Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2006. Die NZZ will die Kultur Asiens in unseren Bildungshorizont aufnehmen. In der FR fordert Heinz Bude ein Engagement der Linken für die Mitte der Gesellschaft. Die FAZ analysiert den Umbruch in der deutschen Fernsehlandschaft. Im Tagesspiegel kommentieren die ukrainischen Autoren Oksana Sabuschko und Mykola Riabtschuk den Streit zwischen der Ukraine und Russland. Die Welt porträtiert den Choreografen Marco Goecke. Und Andreas Dresens Film "Sommer vorm Balkon" stößt nicht nur in der Berliner Zeitung auf Begeisterung.

NZZ, 04.01.2006

Die Europäer beobachten zur Zeit gebannt den Aufstieg asiatischer Staaten wie China und Indien. Wäre es nicht langsam Zeit, auch die asiatischen Kulturen kennenzulernen, fragt Urs Schoettli. "Zu wissen, welche Rolle Ram Mohan Roy und die bengalische Renaissance spielten, wer Kang Youwei war und was die Meiji-Restauration bewirkte, ist nicht nur eine Bereicherung für den eigenen Wissenshorizont, es sind dies auch Kenntnisse, die sich im beruflichen Alltag auszahlen werden. Wer die Hintergründe der Meiji-Restauration kennt, weiß beispielsweise um die außerordentliche Fähigkeit der Japaner, sich durch einen kollektiven Willensentschluss zu einem Neubeginn aufzuraffen."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel erklärt, wie Kinder und Jugendliche klassische Musik hören lernen können.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Entdeckung der Landschaft" in der Staatsgalerie Stuttgart, eine Schau zu dem österreichischen Architekten Erich Boltenstern im Wien-Museum und Bücher, darunter Ernst H. Gombrichs "Weltgeschichte für junge Leser" und Kinder- und Jugendbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 04.01.2006

Stephan Speicher ist begeistert von Andreas Dresens Film "Sommer vorm Balkon": "Es wird wunderbar gespielt in diesem Film, bis in die Nebenrollen. Jede Figur trägt ihr einzelnes Schicksal; jeder Schauspieler zeigt, wie schwer es ist, aber sentimental wird es nie - zu schnell, zu sicher sind die Dialoge. Auch dies aus einem Berlin, wie man es ersehnt: Genauigkeit und Seele, man richtet sich ein. Wo die Liebe es schwer hat, gibt es doch das Sich Kümmern. Und das ist nichts Geringes. 'Ich verkaufe meine Sachen, bezahle meine Schulden und bringe mich um', so ordentlich ist Katrin in ihrer Verzweiflung. 'Oder ich fahre zurück nach Freiburg', das ist dem Selbstmord vergleichbar."

Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase überlegt im Interview, warum sich im Kino oder Fernsehen so wenig vom "wirklichen Leben" wiederfindet: "Es hat sich ja viel geändert: mit der Gesellschaft auch das Lebensgefühl. Aber manches hat sich eben auch nicht geändert. Ich mache in 'Sommer vorm Balkon' ja, was ich schon vor 25 Jahren gemacht habe, etwa in 'Solo Sunny': Ich erzähle eine Geschichte aus dem Prenzlauer Berg. Dort lebt man bunt und kräftig, in Kontrasten, man lebt im Alltag. Das alles war mir immer lieb; davon weiß ich auch ein bisschen was. Ich kann in meiner Tonlage sprechen. Ich muss die Stimme nicht verstellen. Umso schöner, dass Andreas Dresen als Regisseur dazu kam - jemand mit ähnlicher Sicht auf die Stadt. Denn Dresen interessiert sich für Menschen, und zwar ohne sich diesem modischen Skeptizismus anzuschließen, der meint, sich für diese Liebe rechtfertigen zu müssen. Außerdem glaubt er wie ich, dass es sich nicht lohnt, Figuren auftreten zu lassen, nur um sie zu denunzieren. Das ist die Mühe nicht wert."

Und Arno Widmann ist wieder unterwegs in der Weltgeschichte.

Tagesspiegel, 04.01.2006

Die beiden ukrainischen Autoren Oksana Sabuschko und Mykola Riabtschuk kommentieren den Gas-Streit mit Russland. Die ukrainische Bevölkerung jedenfalls rückt durch die Drohungen näher zusammen, berichtet Riabtschuk. "Unter den elektronischen Postkarten, die sich die Ukrainer zu Silvester schickten, zeigte die beliebteste eine leicht umgestaltete Flasche sowjetischen Sekts. Auf dem vertrauten Etikett war das Wort 'sowjetisch' allerdings durch 'ukrainisch' ersetzt. Darüber prangte der Zusatz: 'Gasfrei'."

TAZ, 04.01.2006

In tazzwei wünscht sich der Jurist Jony Eisenberg mehr politischen Anstand im Umgang mit Susanne Osthoff. "Wer das Unglück hat, im Ausland entführt zu werden, darf erwarten, dass sich das Außenamt, das der deutsche Steuerzahler genau für diesen Zweck üppig finanziert und dessen Angehörige astronomisch hohe Gehälter beziehen, still und ohne orchestrierendes Politikergefasel um die Freilassung kümmert und dass es ihn nachhaltig vor journalistischen Nachstellungen schützt. Schließlich kann sich das Entführungsopfer nicht wehren. Und nach einer Freilassung geht das Opfer die Medien und Politiker nichts, aber auch gar nichts mehr an."

Auf den Kulturseiten beschreibt Cord Riechelmann in einem Essay, wie und warum die Physik sich immer mehr mit der Biologie beschäftigt, aber die fundamentale Kategorie von Leben und Tod nicht begreift. Ralf Leonhard fasst die österreichischen Aktivitäten zum Mozart-Jahr zusammen. Besprochen wird Sam Mendes Verfilmung des Kriegsromans "Jarhead".

Und hier Tom.

FR, 04.01.2006

Der Kasseler Soziologe Heinz Bude gibt dem politisch linken Lager den guten Rat, sich mit dem Begriff der "sozialen Exklusion" zu beschäftigen. Die meisten Bürger hätten zwangsweise schon damit zu tun. "Drohende Unsicherheit ist längst nicht mehr auf wohldefinierte Randgruppen beschränkt, sondern in die Mitte unserer Gesellschaft gesickert. Von der Erfahrung prekärern Wohlstands können unregelmäßig und ungesicherte Beschäftigte in den Wachstumssektoren der vielgerühmten Wissensgesellschaft ein Lied singen. Im Bereich der Medien, der unternehmensbezogenen Dienstleistungen, unter Ärzten, Rechtsanwälten und Apothekern finden sich nicht wenige, die mit zwei Kindern und einer erheblichen Immobilienhypothek auf einem schmalen Grat balancieren. Die Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben scheint zwar gesichert, aber durch ein unkalkulierbares Lebensereignis kann man durchaus ins Strudeln geraten."

Ein Gespräch mit dem Opernintendanten Bernd Loebe und dem designierten Generalmusikdirektor Sebastian Weigle lotet Wirklichkeit und Möglichkeiten der Oper in Frankfurt aus. In Times mager würdigt Harry Nutt den Trabrennfahrer und -trainer Stig H. Johansson, der sich 60jährig aus dem aktiven Berufsleben verabschiedet, was für Schweden "einem Kulturschock" gleichkomme.

Weil der SWR den südbadischen Europapark als Außendrehort bevorzugt hat, macht die rheinland-pfälzische Landesregierung jetzt Druck, informiert Philipp Scheffbuch auf der Medienseite.

Besprochen werden Andreas Dresens Film "Sommer vorm Balkon" und ein Haufen Bücher, darunter Kenzaburo Oes Roman "Tagame Berlin Tokyo" (hier eine Leseprobe), der Kurzgeschichtenband "Geographien" von Andreas Münzner sowie die erste Biografie Oskar Schindlers von David M. Crowe (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 04.01.2006

Auf Seite 1 schreibt Michael Hanfeld einen interessanten Leitartikel zum Umbruch in der deutschen Fernsehlandschaft. Digitalisierung, das Hinzutreten neuer Akteure wie die Kabelgesellschaften, die zum Beispiel bei Fußballrechten zu konkurrieren beginnen, und der Rückgang der Werbung werden dazu führen, dass die Zuschauer für die Inhalte der privaten Sender künftig zahlen müssen, meint er: "Zu der Rundfunkgebühr für ARD und ZDF und der Kabelgebühr oder den Kosten für einen Satellitenanschluss treten dann plötzlich Freischalt- oder Nutzungsgebühren... Entkommen kann der Digitalisierung niemand. Das bedeutet für die einen ungeahnte Möglichkeiten, Geld zu verdienen, für die anderen, dass sie aus dem Geschäft sind, und für die Fernsehzuschauer und Internetnutzer, dass sie zur Kasse gebeten werden."

Im Aufmacher des Feuilletons setzt Martina Lenzen-Schulte die FAZ-Familienserie fort und klagt über unsere modernen Zeiten, in denen sich Kinderfeinde auf Internetadressen wie Childfreeghetto, nokidding.net oder worldchildfree.org ungestraft tummeln dürfen. In der Leitglosse antwortet Michael Jeismann auf die gestern in der SZ publizierte Kritik des Historikers Wolfgang Benz am Konzept für das Zentrum gegen Vertreibungen. Hubert Spiegel stellt eine Studie Peter von Matts über die Intrige in der Literatur vor, die in der FAZ als Feuilletonroman vorabgedruckt wird. Eleonore Büning hat es fertiggebracht, Silvester- und Neujahrskonzerte in mehreren deutschen Städten zu besuchen und schreibt eine ausführliche Rezension. Jürg Altwegg berichtet über einen Fall von Sterbehilfe, der in Frankreich von sich reden machte. Der Historiker Wolfgang Schieder antwortet auf ein "Manifest Geisteswissenschaften" (hier als pdf), das im November in der FAZ veröffentlicht wurde und konstatiert, dass die Zentren der geisteswissenschaftichen Forschung künftig außerhalb der Universität liegen werden - sofern der Bund sie finanziert. Jürgen Richter freut sich über die Restaurierung bedeutender Baudenkmäler in Thüringen.

Auf der Medienseite gibt Michael Hanfeld dem Vorstandsvorsitzenden von Springer, Michael Döpfner, in einem fast ganzseitigen Interview Gelegenheit, seine Position zur gewollten Fusion von Springer und Pro 7 und Sat 1 darzulegen. Jürg Altwegg schreibt außerdem über eine gründliche Blattreform bei der NZZ.

Auf der letzten Seite veröffentlicht die Schriftstellerin Silke Scheuermann Impressionen von einem Spaziergang in Schanghai. Robert von Lucius berichtet, dass in Schweden eine kritische Gesamtausgabe der Werke Selma Lagerlöfs beschlossen wurde. Und Dirk Schümer porträtiert den Gründer der Slow-Food-Bewegung, Carlo Petrini, der jüngst mit dem Buch "Buono, pulito e giusto" eine Summe seines gastrosophischen Denkens vorlegte.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotos von der einstigen Nibelungenhalle in Passau des Fotografen Rudolf Klaffenböck, Andreas Dresens Film "Sommer vorm Balkon" und ein Konzert der Band Throbbing Gristle in Berlin.

Welt, 04.01.2006

Jochen Schmidt porträtiert den Choreografen Marco Goecke, dem er eine große Zukunft voraussagt: "Der Choreograf ist 1972 in Wuppertal geboren und in Sachen Tanz ein Spätberufener, obwohl es natürlich zu Pina Bausch, der Wuppertaler Ikone, immer schon Beziehungen gab, wenn auch, zu Beginn, eher negative: Als sie mit ihm schwanger gewesen sei, habe seine Mutter eine der frühen Bausch-Vorstellungen in Wuppertal empört und vorzeitig verlassen, und weil es Winter war und die Straßen glatt, sei sie ausgerutscht und habe sich, 'mit mir im Bauch', hingelegt - ein Vorfall, für den sich Pina Bausch, als sie davon erfuhr, zwanzig Jahre später entschuldigt habe."

Michael Stürmer singt ein Lob auf die Patina und wünscht sich von den Museen, dass sie nicht mehr so viel restaurieren: "Es gibt einen anti-kulturellen Konsens gegen Vergangenheit, Zeit und Geschichte - und damit gegen Patina. Wo Großmütter allerdings alles daran setzen, jederzeit und überall so auszusehen wie ihre Enkelinnen, und dafür weder Kosten noch Schmerzen scheuen, ist alles möglich. Doch was der Seele Tröstung verspricht, ist für die Kunst ein ahnungslos vollstrecktes Todesurteil."

Weitere Artikel: Hinter dem russischen Gaslieferungsboykott gegen die Ukraine verbirgt sich ein tiefer Minderwertigkeitskomplex der Russen, dessen Ursache bis ins Jahr 862 zurückreicht, meint Alfred Baer. Eckhard Fuhr prophezeit eine kulturelle Renaissance des röhrenden Hirschen. Berthold Seewald kommentiert die Auswahl von 21 Bauwerken und Ensembles, aus denen weltweit sieben bestimmt werden sollen für eine Liste der Sieben Weltwunder der Gegenwart.

Besprochen werden eine Ausstellung des Bildhauers Bernhard Heiliger im Martin-Gropius-Bau und Andreas Dresens Film "Sommer vorm Balkon", von dem Hanns-Georg Rodek einfach hingerissen ist: "Der alte Münchner Schickeria-Film ist tot. Es lebe das neue Defa-Kino!"

SZ, 04.01.2006

Der russische Schriftsteller Andrej Kurkow glaubt im Gespräch mit Sonja Zekri nicht, dass Deutschland im Gas-Streit zwischen der Ukraine und Russland vermitteln kann - und will. "Wie denn? Wenn Gerhard Schröder für Gazprom arbeiten will? Nun zeigt sich, wie sich die Europäische Union zu ihren alten und zu ihren neuen Mitgliedern verhält. Und da sieht man, dass Energie wieder einmal wichtiger ist als Demokratie. Wie in Amerika, da zählt Öl auch mehr als Demokratie. Die baltischen Staaten haben für ihren Protest gegen die Ostseepipeline in Brüssel jedenfalls nicht die kleinste Unterstützung bekommen. Aber das Komische ist: Beide, die Ukraine und Europa, begreifen in diesem Moment, wie vollständig sie von den russischen Energielieferungen abhängig sind."

Fritz Göttler preist Sam Mendes' Film "Jarhead", der das Soldatenleben im ersten Golfkrieg ungewohnt realistisch beschreibt - als ewiges Warten. Andrian Kreye beschreibt passend dazu die aktuelle Freizeitkultur der Soldaten im Irak, die aus DVD, Internet und Rap besteht. Sergeant Saunders hat sogar eine eigene Combo gegründet. "Unter dem Namen 'Big Neal' trommelte er einen Trupp rappender Soldaten zusammen, die sich '4th25' nannten, was im amerikanischen Sport das letzte Viertel bezeichnet, in dessen letzten Minuten sich die meisten Football- und Basketballspiele entscheiden. Mit Sperrholzplatten und alten Matratzen baute 'Big Neal' Saunders in den Baracken ein provisorisches Tonstudio, in dem er mit seinen Kameraden ein Rap-Album mit dem Titel 'Live from Iraq' aufnahm. Auf dem Album und der Webseite liefern 4th25 so etwas wie eine Essenz der digitalen Frontfolklore. Zimperlich sind die rappenden Soldaten dabei nicht."

Weiteres: Amerikas Neocons haben eine Debatte über die Einwanderung angestoßen, berichtet Jeanne Rubner, glaubt aber, dass die Konservativen mit ihrer Forderung nach mehr Assimilation im Schmelztiegel USA wenig Erfolg haben werden. Anne Tilkorn resümiert eine Tagung amerikanischer Philosophen, auf der diese ihre Regierung kritisierten. Der Bildhauer und Kunstdozent Stephan Huber kritisiert bayrische Pläne, die Kunsterziehung von der Akademie an die Universitäten auszulagern. "bru" meldet, dass die nach 30 Jahren wieder entdeckten Beatles-Tonbänder echt sind. Und Thomas Thieringer gratuliert dem Schauspieler Christoph Bantzer zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden eine Ausstellung des zeichnerischen Werks von Egon Schiele in der Wiener Albertina und Bücher, darunter ein Biografie über den Dichter Karl Wolfskehl, der Monolog "Der Buchstabe" von Linda Le, ein Porträtband über Mitglieder der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, eine Biografie über den Spätaufklärer Carl Friedrich Cramer (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).