Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2006. Die taz zitiert Ludwig Harig: "O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder! / Der fußerzeugten Kunst begleicht und opfert jeder / Tribut und Obulus im hirnverzückten Schrei." In der SZ erklärt Zafer Senocak, warum das hier mit der Integration nicht klappt: Die Deutschen erwarten von dem anderen die Aufgabe seiner Herkunftsmerkmale. Die FAZ schildert einen Fall, bei dem es dennoch klappte. Die FR freut sich über eine Godard-Ausstellung in Paris.

FR, 12.06.2006

Erst sollte es eine Filmcollage werden, dann eine große Ausstellung, nun ist es ein "virtuoser Ritt durch die Kulturgeschichte" geworden und noch einiges mehr, schwärmt Martina Meister von Jean-Luc Godards Schau "Voyage(s) en utopie" im Centre Pompidou. "Der Betrachter steht nun vor einem teuren Scherbenhaufen und darf sich fühlen wie Walter Benjamins Engel der Geschichte, der die Trümmer wieder zusammenfügen will: In den neun fragilen Pappkästen, die Godard gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Anne-Marie Mieville gebastelt haben soll und welche die Modelle für die ursprüngliche Ausstellung hätten sein sollen, findet der Betrachter Versatzstücke der abendländischen Kulturgeschichte. Ein wenig Freud hier, ein wenig Readymade dort. So lustwandelt oder irrlichtert der Ausstellungsbesucher durch die drei Ausstellungsräume, getauft 'Avant-Hier' (Vorgestern), 'Hier' (Gestern), und 'Aujourd'hui' (Heute). Ein Morgen gibt es nicht, No Future. Unermüdlich fährt eine Modelleisenbahn von einem Saal in den anderen."

Weiteres: Harry Nutt schreibt zum Tod von Drafi Deutscher. Christian Thomas sinniert in Times mager über die Originalität von Plagiatsvorwürfen. Mirja Rosenau heißt die ausgelagerte und zum Kunstwerk erklärte 8000-bändige Bibliothek von Martha Rosler in Frankfurt willkommen. Besprochen werden Aufführungen von Schostakowitsch-Opern durch Johannes Schaaf in Essen und Martin Kusej in Amsterdam.

Welt, 12.06.2006

Peter Dittmar feiert die Düsseldorfer Retrospektive zu Martin Kippenberger, der neun Jahre nach seinem Tod erst so richtig in Mode kommt. "Die malerischen Qualitäten halten sich in Grenzen. Die zeichnerischen auch. Und die Bilderfindungen sind bescheiden. Das gehörte nicht zu Kippenbergers Ehrgeiz. Schließlich hat Kippenberger, unkonventionell und darum die konventionalisierte Subkultur verachtend, die Beuyssche Sentenz 'Jeder Mensch ist ein Künstler' mit 'Jeder Künstler ist ein Mensch' wieder auf die Füße gestellt. 'Museum ist Altertumsquatsch, obwohl jeder jetzt schon weiß, dass ich derjenige bin, der die 80er Jahre erfasst hat...'"

Weiteres: Sascha Westphal stellt fest, dass das amerikanische Fernsehen auch im Hinblick auf die Darstellung von Terror dem Kino derzeit eine Menge voraus hat. Matthias Heine verabschiedet den unvergleichlichen Drafi Deutscher.

Besprochen werden Martin Kusejs und Mariss Jansons Schostakowitsch-Inszenierung "Lady Macbeth von Mzensk" ("wild und wahnwitzig, ruppig und romantisch"), Roger Waters' Neuauflage von Pink Floyds "The Dark Side of the Moon" in Berlin und Peter Schamonis Künstlerbiografien in neuer Edition.

NZZ, 12.06.2006

Martin Walder stellt den neuen Film von Ken Loach vor, "The Wind That Shakes the Barley", der in Cannes die Goldene Palme gewann. Und Loach spricht im Interview über den Terrorismus im Irak und in Irland: "In meinem Film beschäftigen mich die Keime dieses Konflikts. Die Medien lassen es so erscheinen, als läge die Gewalt bei den IRA-Terroristen. Dabei ist es andersherum: Sie liegt bei den Besatzern. Man kann also durchaus die Position einnehmen, dass Gewalt als Reaktion gerechtfertigt ist. Die Briten haben die Nationalisten bewaffnet - illegal. Das war gegen den Volkswillen."

Weitere Artikel: Roman Bucheli berichtet über eine Thomas-Mann-Tagung in Zürich. NZZ-Literaturkritikerin Beatrice von Matt, die heute siebzig Jahre alt wird, blickt im Interview auf ihre Arbeit zurück. Franz Haas gratuliert dem italienischen Lyriker Sandro Penna zum Hundertsten.

Besprochen werden die Ausstellung "La Force de l'Art" im Pariser Grand Palais, Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" in Amsterdam und ein Auftritt des wiedervereinigten Jazz-Quartetts OM in Luzern.

FAZ, 12.06.2006

Vincenzo Velella schildert im Aufmacher seine Herkunft aus einer süditalienischen Familie, deren erste Generation sich in Deutschland nur halb integrierte, während er es zu Studium der Physik und Theologie und zur Einbürgerung brachte: "Es genügten das polizeiliche Führungszeugnis, ein Antrag und ein handschriftlicher Aufsatz über die Frage, weshalb ich deutscher Staatsbürger werden wollte. Ich begründete dies mit dem geheimen Deutschland Stefan Georges und mit Gestalten wie Rudolf Borchardt und Ernst Jünger. Am Tag, als mir die Einbürgerungsurkunde überreicht wurde, trug der Beamte im Kreishaus eine Donald-Duck-Krawatte."

Weitere Artikel: "str" glossiert das 4:2 der Deutschen gegen Costa Rica. Christian Welzbacher freut sich über die Restauration des "Molkenhauses" Karl Friedrich Schinkels in Bärwinkel. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod des Schlagersängers und Songwriters Drafi Deutscher. Felicitas von Lovenberg stellt den Roman "Hau" von Bernd Schroeder vor, der in den nächsten Wochen als Feuilletonroman der FAZ vorabgedruckt wird. "Rh" berichtet über die Schändung einer Jesusfigur auf dem Berliner Hedwigsfriedhof durch roten Lack. Alexandra Kemmerer verfolgt in Berlin eine Diskussion über Islam und Säkularisierung. Paul Ingendaay unternimmt einen Gang über die Madrider Buchmesse. Martin Lhotzky lauschte in Wien einer Tagung über Simon Wiesenthal. Ingeborg Harms war dabei, als sich in der Villa Harteneck in Grunewald drei italienische Designer für exquisite Interieurs vorstellten. Der Juraprofessor Christoph Möllers kommentiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft bei einem Migranten, der falsche Angaben zur Person gemacht hatte. Christiane Hoffmann interviewt die junge deutsch-iranische Künstlerin Parastou Foruhar, die von einer Reise in den Iran heimgekehrt ist und über eine immer stärkere antiwestliche Haltung auch bei Regimegegnern berichtet.

Auf der Medienseite porträtiert Jürg Altwegg die französische Sportreporterin Estelle Denis, die das Glück hat, mit dem französischen Nationaltrainer Raymond Domenech liiert zu sein, und darum die besten Interviews bekommt. Bernd Noack stellt die deutschsprachige Prager Zeitung vor. Und Nina Rehfeld berichtet aus den USA, dass in Zeiten von Festplattenrekordern Product Placement die Devise von Werbetreibenden ist. Auf der letzten Seite porträtiert Gustav Falke den letzten Meister der Hofmusik des Emirs von Buchara, Ari Babakhanov, der im deutschen Exils lebt. Gina Thomas schreibt über Klagen der Summerhill-Schule angesichts verzogener Gören, denen man nicht mal mehr eine antiautoritäre Erziehung schmackhaft machen kann. Und Sven Beckstette porträtiert die Musikerin Jhelisa, die in ihrer engagierten Musik den amerikanischen Präsidenten für den Orkan Katrina verantwortlich macht.

Besprochen werden Grillparzers "Medea" in Karin Henkels Inszenierung in Hamburg, Ben Hopkins' Film "37 Uses for a Dead Sheep", Jürgen Goschs Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs "Frau von früher" in Köln, Zeichnungen von Al Taylor in der Pinakothek der Moderne, eine Ausstellung über die Orgelbauerfamilie Silbermann in Villingen-Schwenningen und einige Sachbücher.

TAZ, 12.06.2006

Nach einem Besuch im saarländischen Sulzbach würdigt Oliver Ruf einen der größten Kindsköpfe der deutschen Literatur: Ludwig Harig, der das Wunder von Bern so schön bedichten konnte: "O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder! / Der fußerzeugten Kunst begleicht und opfert jeder / Tribut und Obulus im hirnverzückten Schrei."

Weiteres: Hortense Pisano stellt Max Holleins Neukonzeption für das Frankfurter Städel Museum vor. Claudia Lenssen empfiehlt Ben Hopkins Essayfilm "37 Uses for a Dead Sheep" über die Pamir-Kirgisen, die das Schicksal (und die Machtverschiebungen) von Zentralasien nach China, Afghanistan und schließlich in die Türkei verschlagen hat.

In der WM-taz sieht Klaus Theweleit nach dem 4:2 gegen Costa Rica die deutsche Mannschaft gut aufgestellt: "Sieben Stärken, ein, zwei Leerstellen und drei Schwachstellen." Und im Interview mit Rafal Wos schimpft Polens legendärer Torwart Jan Tomaszewski über den Fußballverband seines Landes: "Vor ein paar Jahren habe ich mich entschlossen, diese Verbandsmafia zu bekämpfen."

Schließlich Tom.

SZ, 12.06.2006

Die Deutschen und ihr ungelöstes Problem mit Fremden verhindern die Integration der Türken ebenso, wie es im 19. Jahrhundert die Integration der Juden verhindert hat, meint der Publizist Zafer Senocak. "Es geht um die schlichte Feststellung, dass die atmosphärischen Bedingungen für eine Aufnahme in die deutsche Gesellschaft, für Anerkennung und Zugehörigkeit, genau dieselben sind wie vor zwei Jahrhunderten. Die Deutschen erwarten von dem anderen die Aufgabe seiner Herkunftsmerkmale, das, was ihn in ihren Augen als Fremden kennzeichnet. Zu geschehen hat dies unter den Bedingungen einer einseitigen Orientierung, weg von der Herkunft, hin zur deutschen Identität, wobei die vergangenen zwei Jahrhunderte nicht unbedingt zur Klärung der Frage beigetragen haben, was denn nun deutsch ist."

Jürgen Berger berichtet vom internationalen Theaterfestival im venezolanischen Caracas, bei dem Deutschland Gastland war und die ganze Stadt zur Bühne wurde. "Dann steht man auf der Terrasse eines Einkaufszentrums und sieht auf ein Hochhaus gegenüber, wo sich in einigen Fenstern Paare heftig streiten, bevor sie genau so heftig zum Sex übergehen und der Beobachter auf der anderen Seite ein Fernglas gereicht bekommt. Man fühlt sich an Alexander Kluges Film 'Die Patriotin' erinnert, in dem Hannelore Hoger einen mit einem Fernglas bewaffneten Staatsschützer am Hosenbein zupft und meint, auch Spanner müssten mal entspannen."

Weiteres: In der Kunst ist Authentizität gefragt, die aber durchaus Ergebnis einer gut gemachten Fälschung sein darf, konstatiert Jean-Christian Rabe in einem Beitrag zur wachsenden Bedeutung des Fakes in Kunst und Kultur. Nelcirlon Souza de Oliveiras nachgebaute Favela "Morrinho" im Münchner Haus der Kunst inspiriert Angela Köckritz zu sozioökonomischen Betrachtungen des Elendsviertels. Rom feiert 500 Jahre Vatikanische Museen und Peterskirche, meldet Henning Klüver. In Paris sorgt Dominique Ambiel und Antoine Raults Politsatire "Tsunami sur l'Elysee" wegen der Spekulationen über ein kompromittierendes Dossier für Aufruhr, kolportiert Johannes Willms. Willi Winkler schreibt zum Tod des Sängers Drafi Deutscher.

Besprochen werden Jürgen Goschs "harte" Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs "Die Frau von früher" am Schauspiel Köln, Anne Teresa De Keersmaekers Tanzstück "D'un soir un jour" mit einer Tenniseinlage aus Antoninis "Blow Up" in Paris, der Auftakt der Welttournee von Robbie Williams in Dublin, Baldassare Galuppis Opera buffa "Le Nozze di Dorina" bei den Musikfestspielen Potsdam, Mamoru Oshiis "schön irrsinnniger" Mangafilm "Ghost in the Shell 2 - Innocence" auf DVD, Christian Ditters Romanze "Französisch für Anfänger", Videoninstallationen von Douglas Gordon im New Yorker MoMA, und Bücher, darunter Nicolaus Sombarts Bericht "Rumänische Reise", Orhan Pamuks Essays "Der Blick aus meinem Fenster" sowie Uljana Wolfs Gedichtband "kochanie ich habe brot gekauft" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).