Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2005. In der Welt sprechen Pawel Huelle über die polnische Vergangenheitsbewältigung und Christoph Schlingensief über die Bayreuther "Parsifal"-Bewältigung, und Hans Christoph Buch schreibt über den Linksruck in Lateinamerika. Die taz macht sich Sorgen über die französischen Zeitungen. Die FAZ bringt Durchhalteparolen von Robert Musil zu Weihnachten 1916 und einen Streifzug Mario Vargas Llosas durch Berlin.

TAZ, 22.12.2005

"2005 war ein Katastrophenjahr", schreibt Dorothee Hahn auf der Medienseite über die Zeitungskrise in Frankreich. "Abgesehen von den beiden Gratisblättern Metro und 20 Minutes, die fröhlich boomen und deren Auflage längst jene der Traditionspresse übertrifft, haben nur zwei Pariser Zeitungen Auflage und Finanzen deutlich verbessern können. Beide sind spezialisiert - L'Equipe auf den Sport, die katholische Tageszeitung La Croix auf Religion. Derweil kämpfen andere darum, überhaupt weiter erscheinen zu können. Das bei der Befreiung von ehemaligen Resistants gegründete Boulevardblatt France Soir, das zu seinen besten Zeiten in den 60ern täglich über eine Million Exemplare verkaufte und heute auf weit unter 50.000 Exemplare täglich geschrumpft ist, steht seit Herbst unter Zwangsverwaltung... Dramatischer als je zuvor ist die Lage auch bei der einst linksradikalen Tageszeitung Liberation. Dort ist im April - nach der Zustimmung der Beschäftigten, denen schon damals das Wasser bis zum Hals stand - ein Bankier eingestiegen, der in eine andere politische Richtung tendiert als die Redaktion."

Weitere Artikel: In Zeiten der Not geht die Krise des Einzelhandels auch das Feuilleton etwas an. Hier die Empfehlungen der taz-kulturredaktion für Last-Minute-Geschenke. Cristina Nord übermittelt gemischte Eindrücke vom 27. Filmfestival in Havanna. Und der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller (mehr hier) widmet sich auf der Meinungsseite der Frage "Was bedeutet Konservatismus heute?" und zwar unter besonderer Berücksichtigung von George W. Bushs "Compassionate Conservatism", dessen Ideen Müller für interessant, aber in der Praxis gescheitert hält.

Besprochen werden Roman Polanskis Film "Oliver Twist", Mark Dornford-Mays Verfilmung von Georges Bizets Oper "Carmen" und die definitiv letzte Kunstveranstaltung im Berliner Palast der Republik "White Cube".

Schließlich Tom.

Welt, 22.12.2005

Im Interview mit Gerhard Gnauck spricht der polnische Autor Pawel Huelle über die neue polnische Regierung, und er kritisiert die mangelnde Vergangenheitsbewältigung: "In Polen haben Millionen seit 1980 auf irgendeine Abrechnung mit dem Kommunismus gehofft. Dieses System hatte Blut an den Händen, und es hatte wirtschaftlich fatale Folgen. Aber es hat keinen, nicht mal einen symbolischen Akt dieser Art gegeben. Deshalb haben jetzt Politiker die Wahlen gewonnen, die sagten, sie würden das anpacken. Ich erwarte keine Hexenjagd. Das wird eher im parlamentarischen Gekläff und im Zeitungsstreit enden."

Gerhard Midding berichtet über den Fall des französischen Regisseurs und "strengen Marxisten" Jean-Claude Brisseau, der wegen sexueller Belästigung verurteilt wurde: "Zwei Schauspielerinnen, mit denen er erotische Testaufnahmen gedreht hatte, stellten 2001 Anzeige gegen den Regisseur, der ihnen eine Hauptrolle in seinem nächsten Film 'Heimliche Spiele' in Aussicht gestellt und sich während der Aufnahmen mitunter selbst befriedigt habe." Die gesammelte Pariser Kulturszene hat Brisseau ihre Solidarität erklärt.

Weitere Artikel: Nach der Einfuhrerlaubnis für amerikanische Synthetikweine fragt Eckhard Fuhr: "Ist jetzt das Abendland in Gefahr?" und kommt zu der schlichten Antwort: "Das Abendland ist immer in Gefahr. Deshalb ist die amerikanische Attacke auf die europäische Weinkultur kein Grund zur Panik. " Berthold Seewald berichtet über eine jahrtausendealte Steininschrift, die jetzt im Jemen entdeckt wurde.

Besprochen werden Frank Zöllners Kunstband "Botticelli", der Film "U-Carmen" des südafrikanischen Regisseurs Mark Dornford-May, Ingo Berks Inszenierung der "Trachinierinnen" von Sophokles in Bonn, der Film "Wo die Liebe hinfällt" mit Kevin Costner und der Film "Be Here to Love Me" über den Folksänger Townes Van Zandt.

Im Forum zeigt sich Hans-Christoph Buch recht skeptisch über den Linksruck vieler Länder in Lateinamerika: "Ein Vorgeschmack auf das, was kommt, war Fidel Castros Angebot, Katastrophenhelfer aus Kuba nach New Orleans zu schicken, und Hugo Chavez' Versprechen, venezolanisches Erdöl nach New York zu verschiffen, um es den Bewohnern der Bronx zugute kommen zu lassen: Populismus pur, der Teil des Problems und nicht dessen Lösung ist."

Und im Magazin unterhält sich Kai Luehrs-Kaiser mit Christoph Schlingensief. Auf die Frage, ob er Angst hatte vor der "Parsifal"-Premiere in Bayreuth, antwortet er: "Total. Ich war innerlich zerrissen und habe gelitten wie ein Schwein. Ich dachte: Die Arbeit ist doch gut geworden, sie zeigt, dass ich mit Bildern anders umgehe. Andererseits war für mich völlig klar, dass es ein 'letztes Mal' ist, so wie es im Parsifal verkündet wird. Es lag also auch am Stück. Parsifal ist wie Tinnitus. Der geht nicht mehr weg, wenn man ihn einige Male gehört hat."

FR, 22.12.2005

"Dem Filmemacher ist ein seltener Coup geglückt", feiert Sascha Westphal Roman Polanskis Charles-Dickens-Adaption "Oliver Twist". "Schon 'Der Pianist' legte nahe, nicht nur von einer Banalität des Bösen, sondern auch von einer Banalität des Guten zu sprechen. Diese Idee variiert und vertieft Polanski nun noch einmal in seiner Umsetzung des 'Oliver Twist'. In einer Welt ohne Sinn drückt sich auch in den Akten von Güte und Menschlichkeit, die Oliver während seiner Odyssee durch das vorindustrielle England zuteil werden, nichts als Willkür aus. Letztendlich kommt ihnen nicht mehr Bedeutung zu als den Grausamkeiten, die er durchleiden muss. Alles ist Zufall und Glück, und nur wer sich wie Wladyslaw Szpilman und Oliver Twist damit abfindet, wird nicht ganz an seiner Existenz verzweifeln."

Weitere Artikel: Thomas Medicus stellt das "überwältigend schöne Görlitz und sein polnisches Gegenüber Zgorzelec", die im Jahr 2010 Europäische Kulturhauptstadt werden wollen, als "Laboratorium der Europäisierung" Osteuropas vor.

Besprochen werden Margaret Browns Dokumentarfilm über den Songpoeten Townes Van Zandt "Be here to love me", Mark Dornford-Mays Bizet-Verfilmung "U-Carmen", eine Heinrich-Füssli-Schau im Kunsthaus Zürich und eine Matisse-Ausstellung im Düsseldorfer K 20 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

FAZ, 22.12.2005

Die FAZ präsentiert einen bisher unbekannten Text, den Robert Musil als Redakteur einer Armeezeitung zu Weihnachten 1916 geschrieben hat. Er liest sich passagenweise nicht sehr erbaulich: "Wir warten und wissen, dass wir unsere Schuldigkeit tun werden, wenn es weiter sein muss. An uns liegt es nicht, wenn auch der Frühjahrsschnee rot gefärbt werden wird. Wir verteidigen, sie greifen an, das sagt uns unser Gewissen heute wie vor zweieinhalb Jahren, und da hilft ihnen kein Deuteln." Der Historiker und Publizist Roman Urbaner hat den anonym veröffentlicthen Artikel als Werk Musils identifiziert und erklärt in einem erläuternden Artikel, wie es zu dieser "überraschend willfährigen Agitationsprosa" kam.

Auf der letzten Seite unternimmt Mario Vargas Llosa einen begeisterten Streifzug durch das Berliner Kulturleben. Seine Vitalität erklärt er so: "Meine Berliner Freunde erzählen mir, dass die Stadt technisch bankrott sei, aber da weder die Städte noch die Länder wirklich ganz und gar pleite gingen, führe dieses Bankrottgefühl bei den Berlinern dazu, sich besonders gierig in die alternative Wirklichkeit der Kunst und Literatur zu stürzen." (Hier der Link zum Originalartikel in Reportajes.)

Nicht gesehen hat Vargas-Llosa eine Aufsehen erregende Ausstellung im White Cube des ehemaligen Palastes der Republik, die allein von Künstlern, ganz ohne Kuratoren organisiert wure, schreibt Niklas Maak: "Viele der Künstler leben seit langem in Berlin: Olafur Eliasson, Thomas Demand und Tacita Dean, um nur drei der bekanntesten zu nennen, haben zwar ihre Ateliers in Rufweite des Fensters von Peter-Klaus Schuster, dem obersten Leiter des Hamburger Bahnhofs, des 'Museums für Gegenwart' - aber keiner bekam dort je eine Einzelschau. Eliasson wurde statt dessen in London gezeigt (nicht weniger als zwei Millionen Besucher kamen), Demand im New Yorker MoMA, Tacita Dean im Pariser Musee de l'Art Moderne. Man musste weit reisen, um zu erfahren, was in der eigenen Hauptstadt an Kunst entsteht..."

Weitere Artikel: Wenig erstaunt zeigen sich laut Kerstin Holm russische Intellektuelle über Gerhard Schröders neuen Job. Der Schriftsteller Ian McEwan erklärt in einem kurzen Text, warum er Bach so sehr liebt. Konrad Heumann und Joachim Seng erinnern an den Publizisten Rudolf Hirsch, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Tilman Lahme berichtet von der Vorstellung des Buchs "Abgehört" mit Abhörprotokollen deutscher Soldaten in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Andreas Rosenfelder gratuliert dem Kabarettisten Konrad Beikircher zum Sechzigsten.

Auf der Kinoseite unterhält sich Andreas Kilb mit Roman Polanski über die Dreharbeiten zu seiner "Oliver-Twist"-Verfilmung. Michael Jeismann hat sich den Dokumentarfilm "Die Anatomie des Bösen" des Dänen Ove Nyholm angesehen. Michael Althen berichtet von Revirements an Berliner Filminstitutionen.

Auf der Medienseite schreibt Michael Hanefeld über den Ausgang der Verhandlungen zu den Fußballrechten, bei denen sich Premiere verzockt hat. Und Jürg Altwegg berichtet von der Aktion des Genfer Magazins L'Hebdo, das Journalisten zu dauerhafter Berichterstattung in die Banlieues schickte - einer von ihnen wurde tätlich angegriffen.

Auf der letzten Seite will Lorenz Jäger nicht recht glauben, dass man tatsächlich vom Geheimdienst besucht wird, wenn man in den USA die Maobibel per Fernleihe bestellt. Und Alexander Jürgs porträtiert den iranischen, im Exil lebenden Journalisten Hossein Derakshhan, der die Blogwelle im Iran auslöste, indem er eine Anleitung zum Blogbauen auf Persisch ins Netz gestellt hatte.

Besprochen weden eine "Zauberflöten"-Inszenierung von Helmuth Lohner in Wien und der Film "U-Carmen".

NZZ, 22.12.2005

In den USA wehren sich christliche Organisationen heftig gegen den politisch korrekten Sprachgebrauch von Warenhausketten, die ihrer multireligiösen Kundschaft "Happy Holidays" wünschen statt "Merry Christmas", berichtet Andrea Köhler. "Auf der Webseite savemerrychristmas sind sämtliche Missetäter auf einer schwarzen Liste vereint; auch einschlägige Bürgervereine wie die 'American Family Association' haben sich gegen die 'Christenverfolgung' formiert. Mit Erfolg: Hunderttausende schlossen sich dem Boykott an. Und siehe da: Flugs krochen die meisten der inkriminierten Handelsketten zu Kreuze und machten aus ihren Holiday-Angeboten wieder Weihnachtsgeschenke."

Angelika Timm berichtet, dass Yitzhak Rabin zehn Jahre nach seiner Ermordung die Israelis immer noch entzweit.

Besprochen werden eine Ausstellung von Wolfgang Laib in der Fondation Beyeler in Riehen und Bücher, darunter eine lückenlose Gesamtausgabe von Charles M. Schulz' "Peanuts", die Memoiren des britischen Radio-DJ John Peel (beide bisher nur auf Englisch erschienen), eine Arnold-Schönberg-Biografie von Hartmut Krones und Stanislav Komareks Roman "Kaplans Traum" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 22.12.2005

"Heute gilt das Attentat als Schlüsselmoment in der Geschichte des internationalen Terrorismus", schreibt Andrian Kreye über Steven Spielbergs Film "Munich" und die Geschichte dieses Terroraktes, bei dem 1972 ein palästinensisches Terrorkommando 13 israelische Sportler entführte, die alle ums Leben kamen. Kreye zitiert den Kolumnisten der New York Times, David Brooks, der den entscheidenden Schwachpunkt benannt habe, an dem der Versuch scheitern musste, mit "Munich" eine realistische Debatte über den Krieg gegen den Terror anzustoßen. "Mit seiner Entscheidung, eine Geschichte zu verfilmen, die im Jahr 1972 spielt, hat sich Spielberg die Freiheit genommen, jenes Gift zu ignorieren, das heute den gesamten Nahen Osten durchsetzt - den islamischen Radikalismus. In Spielbergs Nahem Osten gibt es keine Hamas, keinen islamischen Dschihad. Da gibt es keine leidenschaftlichen Antisemiten, keine Holocaustverleugner wie den derzeitigen Präsidenten Irans, und keine Fanatiker, die sämtliche Israelis auslöschen wollen." Fritz Göttler fasst in einem zweiten Artikel die Reaktionen in der amerikanischen Presse zusammen, die Spielberg Naivität vorwerfen.

Jedem, der nicht um die halbe Welt reisen wolle, um sich Arbeiten junger Berliner Künstler anzuschauen, empfiehlt Jan Brandt einen Besuch im Berliner Palast der Republik, wo mit White-Cube die nun wirklich allerletzte Veranstaltung vor dem Abriss stattfindet. "In keiner anderen Stadt leben so viele international anerkannte Künstler wie in Berlin, nirgendwo sonst in Deutschland gibt es so viele Galerien und Museen, und doch zeigt gerade der 'White Cube', was alles fehlt: ein zentrales Forum, das Kontakt zur lokalen Szene hat und dessen Potenzial abbildet. Kein Gebäude scheint dafür besser geeignet zu sein als der neben der Museumsinsel gelegene Palast der Republik, der, so entleert wie er jetzt ist, ohne jede Ideologie und Semantik, spielerisch die alte, längst kanonisierte Kunst mit der neuen verbinden könnte."

Weitere Artikel: Die SZ-Filmkritiker listen an diesem vorletzten Kinodonnerstag die magischen Momente, Lieblingsfilme und Enttäuschungen des zuende gehenden Kinojahres auf. Herbert Achterbusch erweist dem Kinojahr 2005 im Münchner Filmmuseum seine Reverenz. Andrian Kreye berichtet von einem Rückschlag für amerikanische Gotteskrieger in Form eines Gerichtsurteils, das verbietet, die pseudowissenschaftliche Theorie des "Intelligent Design" an Schulen zu unterrichten, eine Theorie, mit der auch Präsident Bush sympathisiere und die sich gegen Charles Darwins Evolutionstheorie richte (gehts zur Seite der Intelligent-Designer). Lothar Müller informiert über die Projekte der Bundeskulturstiftung im neuen Jahr.

Besprochen werden Rob Reiners Films "Rumor has it", Margaret Browns Dokumentarfilm über den Musiker Townes Van Zandt "Be here to love me", Sebastian Hartmanns Version von Shakespeares "Macbeth" und Annette Pullens Inszenierung von Theresia Walsers Stück "Wandernutten" am Theater Magdeburg, (offensichtlich eine kulturelle Wellnessoase: "Man fühlt sich sofort wohl in diesem Theater, das sich nicht nur durch seine vielen Fenster nach außen hin öffnet. Auch ein Blick auf den Spielplan zeigt: Hier suchen sie Gegenwart, Reibung, Konfrontation mit der gesellschaftlichen Realität", schreibt Christine Dössel) und Bücher, darunter Arnold Stadlers Hommage "Mein Stifter" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).