Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2005. Der Tagesspiegel präsentiert die beste Übersetzung von "Ottos Mops": "Fritz's bitch". In der Welt erzählt der Erfinder der "Neuen Leipziger Schule" Arno Rink, warum ihm dieses Label langsam lästig wird. Die Welt berichtet auch über den anhaltenden Streit um das "Schwarzbuch der Psychoanalyse" in Frankreich. Die SZ erklärt, warum die Araber Shakespeare so sehr lieben. Die Theaterereignisse des Wochenendes waren Michael Thalheimers Inszenierung des "Faust II" in Berlin und die Uraufführung von Botho Strauß' neuem Stück "Schändung" unter Luc Bondy in Paris.

Welt, 10.10.2005

Uta Baier unterhält sich mit dem gerade pensionierten Leipziger Malerei-Professor Arno Rink (Bilder), dem wir die "Neue Leipziger Schule" verdanken: "Anfangs fand ich ein Markenzeichen ganz gut, aber jetzt kommen die Trittbrettfahrer. Wer nur halbwegs handwerklich begabt ist, versucht jetzt 'Neue Leipziger Schule' zu machen. Es ist wirklich erschreckend und es fängt an, lästig zu werden."

Weitere Artikel: Wieland Freund betrachtet den Literaturnobelpreis, der in dieser Woche wieder vergeben wird, in Geschichte und Gegenwart. Manuel Brug besucht Santiago Calatravas Kulturpalast in Valencia. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod der Cutterin Heidi Genee. Und Hellmuth Karasek erinnert sich in seiner Kolumne der guten alten Videokassette.

Besprochen werden Michael Thalheimers Inszenierung des "Faust II" in Berlin und Hans Neuenfels' Schubert/Schumann-Spektakel in Bochum.

Auf der Magazinseite berichtet Jörg von Uthmann vom großen Ärger, den in Frankreich das "Schwarzbuch der Psychoanalyse" in der gesellschaftlich recht angesehenen Zunft der Psychoanalytiker auslöste. Dabei, so erinnert Uthmann, hat die Branche alle Kritik doch schon erfolgreich abgewehrt: "Auf die Zweifel an der therapeutischen Wirksamkeit der Psychoanalyse hatte schon Lacan eine Antwort parat: 'Wie ein gewisser Karl Popper sehr richtig festgestellt hat, ist die Psychoanalyse keine Theorie, die man widerlegen könnte. Sie ist eine Praxis - eine Praxis, die so lange dauert, wie sie eben dauert. Sie ist eine Praxis des Schwätzens (une pratique du bavardage).' Andere Psychoanalytiker sprechen von der 'Flucht in die Heilung', die nur ein weiteres Symptom der psychischen Störung sei."

TAZ, 10.10.2005

Großartig, wie Michael Thalheimer am Deutschen Theater "Faust II" als Kritik an der Moderne liest, jubelt Katrin Bettina Müller. Mit der Konzentration auf das Motiv vom Scheitern des Fortschritts "macht der Regisseur Goethe besser, als er eigentlich ist". Und die Schauspieler stehen ihrem Regisseur in nichts nach. "Nina Hoss hat als schöne Helena einen der stärksten Auftritte ihrer Theatergeschichte, blickt sie doch hinter die Konstruktion jener Femme fatale, als die sie sonst so oft eingesetzt wird. Wie eine Schiffbrüchige, die nur ein zäher Überlebenswillen all die Idolisierungen überstehen ließ, die ihr angetragen wurden, steht sie da: den Kopf gebeugt, den Lippenstift verschmiert, die Füße fest in den Boden gestemmt. Was an Sprache und Zorn aus ihr herausbricht wie Lava aus einem heißen Vulkan, reicht für mehr als ein Leben."

In der zweiten taz begrüßt Arno Frank die Rückkehr des Progressive Rock, diesmal aus den USA. Jony Eisenberg kritisiert Baden-Württemberg, deren fragwürdige Urteilspraxis zur Abschiebung straffälliger Ausländer nun schon zum zweiten Mal vom Bundesverwaltungsgericht korrigiert worden ist. Jan Feddersen plädiert noch einmal für die israelische Lösung der Kanzlerfrage.

Eine Sammelbesprechung widmet sich einigen neuen Musiktheater-Inszenierungen von Bochum bis Brüssel. Rezensiert wird auch die Retrospektive zum Maler Willi Baumeister im Bucerius Kunst Forum in Hamburg.

Und Tom.

Tagesspiegel, 10.10.2005

Der Tagesspiegel dokumentiert Brian Murdochs siegreiche Version von Ernst Jandls Gedicht "Ottos Mops". Unsere englische Schwesterseite Signandsight.com hatte einen Wettbewerb für die beste Übersetzung ausgeschrieben. Hier die Liste der weiteren Gewinner.

"fritz's bitch itches
fritz: quit bitch quit
fritz's bitch quits it
fritz: nitwit
..."

Stichwörter: Jandl, Ernst

NZZ, 10.10.2005

Polen ist nicht so nationalistisch wie es nach den Wahlen scheint, behauptet Reinhold Vetter. Er macht für das Wahlergebnis eher Politikverdrossenheit verantwortlich: Immerhin hätten überhaupt nur 40 Prozent der Polen gewählt. "Die Mehrheit der Bürger ist mit dem EU- Beitritt zufrieden. Für die Menschen zählen die Reisefreiheit, die mögliche Suche nach Arbeit im Westen, die größere Bewegungsfreiheit polnischer Unternehmen und die Aussicht auf den Euro. Viele junge Leute haben sich einen geradezu europäischen Lebensstil zugelegt, lernen Sprachen und verfügen über Kontakte überall auf dem Kontinent. Eine rechte, polnisch selbstgenügsame Regierung kann die Entfaltung dieses Potenzials nicht verhindern."

Weitere Artikel: Cornelia Isler-Kerenyi stellt eine ausführlichen Bericht über die Schäden vor, die durch Plünderungen im Nationalmuseum Bagdad entstanden. Verfasst hat ihn Marineoberst Matthew Bogdanos, Jurist mit abgeschlossener Ausbildung in Kulturgeschichte der Antike. Paul Jandl hat sich den "Austrokoffer" angesehen, die gerade erschienene Anthologie der österreichischen Literatur, und ist wenig beeindruckt: "Auch die schreibenden Mitherausgeber können sich beglückwünschen. Vier von ihnen haben jetzt einen Roman im Kanon. Bei insgesamt sechzehn Romanen, die repräsentativ für die letzten fünfzig Jahre der österreichischen Literatur stehen sollen, beanspruchen die Herausgeber somit allein ein ganzes Viertel."

Besprochen werden die Uraufführung von Botho Strauß' "Schändung", inszeniert von Luc Bondy, in Paris ("Die Nachtseite unserer Welt; das Verdrängte - ohne Feigenblatt" hat eine tief beeindruckte Barbara Villiger Heilig gesehen), Lars von Triers Film "Manderlay" (dazu gibt es ein Interview mit dem Regisseur) und "Faust", zweiter Teil, inszeniert von Michael Thalheimer im Deutschen Theater Berlin.

FAZ, 10.10.2005

Gerhard Stadelmaier schreibt über die Uraufführung der "Schändung" von Bothos Strauß unter Luc Bondy in Paris: "Der Schock und der Glanz von Bondys Inszenierung liegen darin, dass jedwede historische Differenz zwischen altem Rom und neuem Heute nicht nur nicht spürbar wird, sondern überhaupt nicht vermisst wird. Es herrscht eine ungeheure Selbstverständlichkeit der Gräuel. "

Weitere Artikel: Im rekonstruierten Palais der Frankfurter Stadtbibliothek eröffnete das neue Frankfurter Literaturhaus, und Peter Esterhazy hielt eine heiter selbstreferenzielle (und hoffentlich angemessen honorierte) Rede dazu, die vollständig abgedruckt wird. Auch Lorenz Jäger schreibt in der Leitglosse über das glückliche Ereignis. Michael Jeismann resümiert eine Tagung der Gesellschaft für Völkerkunde in Halle. Franz Mauelshagen hat einer Tagung über "Staatsbildung von unten" in Ascona zugehört.

Auf der Medienseite stellt Heike Hupertz die deutsche Serie "Bis in die Spitzen" vor, die auf Sat 1 läuft. Nina Rehfeld feiert die neueste amerikanische Serie "Prison Break". Und Michael Hanfeld kommentiert den fortgesetzten Unsinn der Politbarometer, die uns aufklären, wie wir gestimmt hätten, wenn wir nicht gestimmt hätten, wie wir gestimmt hätten.

Auf der letzten Seite versucht Paul Ingendaay den neuen, von Santiago Calatrava entworfenen Palast der schönen Künste in Valencia zu beschreiben, der ihn an ein Tier erinnert - aber was für eins? "Vorne und hinten wirkt es wie ein Fisch, der anmutig die Schnute öffnet. Die Seite bietet eine rhombenförmige Öffnung mit Bäumchen und Balkonlandschaft. Das Wesen hat aber auch etwas Austernförmiges, nicht zuletzt dank der sanft gekrümmten Seitenteile, deren schimmernde Außenhaut aus Millionen weißer Keramikstückchen besteht und bei Windstille mit dem Wasser des Teichs um die Wette glitzert. Oder ist es ein gestrandeter Wal?" Jedenfalls hat es einen Helm auf.

Außerdem berichtet Iris Hanika über eine live übertragenes, literaturhistorisch aber unbedeutendes Dichten deutscher Dichter im Berliner Sony-Center. Und Felicitas von Lovenberg staunt über die anhaltende Jane-Austen-Mode in Großbritannien.

Besprochen werden ein Opernspektakel mit Schubert- und Schumann-Liedern bei der Ruhrtriennale, ein Auftritt der Jazzsängern Lizz Wright in Frankfurt, eine Ausstellung der Fotoagentur Ostkreuz in Berlin, Michael Thalheimers Inszenierung des "Faust II" am Deutschen Theater Berlin und Sachbücher, darunter Essays des französischen Kulturtheoretikers Rene Girard.

FR, 10.10.2005

In der Reihe "Mein Europa" erzählt Thomas Medicus von seinem zweiten Zuhause: Ein Dorf bei Drawsko in Polen. "Im Dorf gibt es noch drei weitere Häuser, in denen Deutsche leben. Herr und Frau U. aus Hamburg scheinen ihre ganze Rente in ihren üppig blühenden Garten zu stecken. Herr U. wurde vor dem Krieg in dieser Gegend geboren, flüchtete als Jugendlicher, jetzt ist er wieder da. Einer seiner Söhne verliebte sich in einer Diskothek im Nachbarort in eine Polin, die in Hamburg lebt und gerade in Hinterpommern zu Besuch war. Heute sind sie verheiratet, letzten Sommer wurden sie Eltern. Seit kurzem haben wir einen neuen Nachbarn. In einen Hof, der lange leer stand und zu verfallen begann, zog Roman mit seiner Frau ein. Er ist Pole, in Oberschlesien geboren, seit siebzehn Jahren lebt und arbeitet er in Hannover. In ein paar Jahren wird er pensioniert, dann er will er zurück."

Weiteres: Christoph Schröder war bei der Eröffnung des Literaturhauses in Frankfurt. Besprochen wird Michael Thalheimers Inszenierung von "Faust II" am Deutschen Theater in Berlin: "Man merkt, dass Thalheimer sich das abgefordert hat, nur von Eigenem zu erzählen. Und wenn da nichts ist außer Dürre, Desillusioniertheit, Eigenliebe und Kindlichkeit? Dann ist das eben so", schreibt Petra Kohse.

Berliner Zeitung, 10.10.2005

Recht skeptisch kommentiert Ulrich Seidler Michael Thalheimers Aufführung des "Faust II" am Deutschen Theater in Berlin. Die Handlung wurde auf 120 Minuten gekürzt und derart eingedampft, dass sie "auf der Stelle tritt". Seidler hat eher eine Zusammenfassung als eine Interpretation gesehen. "Es ist die Perspektive eines toten Kosmonauten. Einerseits soll der Zuschauer von weit oben auf die Welt blicken, andererseits vom Ende seines Lebens aus. So bleibt erstens alles klein und übersichtlich, und zweitens kennt man den letzten Kassenstand schon. Mit dem Blick hinunter und dem Blick zurück erkennt der Zuschauer die Welt und das Leben doppelt gesichert als nichtig."

SZ, 10.10.2005

Shakespeare ist bei arabischen Theatermachern überaus beliebt, berichtet der kuwaitisch-britische Dramatiker und Regisseur Sulayman Al-Bassam. "Shaikh Al-Zubair (Shayk-uzu-Beare), wie der Barde auf arabisch zärtlich genannt wird - Zubair ist eine kleine Stadt im Osten Basras -, ist für den radikalen arabischen Theatermacher ein wandelndes Instrumentarium der Auflehnung. Die thematischen und formalen Überschneidungen zwischen Shakespeares Kosmos und der heutigen arabischen Welt sind überwältigend. (...) In beiden Welten ist die Kraft der Sprache, der Poesie und des Erzählens durchdrungen von zauberischen, sich wandelnden Mächten - im Fall der arabischen Welt hat diese Macht sakrale Wurzeln, sie ist im heiligen Koran verankert. Kriege, Verschwörungen, vermummte Attentäter, Verbrechen, Unterdrückung, Fragen nach Königtum, Staat, nationaler und individueller Identität gehören zum Alltag der arabischen Welt."

Das von Santiago Calatrava in Valencia errichtete Opernhaus erinnert Reinhard J. Brembeck an einen "mykenischen Helm" mit Augenschlitzen und Nasenschutz. Innen allerdings fällt aber vor allem die "hässliche" Biederkeit auf. Susan Vahabzadeh unterhält sich mit Regisseur David Cronenberg über seinen Film "A History of Violence" und die Liebe zu Ferrari. Stefan Koldehoff meldet, dass der milliardenschwere Kunstsammler Steven Cohen sich wieder der klassischen Moderne zuwendet. Tim B. Müller protokolliert eine Münchner Tagung zur amerikanischen Außenpolitik und dem "Narzissmus der kleinen Unterschiede" zwischen EU und USA.

Besprochen werden Michael Thalheimers Version von Goethes "Faust II" am Deutschen Theater in Berlin, Hans Neuenfels' Kurzoperreihung "Schumann, Schubert und der Schnee" in Bochum, Felicitas Bruckes "verschenkte" deutsche Erstinszenierung von Kathrin Rögglas Textsammlung "Draußen tobt die Dunkelziffer" in München, ein Auftritt des Violoncellisten Gautier Capuçon bei den Münchner Philharmonikern, Jay Chandrasekhars Film "The Dukes of Hazard", und Bücher, darunter Tom Wolfes Roman "Ich bin Charlotte Simmons", Anat Feinbergs "Nachklänge" mit Gesprächen mit jüdischen Musikern in Deutschland nach 1945 sowie die von Christoph Gödde und Henri Lonitz herausgegebenen "Traumprotokolle" von Theodor W. Adorno (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).