Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.07.2005. Harry Potter 6 ist raus. Die deutschen Feuiletons haben in Windeseile gelesen und kommen zu zwiespältigen Eindrücken: Ist HP 6 nur ein Prolog zum finalen HP 7? Schafft es J.K. Rowling, die Fäden zusammenzuhalten? Die taz fragt anlässlich von Wolfgang Kraushaars Buch über den Bombenanschlag auf die jüdische Gemeinde in Berlin im Jahr 1969: Wie antisemtisch war die deutsche Linke?

TAZ, 18.07.2005

Wolfgang Kraushaar verschweigt in seinen Enthüllungen über die "Bombe im Jüdischen Gemeindehaus" den offenen Antisemitismus der Linken, kritisiert Martin Kloke, Politikwissenschaftler und Fachmann für das Israelbild der Linken (hier ein Vortrag Klokes zum Thema). "Er reduziert seine Darstellung im Wesentlichen auf den auch im Kommunen-Alltag offen judenfeindlich agierenden Dieter Kunzelmann. Hier der bodenlose Schurke Kunzelmann und sein 'Schuldabwehrantisemitismus' samt mutmaßlichen arabischen Komplizen - dort jene verführten Antizionisten wie Albert Fichter und andere tragische Gestalten, degradiert zu kiffenden Nebenfiguren. Fichter selbst führt seine antijüdische Bombentat auf eine 'Psychostresssituation' zurück, tiefenpsychologisch aber auch auf die angeblich diskriminierende Behandlung durch einen 'österreichischen Juden' im israelischen Kibbuz - er wähnt sich als Opfer einer jüdischen Bespitzelungsaktion. Peinliche Selbstentlastungsversuche dieser Art kommentiert Kraushaar nicht."

Weiteres: Marx is back. Sebastian Moll registriert in den USA eine wachsende Kritik am Kapitalismus, die allerdings noch auf einen recht kleinen Teil der linksintellektuellen Elite beschränkt ist. In der zweiten taz erfährt Kai Biermann von einem Risikoforscher, wie der umgekehrte Lottoeffekt dafür sorgt, dass alle sich vor Terroristen fürchten, obwohl das Leben in Mitteleuropa noch nie so sicher war wie heute. Florian Harms sieht das Internet als potentes Propagandamittel der Islamisten. Jony Eisenberg applaudiert Otto Schily für dessen Auftritt vor dem Visa-Untersuchungausschuss. Und auf der Medienseite stellt Patrick Bauer die deutsche Ausgabe des Vice-Magazins vor und freut sich schon auf die politisch unkorrekten Artikel.

Besprochen werden Jörg Herolds Installation "Wolfsburger Skizzen, Reisebeschreibungen eines Dokumentararchäologen" in der Städtischen Galerie Wolfsburg sowie Bernd Lichtenbergs Prosadebüt, der Erzählband "Eine von vielen Möglichkeiten, dem Tiger ins Auge zu sehen".

Schließlich Tom.

FAZ, 18.07.2005

Mit "Harry Potter 6" ist der vorletzte Band der Serie erschienen, und je erwachsener ihr Held wird, desto heikler wird das gesamte Unterfangen, wenn man Felicitas von Lovenberg glauben will. "Teil sechs .. wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Zum Teil liegt es daran, dass 'Harry Potter und der Halbblut-Prinz' im Gesamtzusammenhang die so schwierige wie undankbare Aufgabe zukommt, all das, was bisher geschah, zusammenzufassen und zugleich das Fundament für den siebten und letzten Band zu bereiten. Doch nachdem schon Teil fünf, 'Harry Potter und der Orden des Phönix', mehr der Ankündigung des eigentlichen Kampfes gegen das von Lord Voldemort personifizierte Böse diente als dem Vorantreiben der Handlung, tritt dieser Band nun regelrecht auf der Stelle."

Weitere Artikel: Frank Zöllner untersucht die per Röntgen-Verfahren entdeckte Vorzeichnung zu Leonardo da Vincis Felsgrottenmadonna, die stark vom bekannten Gemälde abweicht, entdeckt aber keine Anzeichen für ein Zutreffen der Verschwörungstheorien von Dan Brown. In der Leitglosse legt Patrick Bahners noch einmal dar, was alles geschah, bevor die Länder Bayern und NRW erklärten, nun vorerst bei der ehemaligen Rechtschreibung zu bleiben. Dieter Bartetzko schreibt über die Aufnahme des Limes ins Weltkulturerbe. Gerhard R. Koch gratuliert dem Wiener Staatsoperndirektor Ioan Holender zum Siebzigsten. Manfred Schneckenburger, Leiter der Documneta 6 und 8, schreibt zum Tod des Kunsthistorikers und Präsidenten der Berliner Universität der Künste, Lothar Romain.

Auf der Medienseite freut sich der Poptheoretiker Christian Kortmann über den Misserfolg der Shows über Schönheitsoperationen, also der vorletzten von den Privatsendern durchs Dorf gejagten Sau. Jordan Mejias berichtet über die Fälle von Time- und New York Times-Reportern, die gezwungen werden sollen, ihre Quellen preiszugeben - Judith Miller von der New York Times geht statt dessen lieber ins Gefängnis, während ihr Kollege Matthew Cooper kooperiert.

Für die letzte Seite hat sich Edo Reents ins Emdener VW-Werk begeben, um Reaktionen auf die Betriebsratsaffäre einzuholen. Stephan Sahm berichtet, dass die aktive Sterbehilfe in Großbritannien immer mehr zur tolerierten Praxis wird. Und Dietmar Dath schreibt eine kleine Hommage auf die BBC-Serie "Doctor Who".

Besprochen werden ein Konzert des Funksängers George Clinton in Düsseldorf, Götz Spielmanns Film "Antares", Hugo Rodriguez' Film "Nicotina" und einige Neuerscheinungen aus der akademischen Welt.

Hinzuweisen ist auch auf einen Kommentar Werner D'Inkas im politischen Teil zur Frage der Kulturfinanzierung in Frankfurt und des Beitrags, den das Umland der Stadt dazu leisten soll.

FR, 18.07.2005

Obwohl der neue Harry Potter wieder einmal düsterer ist als seine Vorgänger, hat der Band bei Hilal Sezgin für magische Fröhlichkeit gesorgt. "Die Routine der früheren Bände hängt Rowling nicht etwa wie ein Klotz an der Schreibhand, sondern kommt ihrer Einbildungskraft nur zugute. Und das ist vielleicht das Schönste an diesem durch und durch kurzweiligen (und genüssliche 600 Seiten langen) Leseerlebnis mit 'Harry Potter and the Half-Blood Prince': Rowling mag den Rummel um ihre Person und die Vermarktung ihres Serienheldes genießen, ausnutzen oder mit Skepsis beobachten. Als Autorin jedoch zeigt sie sich davon hier gänzlich unbeeinflusst. Angeblich hat sie vor der Niederschrift des ersten Potter-Bandes bereits alle weiteren Plots notiert; was sie vorhatte, das arbeitet sie unbeirrt weiter aus. Und munter denkt sie sich einen Haufen neuer Zauberdinge rund um diejenigen aus, deren Existenz und Kenntnis sie einfach vorausssetzt."

Weiteres: Ruth Spietschka sorgt sich um die Vielfalt der deutschen Literaturlandschaft, weil immer weniger Bestseller für immer mehr Umsatz verantwortlich sind. "Das, was dabei an Substanz verloren zu gehen droht, können noch so vielversprechende neue Kleinverlage wohl kaum auffangen." Und Harry Nutt kommt in Sachsenhausen zur bitteren Erkenntnis: "Nach einem Umzug ist man Zweifler."

Besprechungen widmen sich der Schau "Urbane Realitäten: Fokus Istanbul" im Berliner Martin-Gropius-Bau ("Umherirrend findet man als Besucher dieses oder jenes interessant, fragt sich aber ebenso oft, was dieses oder jenes mit der Thematik urbaner Realitäten zu tun hat", klagt Thomas Medicus), einer Ausstellung zum Daumenkino in der Kunsthalle Düsseldorf, und neuer Belletristik, Ivan Cankars "traurigem" Arbeiterroman "Die Fremden", Claudia Klischats Erzählung "Morgen. Später Abend" sowie Michael Wildenhains "süffigem" Roman "Russisch Brot" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 18.07.2005

Im Interview mit Marc Zitzmann gibt sich der französische Regisseur Claude Regy schön grantig: "Ich habe ein Problem mit dem französischen Theater. Und ganz allgemein mit der französischen Kultur, mit dem 'esprit francais'. Ich hasse die 'Gauloiserie', den Patriotismus, das Essen - Saucisson und Cassoulet... Das alles ist für mich nur schwer zu ertragen."

Rebecca Hillauer stellt die Autorin Fadela Amara vor, die mit ihrer Organisation "Ni putes ni soumises" (Weder Huren noch Unterworfene) gegen die Unterdrückung muslimischer Mädchen in Pariser Vorstädten angeht: "Die Organisation ermutigt junge Frauen und Männer in den Vororten, sich gegen die Ghettoisierung sowie die Unterdrückung der Frauen und für gleiche Rechte und freie Lebensentfaltung einzusetzen. Fadela Amara will das Gesetz des Schweigens brechen, das nach Mafia-Art bisher über den Gewalttaten in den Vierteln lag."

Weiteres: Barbara Villiger Heilig beugt sich fassungslos über Oriana Falliacis jüngstes Pamphlet, in dem sie gegen den Bau einer Moschee in Florenz zu Felde zieht. Joachim Güntner bescheinigt der rot-grünen Regierung, der Kulturpolitik einen erheblichen Prestigegewinn erbracht zu haben. Lilo Weber meldet das Aus des portugiesischen Ballet Gulbenkian. Nick Liebmann liefert einen Abschlussbericht vom Jazzfestival Montreux.

Berliner Zeitung, 18.07.2005

"HP 6" ist nur ein Hors d'oeuvre zur "Götterdämmerung", meint Carmen Böker in ihrer Kritik des Bandes: "In diesem Buch wird vor allem rekapituliert und geredet, und da den Worten ja irgendwann einmal Taten folgen sollten, legt man es am Ende nicht zufrieden weg als abgeschlossene Episode: Es wirkt vielmehr wie der Prolog zum siebten und allerletzten Band der Reihe um Harry Potter - als sollten lediglich die Weichen gestellt werden für die finale Auseinandersetzung zwischen Harry und Voldemort, dem Mörder seiner Eltern."

SZ, 18.07.2005

Der sechste Harry-Potter-Band ist deshalb so aus den Fugen geraten, weil das "Parallelogramm" aus Romanzeit und wirklicher Zeit "schief und schiefer" wird, bemerkt Thomas Steinfeld. "Er besteht zu einem großen Teil aus sachlichen und dramaturgischen Vorbereitungen auf das Finale, auf das siebte Buch. Es ist ein langes, überlanges Exerzitium, ein aus den Fugen geratenes Beibuch, unterbrochen vor allem vom hilflosen Gefummel, Geschmuse und von den Eifersüchteleien der pubertierenden Jugend."

Gerard Mortier, seit einem Jahr Intendant der Pariser Staatsoper, unternimmt im Gespräch mit Olga Grimm-Weissert eine kleine Zwischenbilanz. "Das Publikum im Ruhrgebiet ist anders als das der Bayerischen Staatsoper oder der Opern in Berlin. An der Ruhr waren die Menschen schwer zu gewinnen, dann aber so treu, wie man das in Paris nicht erwarten kann. Hier hat man eher viele Maitressen - und selten ein Stammlokal. Manchmal frage ich mich: Was tun wir zur Zeit in der Oper? Stücke neu inszenieren und, wenn es gelingt, die musikalische Qualität steigern. Darüber hinaus neue Leute holen. Das ist mir möglich, da ich nicht die Budgetprobleme wie in Deutschland habe. Ich verfüge über eine ordentliche Subvention von 101,4 Millionen Euro."

Weiteres: Die New Yorker Anwältin Lynne Stewart muss vielleicht bis zu 30 Jahre ins Gefängnis, weil sie ihrem Klienten, dem Terrorchef Omar Abdel Rahman, geholfen hat, eine Botschaft an seine ägyptischen Gefolgsleute zu übermitteln. Andrian Kreye hat wenig Verständnis für diese Dame, die die Linke diskreditiert. Siggi Weidemann berichtet, dass das Amsterdamer Stedelijk-Museum für Moderne Kunst nun selbst für seine Finanzierung zuständig ist. Christian Kortmann sinniert über die Attraktivität der Bergetappen bei der Tour de France. Ira Mazzoni ist gespannt, wie nach der Aufnahme des Limes in das Weltkulturerbe die nun notwendige internationale Zusammenarbeit funktionieren wird.

Kleiner Orthografie-Schwerpunkt: Thomas Steinfeld informiert, dass Bayern und Nordrhein-Westfalen entgegen dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz die neue Rechtschreibung nicht am 1. August einführen wollen. Peter Eisenberg, Mitglied des Rates für deutsche Rechtschreibung, hofft auf die Unterstützung der Öffentlichkeit, wenn es in den nächsten Monaten um die Zeichensetzung und Silbentrennung geht. Wegen der Schleichwerbeaffäre erwägt die ARD einen Austritt aus der Bavaria Film, kolportiert Klaus Ott auf der Medienseite.

Besprochen werden eine Aufführung von Dieter Schnebels auf "Didaktik und Verständlichkeit" setzende Oper "Majakowskis Tod" im Münchner Gärtnerplatztheater, Hugo Rodriguez' Film "Nicotina", und Bücher, darunter Hugo Loetschers lyrische Retrospektive "Es war einmal die Welt", Hans Ulrich Gumbrechts Band "Lob des Sports", sowie Ethan Coens Kurzgeschichtensammlung "Falltür ins Paradies" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).