Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2005. In der SZ fürchtet der britische Autor Lawrence Norfolk, dass nach den Attentaten eine chauvinistische Stimmung entstehen könnte. Im Tagesspiegel beschreibt der bosnische Dramatiker Almir Basovic das Morden von Srebenica als zeitgenössische Tragödie. In der taz erzählt Marcel Marceau, wie ihm die Pantomime einmal das Leben rettete. Der deutsche Filmpreis für "Alles auf Zucker" löst etwas missgelaunte Reaktionen aus. Und in der FAZ entdeckt die Fotokünstlerin Haleh Anvari einen paradoxen Hoffnungsschimmer im Ausgang der iranischen Wahlen.

TAZ, 11.07.2005

Der Pantomime Marcel Marceau, der in diesen Wochen durch Deutschland tourt, erzählt Max Dax im Interview, wie sein Talent ihn im Zweiten Weltkrieg die Haut gerettet hat. "Franzosen haben mich kontrolliert. Französische Faschisten, Vichy-Verräter, Gestapo-Kollaborateure. Die waren in einem gewissen Sinne noch schlimmer als die Deutschen. Sie griffen mich aus der Menschenmenge heraus und forderten mich auf, ihnen meinen Pass zu zeigen. Dann begann die Komödie - eine schlecht gespielte Komödie, muss man dazu sagen. Leise, gerade so, dass ich es hören konnte, unterhielten sie sich darüber, ob mein Pass gefälscht sei oder nicht. Sie hatten gar keinen besonderen Verdacht, es war ein grausames Spiel mit dem Ziel das Opfer nervös zu machen - um auf diese Weise, falls ihnen tatsächlich zufällig ein Resistancekämpfer mit gefälschten Papieren in die Hände gefallen sein sollte, diesen an der Angst zu erkennen. Ich legte mein gleichgültig-genervtes Gesicht auf. Dauert es noch lange? Ich hab's eilig. Was man sich heutzutage nicht alles gefallen lassen muss! Ich sagte nichts, aber meine Mimik sagte alles. Ich bekam meinen gefälschten Pass zurück."

Auf den vorderen Seiten deutet Christian Semler den Unions-Slogan "Gerecht ist, was Arbeit schafft" als sozial verbrämtes Plädoyer für eine weiteren Abbau der Arbeitnehmerrechte zugunsten von Minijobs und Kurzzeitstellen. Semler fordert dagegen ein neues Verständnis von Arbeit. "Teilhabegerechtigkeit schließt, bezogen auf Beschäftigungsverhältnisse, gerade ein, dass die Zentralität von Erwerbsarbeit schrittweise relativiert wird zugunsten neuer Formen sinnvoller und selbstbestimmter Arbeit, die seitens des Staates finanziell zu stützen wären."

Weiteres im Kulturteil: Cristina Nord findet die sechs Lolas für "Alles auf Zucker" ziemlich verwegen. Denn Dani Levy ist beileibe "kein Wiedergänger Billy Wilders". Marion Lühe trauert um Claude Simon, Literaturnobelpreisträger und Vertreter des Nouveau Roman, der vergangene Woche in Paris verstorben ist. In der zweiten taz besucht Barbara Bollwahn den Magdeburger Andreas Ehrholdt, der die Hartz IV-Demonstrationen initiierte und nun nach Berlin marschieren will. David Denk schimpft über Oskar Lafontaine und Peter Hartz, die Wasser und Soziales predigen, aber selbst Wein trinken und Geld scheffeln. Arno Frank belegt an den Plattenverkäufen, wem Live 8 genutzt hat. Auf der Medienseite besichtigt Christine Wahl die Dreharbeiten zum Theaterstück "Lulu", das jetzt mit Jessica Schwarz verfilmt wird. Auf der Meinungsseite plädiert Eberhard Seidel Untersuchungen über die Einstellungen der deutschen Muslime zu Staat und Gesellschaft.

Die beiden Besprechungen widmen sich einem Auftritt des wertekonservativen Rappers Common im Berliner ColumbiaClub und einem Berliner Abend mit dem Flamenco-Ballet Teatro Español de Rafael Aguilar.

Und Tom.

NZZ, 11.07.2005

Sieglinde Geisel erzählt von einem Besuch in der Lausitz, wo die jetzt noch "karge, bizarre Mondlandschaft" der stillgelegten Tagebau-Gruben zur größten Seenplatte Deutschlands umgewandelt werden soll. Von einer Führerin hat sie sich das IBA-Konzept erklären lassen: "'Es braucht Zeit, bis die Menschen sich daran gewöhnen, ihren Schandfleck - das Dreckloch, wie sie es nannten - als Touristenattraktion zu sehen. Doch die Berliner fliegen in die Sahara, um Wüste zu erleben, und das können wir ihnen hier viel näher bieten.' Die samstäglichen Touren (mit attraktiven Titeln wie 'Steppe, Canyons und Giganten aus Stahl' oder 'Reise zum Mars') sind regelmäßig ausgebucht. Wer diese Zwischennutzung des zukünftigen Seebodens noch erleben will, muss sich allerdings beeilen: Ab November beginnt die Flutung."

Weiteres: Gerda Zeltner verabschiedet den Schriftsteller und Nobelpreisträger Claude Simon, der am vergangenen Mittwoch in Paris gestorben ist. "Wer ihn in Paris aufsuchte, fand einen äußerst liebenswürdigen Mann voller Witz und Selbstironie, aber auch rasch bereit zu leidenschaftlichen Empörungen." Aldo Keel erinnert an das denkwürdige Jahr 1905, als Island sein erstes Telegramm erhielt. Besprochen werden eine Ausstellung zum Pietismus in Halle, Händels Oper "Giulio Cesare" beim Glyndebourne Festival und der Abschluss des Bruckner-Zyklus' in der Tonhalle Zürich.

Welt, 11.07.2005

Barry Rubin, Direktor des Global Research in International Affairs Center (Gloria), fürchtet das Schlimmste vom neuen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadi-Nedschad. "Die Wahl signalisiert zunächst und vor allem den extremsten Elementen im Iran und den terroristischen Kunden des Landes - also der libanesischen Hisbollah, der palästinensischen Hamas und dem islamischen Dschihad sowie verschiedenen kleinen Gruppen, die gegen Saudi-Arabien, den Irak und andere arabische Länder vorgehen - dass sie grünes Licht für Angriffe haben. Sie werden annehmen können, daß der Iran sie unterstützt, was auch immer sie tun. Der nach außen hin vorsichtig agierende Iran zählt zu den weltweit führenden Terrorsponsoren. Einzelne iranische Funktionäre werden sich jetzt noch freier fühlen, bestimmte Operationen anzuordnen und zu koordinieren."

FAZ, 11.07.2005

Die iranische Fotokünstlerin Haleh Anvari äußert sich gar nicht so unzufrieden zum Ausgang der Wahlen im Iran. Sie ist froh, dass der korrupte Politiker Rafsandschani nicht als kleineres Übel wiedergewählt wurde und sieht in der geringen Wahlbeteiligung ein Votum gegen die undemokratischen Rahmenbedingungen: "Die Iraner haben 'nein' gesagt zum Opium kraftloser Reformen, 'nein' zu geraubten Idealen, und sie haben gezeigt, dass sie wussten, welche der alten Spieler sich als unwürdig erwiesen haben. Und wenn der neue Präsident und seine Helfershelfer annehmen, man habe sie gewählt, um das Rad zurückzudrehen, dann werden die Iraner bei der ersten Gelegenheit wieder ein vernichtendes Urteil sprechen."

Eleonore Büning zeigt sich bezaubert von Patrice Chereaus Inszenierung der "Cosi fan tutte" in Aix-en-Provence, seiner ersten Opern-Inszenierung seit elf Jahren: "Er führt die Figuren so dicht an der Linie der Musik entlang, dass jeder Gang zum beredten Rezitativ wird, jede Kadenzformel ein Innehalten. Bewegungen, Gedanken, Mienen, Töne - alles scheint organisch zusammenzufließen zu einem Ausdruck. Dabei ist Chereaus Bühnensprache womöglich noch karger geworden - eine Wohltat, verglichen zu den schickimicki modernisierten 'Cosi'- Lesarten anderswo."

Weitere Artikel: In der Leitglosse freut sich Wolfgang Sandner über eine Gerichtsurteil, dass Dirigenten bescheinigt, eine künstlerische Arbeit zu tun. Joseph Hanimann schreibt zum Tod des französischen Autors und Nobelpreisträgers Claude Simon. Christian Schwägerl bringt Impressionen vom Parteitag der Grünen. Michael Althen und Eberhard Rathgeb schicken eine Reportage von der Verleihung des deutschen Filmpreises und zeigen sich dankbar über die Erneuerung des Zeremoniells, wenn auch nicht für die Preise für Dani Levys Film "Alles auf Zucker". Rudolf Schmidt preist den Umbau der Frankfurter Dornbuschkirche durch die Frankfurter Architektengemeinschaft Meixner, Schlüter, Wendt. Jürgen Kesting gratuliert dem Tenor Nicolai Gedda zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite protokolliert Michael Seewald neueste Volten aus dem Schleichwerbungsskandal um die Bavaria und ihre ARD-Serien. Robert von Lucius annonciert, dass der norwegische Schibsted-Konzern mit Gratiszeitungen den deutschen Markt aufmischen wird. Und Matthias Hannemann berichtet, dass die norwegische Film- und Fernsehindustrie ehrgeizige Pläne hat, um auch international wahrgenommen zu werden.

Auf der letzten Seite stellt Marion Tegethoff ein "Depressionsbarometer" im Internet vor, mit dem Forscher aus Witten die Seelenlage der Deutschen erkunden wollen. Kerstin Holm porträtiert den noch von Stalin eingesetzten, inzwischen 92-jährigen Musikfunktionär Tichon Chrennikow. Und Andreas Platthaus berichtet über die Rückkehr des Leipziger Museums für Angewandte Kunst in den Grassikomplex, die in diesen Tagen gefeiert wird.

Besprochen werden einige Sachbücher, darunter Robert Louis Wilkens theologisches Werk "Der Geist des frühen Christentums".

Tagesspiegel, 11.07.2005

Der bosnische Dramatiker Almir Basovic beschreibt das Morden von Srebrenica als zeitgenössische Tragödie. "In der antiken Tragödie ist es der Held, den der Tod ereilt. In Srebrenica holte der Tod sich den Chor. Wer auch nur die leiseste Ahnung von der antiken Tragödie hat, dem wird klar sein, was für ein grauenvolles Unglück der Tod des Chors bedeuten muss. Es wäre das Sterben der menschlichen Gesellschaft selbst. Denn mit dem Chor müsste die 'Ideologie des Goldenen Zeitalters' enden, auf die sich jede Gesellschaft von der Antike bis zur Gegenwart gründet. Außerdem hätte man im tödlichen Scheitern des Chors ein deutliches Zeichen dafür erkannt, dass die kosmischen Ebenen der Existenz durcheinander gebracht sind. Ohne den Chor wird es unmöglich, auf das Ausmaß der menschlichen Freiheit hinzuweisen."

FR, 11.07.2005

Etwas übellaunig kehrt Daniel Kothenschulte von der Verleihung der Deutschen Filmpreise aus Berlin zurück: "Die Gala, sie war so muffig wie in alten Tagen." Seltsam findet er, dass mit Dani Levys "komödiantischem Kuddelmuddel" "Alles auf Zucker" ausgerechnet ein Fernsehfilm den großen Kinopreis erhalten hat: "So hatten sich das Bernd Eichinger und sein Club zwanzig führender Filmproduzenten wohl nicht vorgestellt, als sie die Deutsche Filmakademie als Preisvergabeinstanz gründeten. Endlich sollte sich das Kino vom Fernsehen emanzipieren und sich mit dem Stolz der Amerikaner selber feiern. Jetzt gewinnt der WDR. Eichingers eigene Produktion, 'Der Untergang', kein guter, aber fraglos ein Kinofilm, hatte schon bei den Nominierungen schlecht abgeschnitten."

Weiteres: Zum Tod des Schriftsteller Claude Simon schreibt Helmut Mayer: "Die Bewunderung, die Simon entgegengebracht wird, sie gilt einem Autor, dessen Zeitgenossen, wie Jean Amery einmal schrieb, Proust, Joyce, Faulkner oder auch Beckett heißen. Nur nach der Größenordnung solcher Autoren ist er zu messen, daran ist nichts zu revidieren." Thomas Medicus gratuliert dem Verleger Klaus Wagenbach zum Fünfundsiebzigsten: "Halsstarrigkeit war Programm, aber auch ökonomisches Erfolgsrezept." In Times mager betrachtet Christian Thomas, wie Ian McEwan in seinem Roman "Saturday" den Anschlag auf London antizipierte.

SZ, 11.07.2005

Die Sicherheit ist längst zu einer politischen und deshalb zunächst unlösbaren Frage geworden, schreibt der Schriftsteller Lawrence Norfolk, der in Zukunft mehr Tote und einen Machtzuwachs der Geheimdienste erwartet. Zudem, schätzt er, wird "die unmittelbare psychologische Reaktion der Londoner auf die Anschläge, diese scheinbar so ruhige und kaltblütige Art des gewöhnlichen Metropolenbewohners, zu einer Attitüde degenerieren - und zwar in dem Maße, wie sie London verlässt und in den Rest der Nation exportiert wird. In den kleinen Städten und Dörfern in allen Teilen der britischen Insel, dort, wo niemals Bomben explodieren noch braungesichtige 'Islamisten' zu sehen sein werden, wird das Londoner Achselzucken zu einer national verbreiteten Kurzschlussreaktion führen: ein fieser kleiner Cocktail, gemischt aus zwei Teilen Rassismus und einem Teil amateurhafter militärischer Analyse, versetzt mit einem Schuss patriotischer Sentimentalität. Ich kann schon hören, was an den Stammtischen gesagt werden wird: 'Wenn ich etwas zu sagen hätte . . .'"

Andrian Kreye besucht einen Dinosaurierpark in Florida, wo der selbsternannte Kryptozoologe und Dr. Dino Kent Hovind Kinder über die Evolution aufklärt, die nicht stattgefunden hat. "Eines muss klar sein, sagt Doktor Hovind: Die Erde wurde vor sechstausend Jahren von Gott geschaffen. Wer etwas anderes behauptet, lügt. Und die Dinosaurier sind allesamt vor 4400 Jahren zugrunde gegangen. In der großen Flut, vor der sie auch Noahs Arche nicht retten konnte." Hier eine Seite der Kreationisten um Hovind und hier eine seiner Kritiker.

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld würdigt Claude Simon, den "größten unbekannten Schriftsteller Frankreichs", der vergangene Woche in Paris verstorben ist. Stefan Koldehoff meldet, dass das Kunsthaus am Züricher Heimplatz große Teile der Impressionisten-Sammlung des griechischen Tanker-Milliardärs Stavros Spyros Niarchos erhält. Jens Malte Fischer gratuliert dem Tenor Nicolai Gedda zum 80. Geburtstag. Nach der Verleihung des Deutschen Filmpreises bleibt für Fritz Göttler weiterhin fraglich, welche Rolle das heimische Kino spielen will. Auf der Medienseite porträtiert Hajo Schumacher den altgedienten Sportjournalisten Hartmut Scherzer, der in diesem Jahr zum 23. Mal bei der Tour de France dabei ist (hier Scherzers Ratschläge für linkshändige Boxer).

Besprochen werden heute die von einigen Istanbuler Künstlern boykottierte Ausstellung "Urbane Realitäten: Fokus Istanbul" im Berliner Martin-Gropius-Bau (die Fotografien und Filme kann Jens Bisky empfehlen, "das Gros der Werke aber zelebriert belanglosen Vorwitz".), Patrice Chereaus Version von Mozarts "Cosi fan tutte" zum Auftakt des Opernfestivals in Aix-en-Provence als "bestürzend kaltes Menschenexperiment", das Jazzfest in Montreal, eine Mischung aus "Kompetenz und Kuschelgruppe", und Bücher, darunter Yann Martels Erzählband "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios", Avraham Barkais Biografie Oscar Wassermanns, bis 1933 jüdischer Direktor der Deutschen Bank, und das Manuskript der Reith-Reden, die der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka 2004 in der BBC unter dem Titel "Klima der Angst" hielt (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).