Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2005. In der Zeit trifft Robert Menasse einige deprimierende Sachfeststellungen zum Stand der deutschen Demokratie. Die taz ist erstaunt, wie übellaunig sich die Schriftsteller in diesem Wahlkampf zu Wort melden. In der FR fordert Axel Honneth von den Chefdenkern der Parteien einen mehrdimensionalen Gerechtigkeitsbegriff. Die FAZ empört sich über Bremens Praxis, Arbeitslose als Erzieher in die Kitas zu schicken. In der Berliner Zeitung spricht Christian Petzold über seinen Film "Gespenster" und nicht zu Ende gestorbene Menschen. Und in der NZZ schwärmt John Cale von putzigen Bach-Grooves.

Zeit, 15.09.2005

Die letzte Ausgabe vor der Wahl: Wie der Conferencier eines Schauerkabinetts führt der österreichische Schriftsteller Robert Menasse durch die Sonderlichkeiten und paradoxen Verknotungen der hiesigen Politik. Und egal ob Merkel oder Schröder: die Wahl, glaubt Menasse, haben die Bürger schon lange nicht mehr. "Den nationalen Parlamenten ist jede Macht entzogen, das übergeordnete supranationale EU-Parlament hingegen ist nie in demokratische Macht gesetzt worden. In diesem Verhältnis versickert seit Jahren die Demokratie. Die Bezeichnung des Parlaments als 'Quatschbude' war einmal eine faschistische Kampfansage gegen die aufgeklärte Demokratie. Heute ist sie eine deprimierende Sachfeststellung."

Thomas Assheuer kann im Programm der CDU weder ein konservatives Projekt noch ein Programm entdecken. Das ist gewollt, meint er. "Die Macht wandert aus der Politik aus, ihr Hoheitsgebiet schrumpft. Vor diesem Hintergrund ist es auf trostlose Weise konsequent, wenn die CDU ihre programmatischen Versprechen abrüstet und politische Perspektiven durch Machttechniken ('Durchregieren') ersetzt. Entsprechend drängt sie den Staat zum Rückzug aus der Gesellschaft, denn je mehr der Einzelne für sein Schicksal verantwortlich ist, desto weniger Verantwortung muss der Staat tragen."

In einer großen Reportage berichtet Bartholomäus Grill aus dem abergläubischen Afrika. Die allgegenwärtige Angst vor Geistern und Hexen gilt als entscheidendes Entwicklungshemmnis. Im Kongo etwa, schreibt Grill, "grassiert eine krankhafte Furcht vor hübschen kleinen Mädchen. Sie werden kamoke sukali genannt, Zuckerpüppchen, und verwandeln sich angeblich in Femmes fatales, um ihre Väter zu verführen und ihnen die Hoden abzureißen. Man erzählt sich auch, dass verwunschene Frauen kleine Hexen in Gestalt von Zitteraalen gebären oder dass Monsterföten aus ihrem Schoß kriechen. Häufig werden Aids-Waisen, Streetkids oder Kindersoldaten der Schwarzen Magie bezichtigt."

Weiteres: In der Reihe "Die Medien Republik" klagt Ulrich Stock am Beispiel des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags über die Kritiklosigkeit, Boulevardisierung und den allgemeinen Niedergang der regionalen Presse. Der Soziologe Richard Sennett spricht mit Peter Kümmel über den Hurrikan Katrina und die sehr dünne zivile Decke über den sozialen Gräben der USA, die der Wirbelsturm weggeweht hat. Zudem imaginiert Kümmel, wie der Würger von Boston und andere Dunkelmänner nun im gar schröcklichen Professor aus Heidelberg ihren Meister gefunden haben. Trotz der wenigen interessanten Filme in diesem Jahr steht für Katja Nicodemus nach wie vor fest. "Man muss nach Venedig fahren." In seiner Kolumne stellt Finis die einleuchtende Gleichung "Politik ist Erotik ist Kunst!" auf.

Christof Siemes wohnt der Premiere des Films "Unkenrufe" in Danzig bei, der auf Günter Grass' gleichnamiger Erzählung basiert. Wolfram Goertz tourt durch die RuhrTriennale, auf der Suche nach der Zukunft des Musiktheaters.

Für den Aufmacher des Literaturteils reist Konrad Heidkamp zur Kinderbuchautorin Cornelia Funke nach Los Angeles, die derzeit in den USA durchstartet. Besprochen werden Christian Petzolds "großartiger" Film "Gespenster", Victor Flemings Drama "Vom Winde verweht" in der Filmklassikerreihe, John von Düffels und Jörg Adolphs "grandiose" Kombination aus Roman ("Houwelandt") und Dokumentarfilm über die Entstehung eben jenes Romans, Cecilia Bartolis Darbietungen diverser Opern in ihrem Album "opera proibita" sowie Uwe Timms Erinnerung an Benno Ohnesorg "Der Freund und der Fremde". Lesen Sie hier einen Auszug in unserem Vorgeblättert (mehr Besprechungen in der Bücherschau des Tages).

TAZ, 15.09.2005

Trotz einiger Wortgefechte in einschlägigen Feuilletons spielen Schriftsteller nach Ansicht von Dirk Knipphals im Wahlkampf keine Rolle. Dennoch sieht er parallel zum politischen Kampfgetöse eine kleine und merkwürdig beleidigt agierende Grundsatzdebatte zur Frage mäandern, ob Schriftsteller überhaupt beim Wahlkampf mittun sollten. "Opportunisten - unkritische Regierungsfreunde - Utopisten im Elfenbeinturm - verblödete Realpolitiker - Drückeberger: Die Rollen sind sofort festgelegt, auch wenn keinem seine Kostüme so richtig passen wollen. Wie in Textbausteinen liegen die Versatzstücke bereit, die man sich gegenseitig an den Kopf werfen kann. Mag das tun, wer will; es macht wenig Spaß, da mitzumischen."

Weiteres: Sven von Reden berichtet aus dem französischen Deauville vom 31. American Film Festival, das dem Regisseur und legendären Drehbuchautor Robert Towne eine Hommage gewidmet hat. Gerrit Bartels kommentiert den Verkauf der FAZ-Buchverlage an Random House recht gelassen. Die Dramatikerin Margareth Obexer setzt die Reihe "Kino der Kindheit" mit Pubertätsgeschichten aus dem Astra-Kino in Brixen fort. Besprochen beziehungsweise verrissen wird Hermine Huntgeburths Film "Die weiße Massai".

Und Tom.

Berliner Zeitung, 15.09.2005

Der nächste Film wird ein Horrorfilm, erfährt Anke Westphal von Regisseur Christian Petzold, dessen "Gespenster" gerade in den Kinos angelaufen sind. Petzold redet über die unsichtbare Gewalt in seinem Werk und echte Gespenster. "Die Idee zum Film kam mir ja, als ich in Frankreich Aushänge mit Fotosimulationen lange vermisster Kinder sah: Der Computer errechnete ihr gegenwärtiges Aussehen, verlieh den Gesichtern aber keinen Ausdruck. Das machte sie zu Gespenstern. Es sind nicht zu Ende gestorbene Menschen. Denn es gibt kein Ende für sie; ihre Körper wurden nie gefunden; vermutlich wurden sie ermordet und verscharrt. Aber sie leben in der mathematischen Berechnung weiter."

FAZ, 15.09.2005

Sandra Kegel empört sich über die nun in Bremen geübte Praxis, Arbeitslose als Erziehungspersonal in die Kitas zu schicken. Sie findet es allerdings auch typisch: "Die höchstqualifizierten Universitätslehrer werden von allen Pflichten zum Umgang mit jungen Leuten entlastet und müssen sich noch nicht einmal mit Habilitanden beschäftigen. Insofern muss man das Bremer Modell, wonach für die Kleinsten die Schlechtestqualifizierten gut genug sind, wenigstens konsequent nennen. Ihm liegt aber ein hierzulande gängiges Missverständnis zugrunde. Die Wahrheit ist: Je jünger die Kinder sind, desto komplexer sind die Lernprozesse und desto besser müssen die Erzieher ausgebildet sein. In Deutschland wird das Gegenteil praktiziert: Je jünger die Kinder sind, desto niedriger ist das Niveau und oft auch die Qualität der Ausbildung."

Weitere Artikel: Gina Thomas erklärt nach dem glorreichen Cricket-Sieg der Engländer über die Australier, warum Cricket so eminent wichtig ist. Heute entrümpelt Ralf Stegner, der Innenminister von Schleswig-Holstein, "Mini-Verwaltungen auf Amtsebene". Glossiert wird die geplante CSU-Spam-Kampagne, mit der Generalsekretär Markus Söder Stimmen fangen will. Über das höchst ambivalente Verhältnis der USA zu China informiert Jordan Meijas. Christian Geyer porträtiert Heinrich von Pierer, der ganz die Seiten zu wechseln scheint. Von einem seltsamen Streit um das Recht am Werk Wenedikt Jerofejews (mehr) berichtet Kerstin Holm. Jürgen Kesting gratuliert der "kolossalen Nachtigall", der Sopranistin Jessye Norman, zum sechzigsten Geburtstag.

Die Filmseite ist im Wesentlichen - und auch sehr fotoreich - der Garbo gewidmet, zum hundertsten Geburtstag. Daneben noch ein kurzer Blick auf jüngere, noch in New Orleans gedrehte Filme. Auf der Medienseite findet sich ein großes Interview mit Kai Diekmann, dem Chefredakteur von Deutschlands größter "Volkszeitung" (Diekmann), der Bild. Seine einzige Angst ist angeblich, "dass uns Zeitungen wie FAZ oder SZ unseren Daniel Küblböck, unseren Dieter Bohlen oder unsere Uschi Glas wegnehmen".

Besprochen wird Hermine Huntgeburths Bestseller-Verfilmung "Die weiße Massai" ("Kolonialismus light"), eine Ausstellung mit finnischer Malerei der Moderne im Wiener Belvedere und ein Konzert der zwölf Berliner Cellisten mit Markus Stockhausen. Rezensiert wird auch Toni Tholens literaturwissenschaftliche Studie "Verlust der Nähe" über Männlichkeit in der Literatur (mehr in der Bücherschau des Tages).

FR, 15.09.2005

"Wahrscheinlich war kein Wahlkampf in den letzten 20 Jahren untergründig so sehr von der sozialen Frage beherrscht wie der jetzt gerade zu Ende gehende", sagt Axel Honneth, Philosoph und Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, in einem Gespräch mit Harry Nutt. "Das Problem ist nur, dass keine der Parteien schon ein Konzept von sozialer Gerechtigkeit besitzt, das komplex, vielschichtig genug wäre, um die verschiedenen, von den unterschiedlichen Fragen mitberührten Aspekte der Chancengleichheit, der Angewiesenheit auf Arbeit, der Generationenbenachteiligung und der ökologischen Rücksichtnahme in ein vernünftiges und überblickbares Verhältnis zu bringen - fast alle Parteien operieren noch mit einem eindimensionalen Gerechtigkeitsbegriff, in dem etwa allein auf Leistung, auf Chancengleichheit oder auf Bedürftigkeit gesetzt wird, anstatt den Schritt zu einem mehrdimensionalen Gerechtigkeitsbegriff zu vollziehen, der für die Zukunft unverzichtbar sein wird. Hier ist noch viel mehr intellektuelle Arbeit zu leisten, als sich das die Chefdenker der verschiedenen Parteien heute ausmalen können."

Weiteres: Thomas Medicus hat im Rahmen des deutsch-polnischen Jahres mit einer Gruppe von Journalisten Oberschlesien bereist und beschreibt, wie sich die Region vor dem Hintergrund ihrer komplizierten Geschichte darum bemüht, wieder das multiethnische Grenzland zu werden, das es immer war, aber nie wirklich sein durfte. Florian Malzacher hat sich in Santiago de Chile auf dem Festival Europäischer Gegenwartsdramatik umgesehen und erklärt, warum deutsche Dramatik und chilenisches Theater sehr gut zusammen passen. In der Kolumne Times Mager befasst sich Ina Hartwig mit der Frage, worin das "Kerngeschäft des Zeitungsmachens" eigentlich besteht, auf das sich die FAZ nach dem Verkauf ihrer Buchverlage an Random House jetzt konzentrieren will.

In der Beilage FR-Plus schreibt Sebastian Moll eine Reportage aus New Orleans, die vom Nihilismus im trostlosesten Ghetto der USA erzählt. Außerdem gibt es ein von Peter Michalzik moderiertes Gespräch zwischen den Brüdern Lothar und Friedrich Schirmer - Verleger der eine und Theaterintendant der andere - über Kriege im Kinderzimmer und die Frage, wie die Kultur in ihr Leben kam.

Besprochen werden Christian Petzolds verstörendes Großstadtmärchen "Gespenster", Alexandra Sells dokumentarischer Filmessay "Durchfahrtsland", Hermine Huntgeburts Beststellerverfilmung "Die weiße Massai", Christopher Buchholz Film über seinen Vater "Horst Buchholz - Mein Papa" und Renzo Pianos neues Kaufhaus in Köln.

NZZ, 15.09.2005

Im Interview mit Hanspeter Künzler erzählt John Cale von seiner Musik, der Unfähigkeit, aus Fehlern zu lernen, und von der Entstehung seines neuen Albums "Black Acetate": "Herb und ich stampften ein paar nette Rocknummern aus dem Boden. Aber das klang alles immer noch zu sehr nach 'Hobo'. Interessant wurde es erst, als ich auf dem Keyboard mit Drum-Samples zu experimentieren begann. Statt typische Beats spielte ich Motive, zum Beispiel Bach-Motive. So entstanden putzige Grooves, und plötzlich lief es wie verrückt."

Weiteres: Sieglinde Geisel berichtet von einer "ausgesprochen anregenden und informativen" Berliner Tagung, die sich mit der Türkei als Modell einer islamischen Demokratie beschäftigte. Einig war man sich offenbar in der Prognose, dass sich eine von der EU abgewiesene Türkei der arabischen Welt zuwenden und 'islamischer' werden würde. Besprochen werden eine Schau der Architektin Zaha Hadid im Architekturmuseum Basel und Bücher, darunter Kenzaburo Oes neuer Roman "Tagame. Berlin - Tokyo" (hier eine Leseprobe) und zwei Bände zu Ruanda (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 15.09.2005

Wer aufholt ist immer spannend, weiß Lothar Müller vom Sport und beklatscht Gerhard Schröders paradoxe "Doppelbewirtschaftung von Kanzlerbonus und Herausfordererbonus". Ijoma Mangold zeichnet ein liebevoll-schrulliges Porträt von Walter Kempowski, der auf der Corine-Gala für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Christine Dössel porträtiert den Schauspieler und Fotokünstler Stefan Hunstein. Alexander Menden stellt den britischen Künstler Marc Quinns (mehr hier) und seine umstrittene Skulptur "Alison Lapper schwanger" vor, die heute am Trafalgar Square in London enthüllt wird. Jens Bisky befasst sich mit diversen Aufgeregtheiten in der Kulturpolitik rund um die ominösen Streichlisten des Finanzministers. Thomas Steinfeld macht Werbung für Band zwei der SZ-Kinderbuchklassiker, Astrid Lindgrens "Kalle Blomquist".

Zum Kinostart seines neuen Films "Gespenster" hat sich Christian Petzold mit Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler über den gespenstisch leeren Potsdamer Platz und Filme ohne Plot unterhalten. "Ich möchte die Welt nach dem Plot erzählen." Rainer Gansera berichtet aus Montreal, wo sich zwei Filmfestivals (nämlich dieses und dieses) beinahe gleichzeitig und bis aufs Messer um die Aufmerksamkeit "des aufgeschlossensten und neugierigsten Kinopublikums Nordamerikas" streiten. Im Übrigen verkündet Susan Vahabzadeh angesichts des immensen Erfolgs von Luc Jacquets Film "Die Reise der Pinguine": "Der Dokumentarfilmboom geht weiter!"

Besprochen werden die große Franz-Marc-Schau im Münchner Lenbachhaus, eine Ausstellung im Muzeum Architektury über die "Jahrhunderthalle" des Bauhaus-Architekten Max Berg und andere Heroen einer heute vergessenen Breslauer Moderne, Kevin Rodney Sullivans Remake von Stanley Kramers 'geradezu legendärem Film' "Rat mal, wer zum Essen kommt" "Guess Who?" (das Susan Vahabzadeh eine Spur zu niedlich geraten ist), Cyril Tuschis deutsch-marrokkanisches Roadmovie "SommerHundeSöhne" und Bücher, darunter Uwe Timms Erzählung über Benno Ohnesorg "Der Freund und der Fremde" (hier ein Auszug, mehr Besprechungen, ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).