Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2005. In der SZ graut es Dan Diner vor der unheiligen Allianz zwischen orientalischer Vormoderne und westlicher Postmoderne. In der Berliner Zeitung verteidigt Kenzaburo Oe die japanische Verfassung gegen ihre bellizistischen Gegner. Die FAZ erlebt am Geiseltalsee eine industrielle Entwicklung von revolutionärem Ausmaß. Die NZZ sorgt sich um die Zukunft ägyptischer Jugendlicher. Die FR tummelt sich auf Wahlkampfveranstaltungen in Brandenburg. Der Goldene Löwe für Ang Lees Western-Melodram "Brokeback Mountain" wird im Allgemeinen begrüßt.

Berliner Zeitung, 12.09.2005

Der japanische Literatur-Nobelpreisträger Kenzaburo Oe stellt beim Literaturfestival in Berlin seinen neuen Roman "Tagame. Berlin - Tokyo" (Leseprobe) vor. Im Interview äußert er sich jedoch vor allem zu Koizumis Wiederwahl und zu seinem eigenen politischen Engagement: "Das politische System Japans wird sich nicht verändern. Die jetzige Regierungspartei unter Koizumi hat haushoch gewonnen. Aber es entsteht etwas Neues. Seit einem Jahr führe ich eine politische Kampagne mit neuen Japanern zusammen, um die jetzige Verfassung zu schützen. Es gibt ja innerhalb der Regierungspartei und dem konservativen Lager eine Bewegung, die japanische Verfassung zu verändern. Das hat es in der japanischen Geschichte nach der Kapitulation noch nicht gegeben."

SZ, 12.09.2005

Dan Diner (mehr), Direktor des Leipziger Simon Dubnow Instituts für jüdische Geschichte und Kultur, beschreibt in einem Gespräch mit Franziska Augstein, wie man mit Marx den blinden Fleck der westlichen Intellektuellen gegenüber den islamischen Gesellschaften überwinden kann. "Was mich zunehmend erbost, seitdem Edward Said sein leider sehr einflussreiches Buch 'Orientalismus' publiziert hat: Da ist eine unheilige Allianz zustande gekommen zwischen vormodernen Verhältnissen im Vorderen Orient und den postmodernen Interpretationen im Westen, ein Bündnis das sozusagen die Menschen der Region um die Gegenwart bringt - und damit um die Moderne. Gegen diese kulturalistische Aufladung wende ich mich. Und da ist Marx immer noch hilfreich. Das Denken des 19. Jahrhunderts, Marx' Denken, kann man sehr gut auf eine Gesellschaft anwenden, die nicht einmal so weit ist wie das 19. Jahrhundert."

Sonja Zekri registriert eine wachsende Entfremdung zwischen Deutschen und deutschen Ausländern. "Inzwischen sind Muslime und Osteuropäer, Türken und Polen, Inder und Vietnamesen gleichermaßen suspekt. Inzwischen aber - und das ist das Neue - legen viele der 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland gar keinen Wert mehr darauf, geliebt zu werden - und auch diese Selbstisolation hat ihre Wurzeln in einem härter werdenden Verteilungskampf, in ökonomischer Frustration. Gewiss, türkische Filmemacher gewinnen Preise auf Festivals, Fußballer aus Einwandererfamilien erobern die Bundesliga. Aber jeder vierte Ausländer in Deutschland lebt unterhalb der Armutsgrenze (vor sieben Jahren war es jeder fünfte), zwanzig Prozent sind arbeitslos, und unter diesen Arbeitslosen haben fast zwei Drittel keine Ausbildung. Prosperierende Einwanderungsgesellschaften verdanken ihren Erfolg dem Umstand, dass sie Migranten den Aufstieg ermöglichen. Deutschland aber, ein blühender Garten der Bürokratie, blockiert selbst Inländer."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh nickt die Sieger von Venedig ab: Die Löwen für Ang Lees "Brokeback Mountain" und Clooneys McCarthy-Drama "Good Night, and Good Luck" überraschen sie nicht, das nächste Mal will sie die Besten aber nicht gleich am Anfang verpulvert sehen und danach nur noch "einen italienischen Film nach dem anderen". Jacques Chirac hat schon in seiner wirtschaftsgeographischen Diplomarbeit von 1954 den Standort von New Orleans als ungeeignet bezeichnet, kolportiert Johannes Willms. Jürgen Schmieder beschreibt die professionellen Computersportler, die er bei der deutschen Endausscheidung für die World Cyber Games in Singapur beobachtet hat. Bei einem Vulkanausbruch, die Attraktion der restaurierten Felseninsel "Stein" im Wörlitzer Park, realisiert Gottfried Knapp, wie die Deutschen über Italien zu sich selbst gefunden haben. In Mittel- und Osteuropa gilt Independent-Musik noch als gutes Nischengeschäft, erfährt Ingo Petz auf einem Treffen von unabhängigen Musikproduzenten aus 15 Ländern in Dresden. Der SZ-Wahlbeobachter Alfred Dorfer betrachtet die Politik als Theaterbetrieb.

Auf der Medienseite porträtiert Senta Krasser den umtriebigen Kanzlerimitator Elmar Brandt, der jetzt schon Merkels Ehemann einstudiert.

Besprochen werden die Uraufführung der neuen Oper "Waiting for the Barbarians" des amerikanischen Komponisten Philip Glass im Erfurter Opernhaus ("Eine große zweieinhalbstündige Predigt über den Umgang mit dem Fremden und über die Ignoranz einer imperialistischen Großmacht", resümiert Jörg Königsdorf), Nicolai Sykoschs lebhaft aufgenommenes Andersen-Potpourri für Kinder in Bochum bei der Ruhr-Triennale, die Ausstellung "Archiv und Erzählung" mit Filmen und Fotos von John Stezaker und T. J. Wilcox in München, das Fesitval "Klangspuren" für zeitgenössische Musik im österreichischen Schwaz, Catherine Hardwickes "furioser" Skaterfilm "Lords of Dogtown", John Hustons Streifen "Gangster in Key Largo" von 1948, und Bücher, darunter Will Eisners "beklemmende" Graphic-Novel über die Weisen von Zion, eine Darstellung der Lesekultur im 18. Jahrhundert sowie Joachim Helfers Erzählungen "Nicht zu zweit" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 12.09.2005

Moritz Behrendt und Christian Meier betrachten die Situation arabischer Jugendlicher. Besonders dramatisch scheint sie in Ägypten: "Wie im gesamten Nahen Osten ist dort seit einigen Jahrzehnten das Durchschnittsalter massiv gesunken: Jeder zweite Ägypter ist mittlerweile unter 20 Jahre alt, eine Woge junger Leute in heiratsfähigem Alter rollt auf das Land zu, dessen Einwohnerzahl alle neun Monate um eine Million zunimmt... Klar scheint, dass der politische und gesellschaftliche Stillstand immer mehr Jugendliche dazu bewegt, andere Wege der Partizipation zu suchen - islamische zumal. Je nachdem, welche Messlatte man anlegt, erscheint die ägyptische Jugend damit stark politisiert - oder sehr unpolitisch. Ein Student charakterisiert seine Generation so: 'Die meisten Jugendlichen wollen doch nur einen guten Job, ein anderes Ziel haben sie nicht. Sie sitzen herum und wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen.'"

Hoo Nam Seelmann zeichnet die neueren Entwicklungen auf Koreas offenbar recht dynamischen Buchmarkt nach und füllt auch gleich eine Bildungslücke: Gutenberg hat gar nicht als Erster den Buchdruck erfunden: "Die Koreaner haben nachgewiesen, dass man in Korea schon im Jahr 1234 mit beweglichen Metalllettern Bücher hergestellt hatte... Das älteste mit Metalllettern gedruckte Schriftstück ist denn auch in Korea gefunden worden, nämlich die 'Jikji' genannte Sammlung von Predigten buddhistischer Weiser und Zen-Meister, hergestellt 1377 im Tempel Heongdeuksa."

Weiteres: Insgesamt zufrieden resümiert Marli Feldvoss das zu Ende gegangene Filmfest von Venedig. Nur die italienischen Beiträge sorgten ihrer Meinung nach für beträchtliche Niveauabsenkung. Kerstin Stremmel besichtigt das neueröffnete Max-Ernst-Museum in Brühl. Peter Hagmann berichtet von der Lucerne Festival Academy mit Pierre Boulez und 125 Nachwuchsmusikern aus aller Welt. "zz." meldet, dass Lukas Bärfuss' Stück "Der Bus" von Theater heute zum Stück des Jahres gewählt wurde. Besprochen wird das Abschlusskonzert des Lucerne Festival.

FR, 12.09.2005

Harry Nutt hat sich in den Osten begeben und in Brandenburg Wahlkampfveranstaltungen besucht. Spürbar, aber wenig thematisiert scheint ihm derzeit der Rechtsradikalismus: "Der deutsche Osten ist Projektionsfläche. Mal sehen politische Akteure und Kommentatoren die braune Gefahr bedrohlich wachsen, mal kehrt das Verdrängte der kommunistischen Vergangenheit dämonisch wieder, wie es Innenminister Jörg Schönbohm kürzlich in seinen verunglückten Äußerungen zu einem Fall von mehrfacher Kindstötung bei Frankfurt an der Oder insinuierte."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte zeigt sich glücklich mit dem Goldenen Löwen für Ang Lees "Brokeback Mountain" - denn damit hat für ihn "das einzige Meisterwerk" des Wettbewerbs gewonnen. Skandalös scheint ihm allerdings die Reihe mit den chinesischen Wiederentdeckungen, da diese in katastrophaler Qualität "restauriert" und nur digital gezeigt wurden. Christian Thomas informiert in "times mager" über die neuesten Neuigkeiten vom Planeten Saturn und seinen Monden.

Besprochen werden unter anderem die fünfte Wiederaufführung von Alfred Kirchners "La Boheme"-Inszenierung an der Opfer Frankfurt, eine Inszenierung von "A Midsummer Night's Dream" am English Theatre Frankfurt und ein Tanzabend mit Abou Lagraa.

TAZ, 12.09.2005

Der Goldene Löwe für Ang Lees Western-Melodram "Brokeback Mountain" geht für Cristina Nord in Ordnung (hier die anderen Preisträger), die zunehmend nationalistische Kulturpolitik und die daraus resultierende Flut an mittelmäßigen italienischen Filmen in Venedig aber auf die Nerven. "Offenkundig ist das Auswahlteam dazu verpflichtet, eine gewisse Mindestzahl einheimischer Produktionen in den Wettbewerb aufzunehmen. Dessen Qualität leidet unter Filmen wie Roberto Faenzas 'I giorni dell'abbandono' ('Tage der Verlassenheit') oder Cristina Comencinis 'La bestia nel cuore' ('Die Bestie im Herzen'). Denn auf der Höhe der Zeit sind diese Filme nicht, eher handelt es sich um TV-kompatible Werke, die der Intelligenz des Zuschauers misstrauen, indem sie jede Regung ihrer Protagonisten fünfmal erklären."

Weiteres: Schriftsteller müssen die Welt nicht erklären, betont Anne Kraume, nachdem sie auf dem Literaturfestival in Berlin erlebt hat, wie hartnäckig Ismail Kadare und Philip Jeyaretnam aufgefordert wurden, die Gegenwart zu interpretieren. In der zweiten taz stellt Jony Eisenberg fest, dass der Tod der NPD-Kandidatin in Dresden keine "umfassende" Nachwahl erfordert. Jan Feddersen erhascht eine Audienz bei der nun machtlosen Heide Simonis und findet eine "attraktive Frau" mit "johannisbeerroten" Zehennägeln vor, deren Mann "exzellenten" Kaffe serviert.

"Kirchhof - Symphonie des Grauens" titelt die taz süffisant und lässt dazu Max Schreck aus Friedrich Wilhelm Murnaus Klassiker "Nosferatu" dämonisch dreinblicken. Dazu beschreibt Ralph Bollmann, wie sich Merkel von ihrem Finanzexperten distanziert, während Ulrike Winkelmann den nun eigenen FDP-Kandidaten Hermann Otto Solms präsentiert.

Im Medienteil stellt Silke Burmester den Viacom-Ableger und neuen Kindersender Nick vor, der Marktführer Super RTL verdrängen will. Besprochen wird Shinji Aramakis Trickfilm "Appelseed".

Und Tom.

FAZ, 12.09.2005

In die Zukunft blickend ist Michael Jeismann am Geiseltalsee gelandet, nahe Leipzig. Hier befindet sich eine der größten Solaranlagen Europas. Erst staunt er: "Man mag gar nicht glauben, dass hier etwas installiert ist, das eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft unserer Energie sein könnte." Jedoch: "Es ist eine Industriealisierung ganz neuer Art, ähnlich revolutionär wie die Elektrotechnik und die chemische Industrie im späten neunzehnten Jahrhundert."

Weitere Artikel: Michael Althen resümiert die Preise von Venedig und räumt, von Ang Lees Siegerfilm "Brokeback Mountain" nicht recht begeistert, immerhin ein, dass es "nicht immer gegen einen Film spricht, wenn sich eine Jury auf ihn einigen kann." In der Reihe mit Erinnerungen schreibt Heinz Berggruen heute über das legendäre "Cafe de Flore" in Paris. Paul Ingendaay hat das Grab Henry Fieldings in Lissabon besucht und meditiert über die Vergänglichkeit des Ruhms. Freddy Langer gratuliert dem Fotografen Lewis Baltz zum Sechzigsten. Wahlkampfbeobachtungen gibt es diesmal von der Linkspartei, die in Kassel eine "Phalanx junger Frauen" aufbot.

In einer neuen Serie mit dem leicht apokalyptischen Titel "Deutscher Geist wandert aus" geht es in der ersten Folge um den "Zielort Schweiz". Jordan Mejias vermeldet, dass der Schriftsteller Philip Roth als erst dritter lebender Autor in die "Library of America" aufgenommen wurde.Vorgestellt wird der Charakterdarsteller Joshua Jackson. Eberhard Rathgeb war dabei, als Andre Heller sein neues Projekt "Afrika! Afrika!" in Marrakesch vorstellte.

Besprochen werden eine Inszenierung von Johann Christian Bachs "Lucio Silla" in Winterthur, Wes Cravens neuer Film "Red Eye" und eine Inszenierung von Nuran David Calis' "Dogland" in Bielefeld.

Rezensionen gibt es zu neuen Romanen von Ruth Schweikert und Jakob Hessing und Sachbüchern, darunter als "Sachbuch des Jahres" Udo di Fabios "kulturelles Manifest für Deutschland" mit dem Titel "Die Kultur der Freiheit" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).