Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2006. Die FAZ stellt fest, dass die besten Schweizer Bücher derzeit von eingewanderten Autorinnen kommen. In der SZ warnt Timothy Garton Ash vor Chinas leninistischen Kapitalismus. Die NZZ schildert, wie Adam Michnik ins Kreuzfeuer der polnischen Kritik geriet, und surft über arabische Websites. Die Welt erliegt der Sinnlichkeit der chinesischen Stummfilm-Diva Ruan Lingyu.

NZZ, 13.01.2006

Reinhold Vetter schildert, wie der frühere Dissident und jetzige Herausgeber der Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, in Polen ins Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung geraten ist. Besonders seine Annäherung an die Postkommunisten hatte heftige Kritik ausgelöst: "Wie durch ein Brennglas spiegelt die öffentliche Debatte über Michnik die gegenwärtigen politischen, sozialen und kulturellen Widersprüche des Landes. In dieser Diskussion geht es nicht nur um die Bewertung der Transformation seit 1989, sondern auch um die demokratische Qualität des polnischen Parlamentarismus, die sozialen Defizite der polnischen Marktwirtschaft und die geballte publizistische Macht großer Tageszeitungen wie der Gazeta Wyborcza."

Weiteres: Fakhri Saleh blickt auf die vergeblichen Versuche der USA, mithilfe eigener Radio- und Fernsehprogramme ihr Image in der arabischen Welt aufzupolieren. Paul Jandl gibt einen Ausblick auf das Sigmund-Freud-Jahr, das sich allerdings verglichen mit dem Mozart-Pomp recht bescheiden ausnehmen wird. Klaus Bartels liefert Erhellendes zum Stichwort "Hybrid". Besprochen wird die Ausstellung "Gauguin - van Gogh" in Brescia.

"Die Zukunft des Internets heisst Web 2.0.", verkündet S.B. auf der Medienseite. Was das ist, hat er sich von Tim O'Reilly erläutern lassen, dem legendären Autor des "The Whole Internet User's Guide & Catalog": "Das Web ist nicht bloßer Informationsspeicher, sondern Plattform, ein globales Datenverarbeitungssystem; Daten und Algorithmen können beliebig erweitert und rekombiniert werden; sie werden genutzt wie eine Dienstleistung; die Benutzung ist unabhängig von der Art des Terminals, ob Windows-PC oder Handy spielt keine Rolle. Den Unterschied zwischen Web 1.0 und 2.0 erläutert O'Reilly auch mit Hilfe von Beispielen, die Grenze zwischen 1.0 und 2.0 zieht er zwischen Netscape und Google, zwischen Encyclopedia Britannica Online und Wikipedia, zwischen Publizieren und Partizipieren."

Florian Harms hat beim Surfen über arabische Websites bemerkt, dass professionell aufgemachte Portale, die "zu einer islamischen Lebensführung ermuntern", dominieren: "Kurz hinter Microsoft Arabia, dem Fernsehsender al-Dschasira und der ägyptischen Zeitung al- Ahram folgen in der Rangliste Websites wie Islam Online, Islam Web und Raddadi, die eine Mischung aus politischen Nachrichten, religiöser Lebensberatung und Diskussionsforen für Muslime anbieten und sich für eine friedliche Durchsetzung islamischer Prinzipien im privaten und öffentlichen Leben einsetzen. Etwas weiter hinten finden sich die Websites des unter Jugendlichen in der ganzen arabischen Welt beliebten ägyptischen Fernsehpredigers Amr Chalid sowie die islamischen Frauenportale Lakii und Laha. Generell fällt die starke Präsenz von Websites auf, die den Salafismus oder den Wahhabismus, die saudisch-konservative Variante des Islams, propagieren."

FAZ, 13.01.2006

Der Deutsche Buchpreis, für den kein Titel aus der Schweiz unter die ersten zwanzig kam, hat es endgültig deutlich gemacht, stellt Pia Reinacher fest: Die Schweizer Literatur ist in einer schweren Krise: "Dieses Land hat ein literarisches Nachwuchsproblem. Die erfolgreichen Schriftsteller der älteren Generation sind inzwischen um die Siebzig. Die sogenannten 'Nachwuchstalente' haben bereits die Mitte des Lebens erreicht. Die junge literarische Basis aber ist weggebrochen. Ganz im Gegensatz zu Österreich und Deutschland, die beide über eine vitale junge Szene verfügen, fehlt es hierzulande an frechen, risikoreichen, phantasievollen Experimenten und poetischen Visionen. Es mangelt vor allem auch am Stoff, der die jungen Schriftsteller existenziell umtreiben würde. Es ist kein Zufall, dass Emigranten wie Agota Kristof oder Aglaja Veteranyi die bedrängendsten 'Schweizer Bücher' vorgelegt haben."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube glossiert den Coca-Cola-Boykott vieler US-Universitäten. Sein Lieblingsmärchen "Der kleine Klaus und der große Klaus" von Hans Christian Andersen stellt Dirk Schümer vor. Lisa Zeitz informiert über ein "sensationelles Geschenk" - nämlich die Kunstschätze, die Fred Ebbs, der Liedtexter des Musicals "Cabaret", der Pierpont Morgan Library vermachte. Vom Beginn eines Prozesses um eine Beleidigungsklage gegen den Publizisten Henryk M. Broder berichtet Nils Minkmar. Kho. erzählt von einem Amokläufer in der zentralen Synagoge Moskaus. Joseph Croitoru informiert über neuen Streit um das "Museum für Toleranz", das das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem bauen lässt. Jürgen Kesting gratuliert dem Bariton Renato Bruson zum Siebzigsten.

Außerdem: Andreas Rosenfelder macht sich Gedanken darüber, wie Sprachprüfungen für Zuwanderer aussehen sollten. Gina Thomas porträtiert Axel Rüger, den neuen Leiter des Van-Gogh-Museums. Hans-Christoph Buch vermeldet aus Haiti, dass sich der Oberbefehlshaber der UN-Truppen, die das Land befrieden sollen, erschossen hat. Fürs erste nur dürr gemeldet wird, dass der Geschäftsführer des Suhrkamp-Verlags Georg Rieppel mit seinem Konzept der stärkeren Konzentration auf Marktgängiges gescheitert ist und den Verlag deshalb verlässt. Auf der Medienseite konstatiert Dietmar Dath, dass die amerikanische Fernsehserie "24" in ihrer vierten Staffel die USA als Staat im Übergang zum Faschismus porträtiert.

Besprochen werden Jim Sheridans Film "Get Rich or Die Tryin'" über den und mit dem Rapper 50 Cent und Meg Stuarts Choreografie "Replacement", mit der sie ihre Residenz an der Berliner Volksbühne eröffnet.

Rezensionen gibt es zu Henry Sienkiewiczs spätem Roman "Wirren" und Peter Rinderles Studie "Der Zweifel des Anarchisten", die sich mit der Frage nach der Rechtfertigung staatlicher Gewalt befasst, und zu Hermann Scheers Plädoyer für Nachhaltigkeit mit dem Titel "Energieautonomie" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 13.01.2006

Gerhard Midding schätzt die Sinnlichkeit asiatischer Schauspielerinnen, ein Erbe der Stummfilmlegende Ruan Lingyu. "Die Ergriffenheit ihres Spiels verführte Zuschauer und Kritiker gleichermaßen, darin ein Seelenecho zu entdecken. Kunst und Leben verwoben sich in ihrer Legende auf tragische Weise. Im Alter von 16 Jahren wurde sie entdeckt. 29 Filme drehte sie in den folgenden neun Jahren, bis sie das Opfer einer Verleumdungskampagne wurde: Eine Dreiecksbeziehung mit einem reichen Teehändler und einem Spieler wurde ihr unterstellt. Es war eine Revanche der Boulevardpresse, die in ihrem letzten Film scharf attackiert worden war. Ihr Selbstmord in den Morgenstunden des 8. März 1935, des Internationalen Tages der Frau, war eine letzte Botschaft von Protest und Aufbegehren. Fünf Kilometer lang war der Trauerzug ihrer Bewunderer."

Weiteres: Rainer Haubrich sieht den Förderverein Berliner Schloss e.V. und seinen Vorsitzenden Wilhelm von Boddien (ein Kurzinterview hier) als Opfer einer Kampagne der Gegner des Abrisses des Palastes der Republik. "Der gewichtigste Vorwurf, der die Arbeit des Schlossvereins im Kern trifft, ist der des Missbrauchs von Spendengeldern. Doch echte Belege dafür werden nicht erbracht."

Weiteres: Die Sunday Times hat das leicht veränderte Anfangskapitel eines Romans von V.S. Naipaul an 20 Verlage verschickt und nur Absagen kassiert, weswegen sich Iris Alanyali fragt, ob auch Qualität veraltet. Die Regisseurin Katharina Thalbach, die an der von der Schließung bedrohten Komödie am Berliner Kurfürstendamm Oscar Wildes "Ernst - und seine tiefere Bedeutung" inszeniert, spricht in einem kunterbunten Interview alles und Nichts, von Möpsen auf der Bühne bis zur Frau im Kanzleramt.

Auf der Medienseite vermutet "DW", dass Springer Sat 1 wird kaufen dürfen, nicht aber ProSieben.

Besprochen werden die Ausstellung "Rock! Jugend und Musik in Deutschland" im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig (Die Deutschen stehen dem Rock "mit Liebe und mit Argwohn" gegenüber, erkennt Michael Pilz.) und Meg Stuarts "totes" Tanzstück "Replacement" an der Volksbühne Berlin.

TAZ, 13.01.2006

Freitags gibt's Musik: Max Dax unterhält sich mit David Sylvian, dem einstigen Kopf der britischen Synthiepopper Japan, über sein Comeback mit der Band Nine Horses. Thomas Winkler senkt den Daumen über Ryan Adams' neues Album "29", mit dem Adams seine Halbwertzeit definitiv überschritten habe. Katrin Bettina Müller hat sich Meg Stuarts choreografisches Schauermärchen "Replacement" an der Berlin Volksbühne angesehen.

In der tazzwei reibt sich Stefan Kuzmany vor Freude über die inzwischen vierte Staffel der Serie "24" die Hände. Hans Nieswandt schreibt einen Nachruf auf den DJ Markus Löffel alias Mark Spoon.

Schließlich noch der Hinweis, dass der taz heute die neue Ausgabe von Le Monde diplomatique beiliegt.

Und Tom.

FR, 13.01.2006

Ziemlich allein steht Tom Mustroph heute mit seiner Wertschätzung für Meg Stuarts "Replacement" da, ihrem Einstand als Choreografin an der Berliner Volksbühne. "Das Stück, für das sich Stuart ein Jahr Zeit ließ, für das sie unentwegt recherchierte, ihr Ensemble reorganisierte und ihre - meist neuen - Tänzer auf die Jagd nach Erlebnissen in der Stadt schickte, beginnt wie ein Horrorfilm. Die Kamera, gekoppelt an einen Scheinwerfer, misst einen im Dunklen liegenden Raum aus. Sie folgt dem Lichtkegel einer Lampe und trifft auf Details von menschlichen Körpern: Auf Füße, die trippeln, Hände, die zittern, die herausgerissen sind aus der Finsternis und sich nicht zu vollständigen Gestalten zusammensetzen lassen. Nach und nach wird das Ensemble eingefangen; die Atmosphäre ist die eines einsamen Hauses im Wald, um das das Grauen schleicht."

Auch gegenüber Christine Pries darf sich Volkmar Sigusch, der scheidende Leiter des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft, gegen eine Schließung seines Hauses aussprechen. "Reflexion und Kritik sind jedenfalls in der Medizin, die ich kenne, allein durch den jeweiligen Stellenabbau, zum Beispiel in der Geschichte der Medizin, kaum noch möglich und offenbar von denen, die gegenwärtig die Macht haben, unerwünscht." Harry Nutt wundert sich in Times mager über den 21-jährigen Alex Tew, der mit seiner virtuellen Litfasssäule eine Million Dollar verdient hat - ohne einen nachvollziehbaren Gegenwert zu bieten. Stefan Schickhaus schreibt zum Tod der Sopranistin Birgit Nilsson.

Auf der Medienseite kolportiert Thomas Magenheim-Hörmann, dass sich gegen Springers Pläne für einen Verkauf von ProSieben Widerstand regt.

SZ, 13.01.2006

Beunruhigt von einer Prognose des britischen Economist, nach der China im Jahr 2026 die größte Wirtschaftsmacht der Erde sein wird, warnt der Historiker Timothy Garton Ash vor einem Kotau gegenüber der neuen Wirtschaftsmacht: "Man kann solche vorauseilende Anpassung allenthalben beobachten. Wie schon Lenin bemerkte: 'Die Kapitalisten verkaufen einem auch noch den Strick, mit dem man sie erhängen wird.' Wenn wir ein China wollen, das die Hoffnungen des Economist im Laufe der nächsten 20 Jahre erfüllt, sollten wir uns mit diesem China einlassen. Doch wir müssen ihm gegenüber unsere eigenen Werte vertreten, statt wie ein Papagei die seinen nachzuplappern" (Hier das englische Original).

Alex Rühle preist den Improvisator Jürgen Kuttner, der aus Videoschnipseln und 20 Sekunden Tagesschau einen ganzen Theaterabend bestreiten kann. "In seinem Vortrag nach dem elften September zeigte er einen Ausschnitt aus Schröders Regierungserklärung. Während Schröder spricht, klingelt Fischers Handy. 'Da sieht man,' so Kuttner damals, 'im Gesicht Fischers quasi Mentalitätskabul, total 'ne Trümmerwelt."

Außerdem fragt sich die SZ, warum sich die deutsche Kultur derzeit so gut ins Ausland verkauft. Holger Liebs erklärt sich den Erfolg der Leipziger Schule auch mit dem Mythos, der um die unbeirrt figürlich Pinselnden aus dem Tal der Ahnungslosen gestrickt wurde. Ijoma Mangold glaubt, dass das deutsche Jekyll-Hyde-Modell das Ausland besonders "fasziniere": "Das Land der Dichter und Denker, der Richter und Henker. In dem Koffer, den wir immer noch in Berlin haben, ist vieles drin: Ein bisschen Comedian Harmonists und Roaring Twenties, aber eben auch Oswald Spengler und die trampelnden SA-Horden. Marlene Dietrich und Zarah Leander."

Weiteres: Bewachte Wohnanlagen nach amerikansichem Vorbild sind auch in Europa - amüsanterweise besonders in Frankreich - auf dem Vormarsch, bemerkt Annabell Dillig ein wenig ungehalten. "Tost" meldet eine Fortsetzung der Querelen im Suhrkamp-Verlag: Der für Vertrieb und Marketing zuständige Geschäftsführer Georg Rieppel nimmt seinen Hut. Der Rapper Ludacris aus Atlanta hat mit einer Südstaatenflagge so viel Aufsehen erregt, dass Jonathan Fischer ihn nun kurz porträtiert. Dirk von Gehlen weiß, dass Podcasts von der Unterhaltungsindustrie entdeckt worden sind und bringt Beispiele von Woody Allen, Madonna und Tocotronic. Jens Malte Fischer gratuliert dem Bariton Renato Bruson zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Meg Stuarts Tanzstück "Replacement", ihr Einstand als Choreografin an der Berliner Volksbühne ("Es hat noch kein Timing, ihm fehlt die Dramaturgie", urteilt Eva-Elisabeth Fischer.), Daniel Barenboims spätromantisch "verschattete" Interpretation von Bachs "Wohltemperierten Klavier" im Münchner Herkulessaal, Dagur Karis sich in einem "assoziativen Schwebezustand" haltender Film "Dark Horse", und Bücher, darunter Julia Enckes interdisziplinäre Dissertation "Augenblicke der Gefahr" über die Frage, was der erste Weltkrieg mit unseren Sinnen gemacht hat und Ha Jins "eigentümlich sekundärer" Koreakriegsroman "Kriegspack" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).