eine englische Übersetzung).

Im Aufmacher geht Gerhard Matzig der Frage nach, ob Europa dem weltweiten Hochhaus-Boom nacheifern solle. Seine Antwort ist: Ja. "Wenn Europa nicht zur Altstadtmuseumsinsel der asiatischen Welt werden und sich zugleich sein ungewöhnliches Stadtkulturerbe auf vitale Weise bewahren möchte, muss es sich mit der Frage des Höhengewinns beschäftigen: abseits zwar der ökologisch wie ökonomisch unsinnigen Superwolkenkratzer - aber dennoch mit Sinn für die Vertikale als Lebensraum."

Weitere Artikel: Alexander Menden schildert, warum die Bewohner der Londoner "Brick Lane" im East End eine Vor-Ort-Verfilmung des gleichnamigen Romans von Monica Ali, in dem sie das Leben in "Banglatown" beschrieben hatte, verhindern wollen. Susanne Utzt berichtet über die Probleme des englischen Adels, seine kostspieligen Besitztümer zu finanzieren. Ira Mazzoni fragt sich, wann das von Josef Hoffman gestaltete Palais Stoclet in Brüssel endlich für Besucher zugänglich wird. Sonja Zekri weiß von weiteren Kunstdiebstählen in russischen Museen. "sus" schließlich informiert über prominente solidarische "Schadensbegrenzungsversuche" für die antisemitischen Ausfälle von Mel Gibson, die ihm nach Dafürhalten von Variety-Chefredakteur Peter Part allerdings wenig nützen werden.

Besprochen werden eine Ausstellung der Bildhauerin Isa Genzken im Taxispalais Innsbruck, zwei Schauen über den DDR-Alltag in Berliner DDR-Museum und der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, eine Ausstellung früher Fotografien aus dem Nahen Osten im Mannheimer Reiss-Museum, die Salzburger Uraufführung von Albert Ostermeiers Monolog "Ersatzbank" im neuen Haus für Mozart, Dario Fos Inszenierung von Rossinis "L?Italiana in Algeri" in Pesaro und Bücher, darunter Frank Fischers Geschichte Danzigs und der Roman "Bis der Tag anbricht" von Aharon Appelfeld (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 09.08.2006

Andreas Obst begleitete das Bundesjugendorchester auf seiner Reise nach Venezuela, dessen von Hugo Chavez persönlich protegiertes "Sistema Nacional de Orquestas" weltweit Aufsehen erregt. Er hörte auch einige Konzerte dieser Orchester, in denen Jugendliche aus Slums resozialisiert werden, und zeigt sich zugleich tief beeindruckt und irritiert: "Das eigentliche Begrüßungskonzert der Jungen Philharmonie Venezuela unter Gustavo Dudamel mit dem Brocken der fünften Symphonie Mahlers wirkte anderntags eher wie eine Studie in Klanggestik - allerdings war die Demonstration seltsam blass. So fulminant die venezolanischen Orchester als Massenklangkörper auftrumpfen können, so unentschieden bleibt oft das musikalische Detail. Ihre Farbpalette verfügt nur über grelle Töne, insgesamt hat die Wucht des Ganzen auch etwas Potemkinsches."

Weitere Artikel: Auf der Aufmacherseite geht Regina Mönch der Sommerlochpanik um Scientology-Organisationen nach, die angeblich den Markt für Nachhilfeunterricht kapern - aber sie fand so gut wie keine Hinweise. Joachim Müller-Jung stellt einen Plan des Umweltchemikers Paul Crutzen vor, der die Atmosphäre mit reflektierenden Schwefelpartikeln beschießen will, um die Rückstrahlung der auf der Erde eintreffenden Sonnenenergie zu verstärken. Lorenz Jäger bringt in der Leitglosse Elias Canettis Satz "Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes" mit dem fehlenden Arm seiner Gattin Veza in Zusammenhang. Albert Schäffer annonciert die Aufnahme der Büsten Heinrich Heines, Edith Steins und Karl Friedrich Gauß' in die Walhalla. Andreas Platthaus unterhält sich mit Udo Jürgens, dem bei der Passkontrolle auf einem amerikanischen Flughafen Unbill widerfuhr. Joseph Croitoru verweist leider ohne Angabe von Quellen auf einen Aufruf junger israelischer Schriftsteller gegen den Krieg und auf empörte Reaktionen von Kollegen, die den Krieg befürworten. Freddy Langer schreibt zum Tod des Fotografen Toni Schneider. Heinrich Wefing besucht den renovierten Admiralspalast an der Berliner Friedrichstraße.

Auf der letzten Seite stellt Sebastian Domsch das "Literaturport" des Literarischen Colloquiums in Berlin vor. Und Felix Johannes Krömer porträtiert den Umweltaktivisten Christoph Nolte, der die Biosphärenreservate der Unesco per Rad erkundete.

Besprochen werden ein Konzert der Weakerthans in Heidelberg, der Film "Trennung mit Hindernissen" und die Ausstellung "Nichts" in der Frankfurter Schirn.

Welt, 09.08.2006

Eckhard Fuhr bricht eine Lanze für die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums und kritisiert deren Kritiker im Feuilleton - von Götz Aly (Zeit vom 2.2.06) über NZZ bis FAZ (Resümee). "Es ist das Motiv des 'Krempel'-Vorwurfs, der in fast diffamierender Weise gegen den DHM-Direktor Hans Ottomeyer gerichtet wird, mit dem aber auch ganz generell eine sinnliche, nicht wortlastige Präsentation von Geschichte in den Ruch des intellektuell Minderwertigen gebracht werden soll. Die Sprache des Geschichtsmuseums erscheint so als eine Art Banausen-Kauderwelsch, das sich dummerweise dem elaborierten Feuilleton-Code der Geschichtsdeutung widersetzt. Genüsslich bringt der Autor den DHM-Direktor, der im bayerischen Fernsehen als Gutachter an der Antiquitätensendung 'Kunst und Krempel' mitwirkt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit dem Begriff 'Krempel' in Verbindung und leitet ansonsten Zitate eines Althistorikers und eines mexikanischen Besuchers, mit denen er durch die Ausstellung spaziert, auf die Mühle seiner Miesepetrigkeit."

Weiteres: Hendrik Werner versteht die 20 Millionen Verkehrsschilder hierzulande als kommunales Bollwerk gegen die Werbeflächen. "mar" befürwortet eine Katzensteuer. Dankwart Guratzsch schreibt zum hundertsten Geburtstag des Architekten Cäsar Pinnau.

Besprochen wird die Uraufführung von Debussys 55-minütigem "splissigen, disharmonischen" Opernfragment "Untergang des Hauses Usher", mit dem das neue Bregenzer Festspielhaus eröffnet wurde und der ARD-Film "Letzte Ausfahrt Westberlin" über die Flucht von 13 Ostberlinern mit dem Ausflugsschiff "Friedrich Wolf" 1962.