Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2006. Dieser Bayreuther "Ring" wird als Thielemann-"Ring", und nicht als Dorst-"Ring" in die Geschichte eingehen, und damit als erster Dirigenten-"Ring" seit dem Furtwängler-"Ring", meint der Tagesspiegel. Auch Joachim Kaiser sieht Christian Thielemann in der SZ als Herrn und Herrscher dieses "Rings". In der Welt seufzt Musikkritiker Mathias Döpfner: Der Versuch, kein Regietheater zu machen, kann auch scheitern. Die FAZ betrachtet in Berlin eine unverstümmelte "Nachtwache", die allerdings nicht von Rembrandt stammt. Und in der taz erklärt der Historiker Peter Longerich, warum die Deutschen vom Holocaust mehr wussten, als sie später zugaben.

Tagesspiegel, 02.08.2006

Lang lebe Christian Thielemann, deklamiert Christine Lemke-Matwey nach überstandener "Götterdämmerung" in Bayreuth. "Dieser 'Ring' wird erstmals wieder den Namen eines Dirigenten tragen. Wie man vom Kupfer-, Kirchner- oder Flimm-'Ring' spricht (und nicht so sehr von den Herren Barenboim, Levine oder Sinopoli), so spricht man bis heute vom Furtwängler- und vom Keilberth- 'Ring'. Auf dieses Treppchen ist Christian Thielemann gesprungen, indem er Richard Wagner aus dem klangästhetischen Karzer des 20. Jahrhunderts befreit hat. Mit scharfem Besteck und heißem Herzen. Weber, Mendelssohn, Richard Strauss standen dabei Spalier. Wir werden unsere romantischen Hörgewohnheiten ändern. Wir werden überhaupt wieder mehr über die Musik sprechen. Es gibt Wüsteres, was der Wagnerwelt geschehen könnte."

TAZ, 02.08.2006

Der in London lehrende Historiker Historiker Peter Longerich glaubt, anhand bisher nicht ausgewerteter Quellen belegen zu können, dass das NS-Regime ab Ende 1941 immer wieder gezielte Hinweise auf die Vernichtung der Juden gab. Veröffentlicht hat er die Ergebnisse in seiner Studie "Davon haben wir nichts gewusst. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945". Im Interview mit Stefan Reinecke und Christian Semler erklärt er, dass das Nazi-Regime eine "ambivalente Propaganda" betrieben hätte: "Einerseits wurden Details des Judenmordes als Staatsgeheimnis behandelt, das zu verraten unter Strafe stand - andererseits hat das Regime selbst die Gerüchte über die 'Endlösung' eher bestätigt. Wir verfügen über recht viele Dokumente und Aussagen, die zeigen: Die Deutschen haben damals verstanden, dass die deportierten Juden ermordet werden. Das wussten viele, ohne allerdings Einzelheiten etwa über Vernichtungslager zu kennen."

Max Dax und Robert Defcon berichten über Palermo, das wegen der Mafia eine "irritierend ironiefreie Zone" bleibe. Tobias Rapp lobt den schönen Konzertfilm "Dave Chappelles Block Party". Zu lesen ist außerdem ein Nachruf auf die türkische Schriftstellerin und Vorreiterin des modernen türkischen Feminismus Duygu Asena. In tazzwei erklärt Bettina Gaus, warum Reportagen aus Krisenregionen nicht mehr das klassische Genre der Kriegsberichterstattung sind. Und auf der Meinungsseite setzt sich Mathias Greffrath kritisch mit der Fußballsoziologie Karl-Otto Hondrichs auseinander.

Hier Tom.

Welt, 02.08.2006

Mit der "Götterdämmerung" ist der neue "Ring" in Bayreuth komplett. Mathias Döpfner höchstselbst schreibt in einem ausführlichen Text über die Bedeutung Bayreuths, die großen "Ring"-Inszenierungen von Wieland Wagner, Patrice Chereau und Ruth Berghaus, um dann festzustellen, dass Tankred Dorsts Inszenierung den Dirigenten Christian Thielemann doch sehr gestört haben muss. "Dorsts angekündigter Versuch, sich überdrehten Regietheatermodernismen zu entziehen, misslingt. Am Ende ist seine stellenweise reizvoll archaische Arbeit einfach inkonsequent, dann doch nicht modern, sondern modernistisch. Als Mime, kaum ist das Schwert geschmiedet, in den Spiegel schaut, blickt ihm der Wanderer entgegen. Siegfried schlägt mit dem Schwert auf die Wanduhr (wem die Stunde schlägt...) und damit es auch alle gemerkt haben, klopft er noch auf das Skelett. In solchen Momenten fällt einem Robert Gernhardt ein: 'Mein Gott ist das beziehungsreich, ich glaub ich übergeb' mich gleich.'"

Weiteres: Thomas Hajduk stellt das Zisterzienser-Museum Walkenried vor und erzählt in einem weiteren Text die Geschichte des mittelalterlichen Klosterkonzerns. Bei Uwe Wittstock macht sich eine schreckliche Erkenntnis breit: "Unsere Kinder werden es einmal schlechter haben." Wilfried Rott lässt die Geschichte des Berliner Admiralspalastes Revue passieren, in dem Klaus Maria Brandauer und Campino demnächst ihre "Dreigroschenoper" zeigen werden.

Auf den Forumsseiten plädiert Klaus Naumann, früherer Generalinspekteur der Bundeswehr, dafür, statt einer EU-Truppe die Nato in den Nahen Osten zu schicken.

NZZ, 02.08.2006

Von Tankred Dorsts und Christian Thielemanns "Ring" in Bayreuth wird Marianne Zelger-Vogt vor allem die Erinnerung an Bilder mitnehmen, "die sich nicht zum Ganzen fügen", und die "Erkenntnis, dass auch in Bayreuth die großen dramatischen Wagner-Stimmen wohl der Vergangenheit angehören". In Ordnung geht für sie das Publikum: "Thielemann und dem an allen vier Abenden restlos präsenten, obwohl nicht unfehlbaren Orchester galt der Jubel des Publikums, auf das Regieteam dagegen prasselten Buhrufe nieder."

Zum besvorstehenden Nationalfilmfeiertag beim Filmfestival in Locarno untersucht Christoph Egger (leider nicht online), wo der Schweizer Film zur Zeit steht: "Im Dokumentarfilm, stehen zwei Filme geradezu paradigmatisch für dessen Themen und Stärken: Erich Langjahrs 'Das Erbe der Bergler' für die Ergründung urhelvetischer Befindlichkeiten und Peter Liechtis 'Hardcore Chamber Music' für einen ästhetisch radikalen, formal experimentellen Zugriff, dessen Publikumserfolg nicht über Eintrittszahlen zu definieren sein wird, sondern über die Lust, sich auf neue Sehweisen einzulassen."

Weiteres: Angela Schader stellt die Zeitschrift des Goethe-Instituts "Fikrun wa Fann" ("Art and Thought") vor, die auf Englisch, Arabisch und Farsi erscheint und sich in ihrer neuesten Ausgabe dem Thema Migration widmet. Kaum die Reise wert findet Barbara Villiger Heilig die diesjährige Theaterbiennale in Venedig, allein die Ausstellung zu Carlo Gozzi hat sie entschädigt. Besprochen werden Mats Wahls Jugendroman "Schwedisch für Idioten" und vier Bücher über den Spanischen Bürgerkrieg (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 02.08.2006

82 Werke umfasst die größte Rembrandt-Ausstellung des Jahres, wobei Niklas Maak in der Berliner Gemäldegalerie besonders die oft geschmähten Nachahmungen interessieren. "Dass Kopien oft mehr zeigen als die Originale, beweist Gerrit Lundens kleine Kopie der Nachtwache, die statt des nicht transportierbaren Originals in Berlin hängt. Denn Lundens Bild zeigt das Gemälde in seiner ursprünglichen Form, während Rembrandts Gemälde 1715 brachial an allen vier Seiten so beschnitten wurde, dass es zwischen die Türen eines kleinen Raums im Rathaus auf dem Dam passte - eine Verstümmelung, die das Dynamische des Bildes vollkommen zum Erliegen brachte. Sieht man die Kopie, begreift man erst, dass es Rembrandt bei diesem Gemälde nicht um das statische Porträt der Gruppe, sondern um eine aufgewühlt nach vorn drängende Bewegung ging."

Der differenziert dirigierende Christian Thielemann hat Julia Spinola in der "Götterdämmerung" immerhin "etliche Erfüllungsmomente" beschert, Regisseur Tankred Dorst aber fällt auch im bunten Finale seines Bayreuther "Rings" durch. "Wie ein vergebliches letztes Aufbäumen wirkt diese jähe Bilderflut: ein Strohfeuer schnell verpuffender Einfälle vor dem finalen Untergang in erbarmungslosen Buh-Gewittern."

Weitere Artikel: Der Berliner Romanist Jürgen Trabant klagt über die Vernachlässigung der Alten im Wissenschaftsbetrieb. Karen Krüger unterhält sich mit David Herrmann, dem bisher jüngsten Regisseur der Salzburger Festspiele, der am Donnerstag mit "Ascanio in Alba" debütiert. Regina Mönch fordert angesichts von Scientologys Bemühungen im Nachhilfesektor strengere Zulassungsregelungen für Lern-Institute.

Auf der Medienseite widmet sich Jörg Becker in der Reihe über das Internet in China der Poesie im chinesischen Netz und wird zum Beispiel hier fündig.

Für die letzte Seite probiert Felix Johannes Krömer die neue "Coke Zero", die angeblich Männer ansprechen soll. Alexandra Kemmerer erinnert an den amerikanischen Völkerrechtler Philip C. Jessup. Rainer Hermann schwärmt vom Kultursommer in Athen.

Besprochen werden Pedro Almodovars neuer Film "Volver", eine Aufführung der altenglischen Heldensaga "Beowulf" beim Lincoln Center Festival in New York, und Bücher, darunter Cathy Days Erzählungen "Winterquartier".

FR, 02.08.2006

Eva Schweitzer berichtet über die PR-Kampagne zu Oliver Stones neuem Film "World Trade Center", die von der konservativen Agentur Creative Response Concepts organisiert wurde, die entscheidend zum Scheitern des Präsidentschaftskandidaten John Kerry beigetragen hatte. Die PR-Spezialisten hätten für das Produktionsstudio Paramount - von einigen Opferfamilien und konservativen Meinungsmachern "verschreckt", die gegen einen vermeintlich anti-amerikanischen Film protestieren wollten - "ganze Arbeit" geleistet. "Sie luden Leiter christlicher Organisationen, Vorsitzende von Vereinen, die für Steuersenkungen eintreten, oder von Wirtschafts-Instituten zu Sondervorführungen ein. Viele von ihnen warfen sich danach für Stone in die Bresche. Brent Bozell, Gründer des 'Parents Television Council', der sich für einen 'sauberen' Bildschirm einsetzt, nannte den Film ein Meisterwerk - in einer E-Mail an 400.000 Sympathisanten... Die den Republikanern nahe stehende National Review schrieb sogar: 'Gott schütze Oliver Stone'."

Weitere Artikel: In Times mager berichtet Harry Nutt über Finanzierungsprobleme bei den Neubauten auf der Berliner Museumsinsel. Besprochen werden die Inszenierung der "Götterdämmerung" in Bayreuth, in der sich "Symbolismus-Polizist Wolfgang Wagner als tolerant erwiesen" habe, "was dem Publikum einen Hahn und einen Tod bescherte, die jeweils einmal durch die Szene tanzten", eine Ausstellung über Robert Walser im Frankfurter Literaturhaus, eine Mozart-Sommernacht in Kloster Eberbach und Bücher, darunter der neue Roman von Olga Tokarczuk "Letzte Geschichten" (hier eine Leseprobe) und der Roman "Revolutionen" von J.M.G. Le Clezio (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 02.08.2006

Joachim Kaiser sieht in der Neuinszenierung von Wagners "Götterdämmerung" in Bayreuth Regisseur Tankred Dorst gescheitert und Dirigent Christian Thielemann triumphierend ("Herr und Herrscher dieses 'Rings'"). Im Publikum gab's Applaus für die Musik und Buhs für den Regisseur: "Dieser Bayreuther 'Ring' wurde verworfen - nicht weil ein allzu kühnes Konzept irritierte, sondern weil Dorsts Personenregie die Künstler überhaupt nicht formte, steigerte, zu passioniert und bestimmt agierenden Gestalten machte. Auch schloss Dorsts Konzept manche Beliebigkeit ein: Es bestand gleichsam aus essayistischen, diskutablen oder auch abwegigen Rand-Bemerkungen, Zutaten. Aber das zentrale Szenische blieb ohne Gewalt und Passion. Dafür kam einzig die Musik auf.

Die Schallplattenseite ist heute komplett dem Beatles-Album "Revolver" gewidmet, das vor 40 Jahren im August 1966 erschienen ist. In der Rubrik "Das dreckige Dutzend" versucht Oliver Fuchs, das ganze seither angehäufte "Expertenwissen" einmal zu vergessen, und tut so, als höre er die Scheibe zum ersten Mal. "'Taxman', das erste Stück: Klingt nach mittelspäten Oasis, blasiert, abgebrüht, fast zynisch. Kein Zweifel, diese Newcomer beherrschen ihr Handwerk..." Christian Seidl bescheinigt der LP, die Popwelt verändert zu haben. Johannes Waechter beschreibt, wie sich der junge George Harrison darauf als "Songwriter von Weltgeltung" etabliert habe. Zu lesen ist außerdem ein Interview mit dem Bassisten und Grafiker Klaus Voormann, der das legendäre Cover gestaltete.

Außerdem: Einen "sensationellen Kunstkrimi" aus Sankt Petersburg erzählt Sonja Zekri: Dort sind, wie eine Inventur im letzten Herbst ans Licht brachte, aus der Eremitage 221 Juwelier- und Email-Arbeiten "über Jahre beiseite geschafft worden". Oliver Herwig berichtet über den Wettbewerbsgewinner um die Münchner Werkbundsiedlung Wiesenfeld, Kazunari Sakamoto, dessen Entwurf - ein "wogendes Feld von Punkthäusern" - allerdings "nicht zu verwirklichen" sei, "zumindest nicht mit dem deutschen Baurecht". Bernd Graff informiert über eine "Grauzone zwischen Kunst und Kommerz": ausführliche Publikumsbefragungen sollen künftig Broadway-Erfolge garantieren und über Inszenierungen bestimmen. Egbert Tholl bedauert den Abschied von Sir Peter Jonas, Zubin Mehta und des "größten aller lebenden Bassisten" Kurt Moll von der Bayerischen Staatsoper.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Gottfried Benn im Marbacher Literaturmuseum der Moderne, Pedro Almodovars neuer Film "Volver - Zurückkehren", ergänzt um ein Interview mit Hauptdarstellerin Penelope Cruz, und Bücher, darunter Ulrich Woelks Roman "Einsamkeit des Astronomen" und ein als Buch erschiener Weblog aus dem Irak-Krieg (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).