Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2005. Die FR klärt die Europäer auf, dass ihre gesamte Kultur aus der Türkei und einigen angrenzenden Ländern stammt. In der Welt wundert sich Zafer Senocak über das Phänomen des deutschen Selbsthasses. Die NZZ begibt sich zu den Flüssen von Babylon in der Karibik. In der taz erklärt der weißrussische Philosophieprofessor Gennadij Gruschewoj, warum er auf Guerilla-Kommunikation setzt. In der SZ versichert Ian McEwan: Ozeanische Gefühle gibt's auch ohne Religion.

FR, 07.10.2005

Welche Kultur ist eigentlich gemeint, wenn vom "Kulturraum Europa" die Rede ist, der angeblich am Bosporus endet? In der Reihe "Mein Europa" erinnert Hilal Sezgin die Europäer daran, wem sie ihre Kultur zu verdanken haben. "Mit Stolz blickt Europa auf seine betonierten Städte voller wohlgenährter, alphabetisierter Bewohner - doch nichts von dem, worauf es stolz ist, ist europäischen Ursprungs. Wenn man von Obelixens Wildschweinfang absieht, hat Europa die wenigsten Dinge aus eigener Kraft geschafft. Städtebildung, Ackerbau und Zahl und Schrift, Gesetzgebung und jede Religion, die in Europa heute noch Bedeutung hat, entstanden im Vorderen Orient. Ob Christus Mensch, Gott oder beides sei, wurde im kleinasiatischen Nicäa verhandelt, aus dessen Nachbarschaft auch die meisten antiken Philosophen und der Dichter Homer vermutlich stammten, und England wurde von einem Mann aus Karthago missioniert."

Weitere Artikel: Regisseur Terry Gilliam erklärt im Interview, was er an den Brüdern Grimm liebt: "Sie erschrecken die Kinder wirklich, und es ist wichtig, dass Kinder sich fürchten. Kinder werden in die Welt gesetzt, um erschreckt zu werden!" Am 8. Oktober wird Wilhelm Genazinos erstes Theaterstück "Lieber Gott mach mich blind" in Darmstadt uraufgeführt. Im Interview spricht er über sein Stück und Schönheitsoperationen: "Sehen Sie sich Dagmar Berghoff an. Eine Katastrophe! Und das hat sie inzwischen selbst kapiert, diese arme Frau, dass sie ihr eigener Schnittmusterbogen geworden ist." In Times Mager kommentiert Harry Nutt den Ansturm von Flüchtlingen auf die Stadt Melilla.

Welt, 07.10.2005

Der Publizist Zafer Senocak wundert sich über das sehr deutsche Phänomen des deutschen Selbsthasses: "Das Verhältnis von manchen Deutschen zum eigenen Land - nicht zufällig sind gerade unter ihnen viele Stimmungs- und Meinungsmacher - erinnert eben auch an jene, die mehrere gescheiterte Ehen hinter sich haben und nun dem Phänomen der Liebe distanziert gegenüberstehen. Angst vor dem Scheitern und Sehnsucht nach dem unerreichten Glück bilden dabei ein komplexes Geflecht."

Weitere Artikel: Manuel Brug zweifelt die musikalischen Qualitäten des Dirigenten Renato Palumbos an, der gerade als Musikdirektor für die Deutsche Oper engagiert wurde. Uwe Schmitt berichtet über rassistische Äußerungen von Radiotalkmastern in den USA. Besprochen wird ein Konzert des Jazzpop-Quartett "Nylon", das sich auf Deutschland-Tournee befindet.

Auf der Forumsseite kritisiert der Politologe Uwe Wagschal die deutsche Entwicklungspolitik: "Eine Kopplung der Hilfe an Demokratiebemühungen und Reformleistung findet nicht statt. Die Verteilung der Milliardenbudgets anhand von Zielkriterien, die sich an 'Good Governance' und Marktwirtschaft orientieren, würde das bisherige Gießkannensystem verbessern."

Für die Magazinseite traf Uwe Schmitt den Slate-Redakteur und Autor David Plotz: Er hatte sich für ein Buch auf die Spur der Kinder begeben, die aus den Spermien einer berühmt-berüchtigen, 1980 vom US-Millionär Robert Graham gegründeten Nobelpreisträger-Samenbank hervorgegangen sind: "Die Spur der vermeintlichen Superbrain-Kids aufgenommen zu haben, ist das Verdienst von David Plotz. Dass er darüber zu ihrem Paten und Agenten wurde, dessen Herrschaftswissen Väter und Kinder zusammenführte, die nichts voneinander geahnt hatten, ist seine Bürde und sein Kreuz."

NZZ, 07.10.2005

Samuel Herzog war auf der achten Kunstbiennale von Lyon mit dem Titel "Experience de la duree" und spürte die angekündigte Dauer sowohl bei Ausstellungsobjekten zum Mitmachen (zum Beispiel Muschelhornspielen), als auch beim beim Betrachten auf und war vom riesigen Angebot beeindruckt: "In dem Film 'My birds . . . trash . . . the future . . .' von Paul Chan verlieren wir uns in den gezeichneten Weiten einer Wüste, wo ein ausgedörrter Baum zum Schauplatz eines psychedelischen Theaters wird. Kendell Geers fesselt uns in seiner kryptischen Installation mit satanischer Wucht, Tom Marioni mit Bier und Witz, Jun Nguyen-Hatsushiba mit Poesie, Saadane Afif mit der Melancholie von Gitarrenakkorden - und bei Yoko Ono ist es das Lächeln von John Lennon, das uns für Minuten hypnotisiert."

Frank Wittmann versucht in einem langen Artikel, die in Jamaika entstandene Rastafari-Kultur in Afrika zu entmystifizieren und das Geheimnis von Babylon zu lüften: "In der unterschiedlichen Verwendung der Afrika-Metapher zeigt sich der unwiderrufliche Bruch zwischen Afrika und der Karibik, der auf die Erfahrung von Sklaverei und Exil zurückzuführen ist. Während die Metapher als zentrales Element der jamaikanischen Identitätskonstruktion fungiert, durchschauen die westafrikanischen Rastas zumindest ansatzweise die für einmal positive Instrumentalisierung Afrikas als Projektionsfläche für Utopien."

Weitere Artikel: Joachim Güntner porträtiert anlässlich seines zweihundertsten Geburtstags den Brockhaus-Verlag und berichtet von der 21. Auflage des Lexikons, das "umfangreich wie nie zuvor" ist. Victor Conzemius schreibt über die Seligsprechung Bischofs Clemens August von Galen, und "rbl" meldet den Umzug des Frankfurter Literaturhauses in die rekonstruierte Stadtbibliothek.

Auf der Filmseite werden Sabine Gisigers Dokumentarfilm "Gambit" über den Chemie-Unfall Seveso und seine Folgen und Sally Potters "Yes" (hier) besprochen. Außerdem: Michael Wenk porträtiert "einen der einflussreichsten Protagonisten und Filmfunktionäre des Dritten Reichs", den Regisseur Wolfgang Liebeneiner, der dieses Jahr 100 Jahre alt geworden wäre und Marc Zitzmann berichtet von dem Umzug der Cinematheque francaise (mehr hier) in das ehemalige American Center im zwölften Pariser Arrondissement.

Auf der Medien- und Informatikseite stellt ras. eine Studie von Publicom und Infras vor, wonach sich das Publikum an Schleichwerbung im Fernsehen gar nicht stört. Sabine Pamperrien kommentiert die Aufregung über die polizeiliche Durchsuchung der Cicero-Redaktion, die als Verletzung der Pressefreiheit kritisiert worden war. "Die deutsche Presse muss sich die Frage gefallen lassen, ob in diesem Fall wirklich ihre Wächterrolle bedroht wird. Im Cicero-Artikel wurde eben nicht ein Weißwurst-Rezept verraten, sondern es wurden geheimdienstliche Ermittlungen gegen den Terrorismus torpediert."

Weiteres: Stefan Krempl erklärt, was genau die Fabber genannten 3D-Drucker sind und was sie können (Bits in Atome verwandeln) und wozu das gut ist. Und Manfred Weise kündigt eine "stark überarbeiteten Version 2.0" von Open Office an, die in den nächsten Tagen erscheinen soll.

FAZ, 07.10.2005

Im Aufmacher berichtet Jürg Altwegg, dass dem Centre mondial de la paix in Verdun wegen mangelnden Besucherinteresses, aber auch mangelnder Ausstattung mit Subventionen die Schließung droht. Auch die italienischen Bühnen sehen sich durch drastische Sparmaßnahmen bedroht, sekundiert Dirk Schümer. Jordan Mejias liest das neue Waffengesetz Floridas, welches das Schießen bei allen möglichen Eventualitäten zum guten Recht erklärt. Thomas Wagner stellt eine Kunstaktion des Frankfurter Museum für Moderne Kunst vor, das Ebay als neuesten Assoziationsraum für die Gegenwartskunst entdeckt hat. In seiner Kolume "Kunststücke" zeigt sich Eduard Beaucamp begeistert über die Renovierungen und die Präsentation der Kunst in der Sankt Petersburger Ermitage. Christian Schwägerl stellt einen Brief von 350 deutschen, zur Zeit in den USA arbeitenden Forschern an die Forschungsminister vor, in dem sie die Bedingungen für ihre Rückkehr nach Deutschland bekanntgeben.

Auf der Medienseite berichtet Olaf Sundermeyer, dass das polnische Qualitätsblatt Gazeta Wyborcza durch neue Boulevardgründungen des Springer-Verlags in Bedrängnis geraten ist. Und Stefan Niggemeier huldigt der weiblichen Medienmacht in Gestalt Mybrit Illners.

Auf der letzten Seite geht Dietmar Dath dem "suppigen, diffusen, stark übelriechenden Gerücht" nach, dass die amerikanische Regierung mittels neuester Technologien unsere Gehirne steuern will, das ihm am Ende doch behagt, weil er in den Schriften der marxistischen Klassiker ähnliche Theorien entdeckte. Jakob Hessing besucht eine Ausstellung in Jerusalem über das Exil jüdisch-deutscher Schriftsteller in der Nazizeit. Und Martin Kämpchen porträtiert die indische Tennisspielerin Sania Mirza.

Besprochen werden Trevor Nunns Inszenierung "Richards II." mit Kevin Spacey als König in London, Ereignisse des Warschauer Herbstes, der laut Max Nyffeler zu einem der "internationalen Brennpunkte der neuen Musik" geworden ist, eine Ausstellung über Schiller in Mannheim und Sachbücher, darunter eine Studie über die Salzburger Festspiele in der Nazizeit.

TAZ, 07.10.2005

Große Teile der Opposition in Weißrussland haben sich im Hinblick auf die Wahl 2006 auf einen Gegenkandidaten zum autoritären Präsidenten Alexander Lukaschenko geeinigt. Auf der Meinungsseite spricht Annette Jensen mit dem Minsker Philosophieprofessor Gennadij Gruschewoj, der auf Guerilla-Kommunikation vertraut. "Ich denke, vieles wird durch Mundpropaganda möglich sein. Mein Netzwerk der 'Kinder von Tschernobyl'-Stiftung wirkt zum Beispiel in verschiedenen Regionen im Land. Wenn ich meine Vertreter mit vollen Informationen über unseren Kandidaten dorthin schicke, dann kann allein ich mehrere zehntausend Leute in der Provinz informieren - nur ich persönlich. Wir haben nur diese Möglichkeit. Medien wie die Deutsche Welle oder Euro News werden eine sehr kleine Rolle spielen."

Im Kulturteil stellt Katrin Bettina Müller das "Projekt Migration" im Kölnischen Kunstverein vor. Verschiedene Künstler versuchen Geschichte aus der Perspektive der Migrationsbewegungen zu erzählen: "Das 'Projekt Migration greift ein Datum auf: Vor fünfzig Jahren wurde ein deutsch-italienisches Anwerbeabkommen unterzeichnet, dem viele weitere folgten. Zwanzig Jahre später ungefähr entstanden die ältesten Arbeiten, die dieser Spur folgen. Im Kölnischen Kunstverein etwa wird man von den Bewohnern eines Hauses in München empfangen, die Zelimir Zilnik 1975 filmte: Sie kommen einzeln und aufgeregt die Treppe herab, nennen ihren Namen, erzählen von ihrer Arbeit, in Deutsch und Italienisch, und erwähnen auch ihre Mieten. Der kurze Film ist einerseits ein freundliches Gruppenporträt, jeder hat seine Rolle in der Hand; andererseits ist er Dokument einer Immobilienspekulation, die sich mit Mietwucher, Überbelegung, Ghettoisierung und schließlich dem Abriss an den Gastarbeitern bediente."

Besprochen werden Thomas Vinterbergs Film "Dear Wendy" (mehr) und die neue CD von Element of Crime.

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 07.10.2005

Mit der Berufung von Renato Palumbo als künftiger Musikchef der Deutschen Oper ist die Berliner Orchesterszene für die nächsten Jahre ausmodelliert, meint Frederik Hanssen. "Mit dem Turnaround zur dolce vita an der Bismarckstraße sind jetzt alle Berliner Orchester für die Zukunft aufgestellt: Simon Rattle und die Philharmoniker machen schon mal vor, wie das Orchester des 21. Jahrhunderts aussieht und klingt, Daniel Barenboim und seine Staatskapelle haben als Lordsiegelbewahrer deutscher Klangtradition den ästhetischen Gegenpol besetzt. Eher barenboimseitig ist Marek Janowski zu finden, der sensible, nur der Kunst verpflichtete Partiturdeuter, der sein stilles Glück mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester gerade bis 2011 verlängert hat. Die Fraktion der Progressiven dagegen bekommt gleich doppelt Zuwachs durch Ingo Metzmacher, der 2007 die Nachfolge von Kent Nagano beim Deutschen Symphonie-Orchester antritt, sowie Lothar Zagrosek, der schon im Herbst 2006 Eliahu Inbal beim Berliner Sinfonie-Orchester am Gendarmenmarkt ersetzt."

SZ, 07.10.2005

Der Schriftsteller Ian McEwan spricht auf der Literaturseite mit Lothar Müller über seinen Roman "Saturday" und die Sympathie für dessen diesseitigen Protagonisten. "Freude, Ehrfurcht, Mitleid, ozeanische Gefühle, all das gibt es auch ohne Religion. Ich wollte in Henry Perowne den Reichtum der materialistischen Weltanschauung darstellen, auch ihre Wärme - dass am Materialismus nichts 'Kaltes' sein muss, wenn er sagt: Wir haben nun eine Schöpfungsgeschichte, die unendlich viel komplexer ist als die christliche oder islamische, und die überdies noch den Vorzug hat, wahr zu sein . . ."

Allein die Verhandlungen mit der Türkei bedeuten, dass die EU noch viel größer werden wird, meint Timothy Garton Ash. "Gleich ob die Türkei nun im kommenden Jahrzehnt Mitglied wird oder nicht, im Jahr 2015 wird die EU den Großteil des Gebiets umfassen, das historisch als das Territorium Europas angesehen wurde. Und sie wird 32 bis 37 Mitgliedsstaaten haben, schließlich könnten sich die Schweiz, Norwegen und Island ebenfalls entscheiden, beizutreten. Die Grenzfälle werden die Türkei und die Ukraine bleiben, während Russland eine privilegierte Partnerschaft mit der neuen Europäischen Union unterhalten wird." Hier der Originaltext aus dem Guardian.

Weitere Artikel: Andrian Kreye kolportiert, dass die Oboistin Blair Tindall ein Skandalbuch über die klassische Musikszene geschrieben hat. Peter Rumpf prophezeit, dass Stephan Braunfels' Spreeplatz beim Reichstag sowohl Einheimische als auch Touristen anziehen wird. Reinhard J. Brembeck meldet, dass der italienische Dirigent Renato Palumbo neuer Musikchef der Deutschen Oper in Berlin wird. Wolfgang Schreiber unterhält sich mit Hans Neuenfels über dessen Lieder-Oper "Schumann, Schubert und der Schnee", die heute abend in Bochum uraufgeführt wird. Sonja Zekri gibt an, dass das Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte ab dem 21. Oktober 40.000 von den Nationalsozialisten angefertigte Farbdias zerbombter Wand- und Deckengemälde ins Netz stellt. Cornelius Wüllenkemper fasst eine Tagung zum "Nostalgischen Blick auf die Zeit des Kommunismus" in Berlin zusammen. Susan Vahabzadeh weiß vom Ärger mit peinlichen Plakaten für Guy Ritchies Film "Revolver".

Besprochen werden eine Ausstellung mit französischer Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts aus deutschen Sammlungen mit Werken von Poussin, Lorrain, Watteau, Fragonard im Haus der Kunst in München, ein Konzert des Cellisten Daniel Müller-Schott und Pianisten Robert Kulek im Münchner Herkulessaal, Katarina Peters' filmische Dokumentation des Schlaganfalls ihres Mannes "Am seidenen Faden", Mark Colemans Geschichte der Tonreproduktion "Playback" und zwei weitere Bücher mit ungewöhnlichen Listen (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).