Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2005. Ratzinger, Putin, Bush: Im Tagesspiegel-Interview schickt uns Peter Sloterdijk auf die Reise in den "autoritären Kapitalismus" - und zwar auf der Grundlage eines neo-autoritären Wertedenkens. In der Welt kritisiert der dänische Politologe Björn Lomborg die Prioritätenliste der Westlichen Welt, die lieber den Klimawandel als Aids bekämpft. Die SZ verteidigt Peter Handke als Ahnenden. Die SZ schüttelt auch den Kopf über den relevanten Realismus. Die SZ bewundert die immer noch vorhandene Aufbruchsstimmung in der Ukraine.

Tagesspiegel, 24.06.2005

Tony Blair will mit der Aufnahme der Türkei die politische Unregierbarkeit Europas sicherstellen, die "lieben Franzosen" nerven mit ihrem habituellen Revoltismus und jetzt droht auch noch eine Krise der direkten Demokratie, meint der Philosoph Peter Sloterdijk im Interview. "Was uns demnach bevorsteht, ist die globale Wende in den 'autoritären Kapitalismus' - und zwar auf der Grundlage eines neo-autoritären Wertedenkens. Ratzingers Visionen lassen sich mühelos in einen solchen Kontext einordnen. Das 21. Jahrhundert wird zum Labor des Neu-Autoritarismus, das heißt des Kapitalismus, der die Demokratie nicht mehr nötig hat ... Die aktuelle Situation ähnelt jener der Dreißigerjahre im 20. Jahrhundert, als mehrere Arten des Autoritarismus zur Wahl standen - weltweit. Ich glaube, im Moment erleben die politischen Systeme wieder einen Übergang zu postliberalen Formen. Man hat die Wahl zwischen einem eher parteidiktatorischen Modus wie in China, einem staatsdiktatorischen Modus wie in der Sowjetunion, einem stimmungsdiktatorischen Modus wie in den USA und schließlich einem mediendiktatorischen Modus wie in Berlusconis Italien. Der Berlusconismus ist der europäische Testballon der neo-autoritären Wende."

Welt, 24.06.2005

Der kommende G-8-Gipfel sollte sich besser für die Bekämpfung von Aids einsetzen statt für die Bekämpfung des Klimawandels, meint der dänische Politologe Björn Lomborg, Professor an der Copenhagen Business School, auf den Forumsseiten. "Die globale Erwärmung ist eine Tatsache. Aber das Kyoto-Protokoll bringt kaum wahrnehmbare Wirkungen (nämlich die Verschiebung des Temperaturanstiegs von 2100 auf 2106) nur zu erheblichen Kosten (etwa 150 Milliarden Dollar pro Jahr). In Anbetracht knapper Ressourcen müssen wir uns fragen, ob wir jetzt eine Menge guter Dinge tun wollen oder viel später nur wenig Gutes. Wir müssen uns fragen, ob wir durch ein verändertes Investitionsverhalten für die Welt nicht mehr erreichen können. Es geht also nicht darum, die Zügel schießen zu lassen, sondern im Gegenteil darum, das drängende Problem der Prioritätensetzung bei den Hörnern zu packen. Warum sind während der letzten schweren Hurrikans in Haiti Tausende gestorben, während in Florida niemand zu Tode kam? Weil die Haitianer arm sind. Sie können keine Schutzmaßnahmen ergreifen. Wenn man den Kreislauf der Armut durchbricht, indem man die drängendsten Probleme mit Hunger, Krankheit und verschmutztem Wasser angeht, tut man nicht nur offensichtlich Gutes, sondern macht die Menschen auch weniger verletzlich für die Wirkungen des Klimawandels."

FR, 24.06.2005

Der irakische Schriftsteller Najem Wali (mehr hier) berichtet, dass er es sich zur Angewohnheit gemacht habe, in jeder Stadt, an jedem Ort den Friedhof aufzusuchen. Doch wie geht man damit um, wenn sich ein ganzer Landstrich als Friedhof erweist? Wali ist durch Kurdistan gereist, im Norden Iraks, das "noch heute, nach dreizehn Jahren Autonomie, frei und unabhängig von der zentralstaatlichen Macht, ein einziger großer Friedhof ist. Im Unterschied zu den Friedhöfen des Südens handelt es sich hier jedoch meist um Gräber von Kindern." Wali stellt sich das Schicksal der Kinder als "ein wandelndes Museum der Welt" vor, "eine Ausstellung all dessen, was geplant war und nie vollendet wurde".

Weiteres: Martina Meister kommentiert die Meldung, dass die rund 170 ehemaligen Paläste Saddam Husseins zur Benutzung als Kulturhäuser freigegeben werden sollen. "Doch wer nun glaubt, bald stünden dem irakischen Volk Kulturhäuser mit goldenen Wasserhähnen zur Verfügung, irrt. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, ist aus Saddams Palästen bekanntlich verschwunden. Geblieben sind riesige Säle, endlose Fluchten aus Marmor, das ganze Vakuum des Größenwahns." Besprochen wird die Ausstellung "Polaroid als Geste" im Museum für Photographie in Braunschweig .

SZ, 24.06.2005

Trotz seiner Parteinahme für Slobodan Milosevic verteidigt Thomas Steinfeld Peter Handke gegen seine Kritiker und versucht, dessen Skepsis gegenüber dem Recht der Sieger zu verstehen: "Der Sieger wird keine Rechenschaft ablegen müssen, denn darin, dass er den anderen zur Rechenschaft zwingt und diese selbst nicht leisten muss, besteht eben sein Sieg. All das ahnt Peter Handke, nicht nur als der Dichter, der er ist, sondern auch als der Jurist, der er einmal war. Er ahnt es, weil er diese Landschaft liebt, diese Leute, vielleicht auch ihre sozialen und politischen Organisationen, die Flüchtlinge, die Krokusse, den 'schönkleinen Orient'. Und weil er das liebt, nimmt er um so schärfer die Schmach war, die es für den Unterlegenen bedeutet, sich der Gerichtsbarkeit der Überlegenen beugen zu müssen - und reagiert, als Dichter, der er ist, poetisch und nur poetisch. An keiner Stelle arbeitet sich sein Text zur Analyse vor, nirgends wird er politisch, macht er Interessen namhaft, versucht er, in das Kalkül einzudringen."

Jens Bisky schüttelt den Kopf über das "Manifest", mit dem die Schriftsteller Martin R. Dean, Thomas Hettche, Michael Schindhelm und Matthias Politycki gestern in der Zeit einen "Relevanten Realismus" für die deutsche Literatur forderten: "Unbestimmt raunend, zwischen Poesie und Politik wechselnd, um sich nirgends festzulegen, tönt das gesamte Manifest: entschlossen in der Geste, vage im Inhalt, vorsichtig bis feige in den Formulierungen".

Helmut Böttiger hat bei einem Besuch in Kiew die immer noch vorhandene Aufbruchsstimmung genossen und würde es wirklich begrüßen, wenn die Ukraine 2008 Gastland der Frankfurter Buchmesse werden würde: "In den spärlichen ukrainischen Verlagsprogrammen spiegelt sich diese Art von Lebensgier wider. Der Verlag Folio aus Charkow hat eine Reihe mit jungen Autoren: die dreiundzwanzigjährige Irena Karpa singt in einer Rockband und posiert auf dem Cover ihres Romans '50 Minuten auf Drogen' wie in einer Animationsshow. Die Autorin Irena Starostina ist erst siebzehn, ihr Buch 'Ein paar Sekunden Glück' beschwört altersgemäße Sexphantasien - es liegt etwas in der Luft."

Alexander Gorkow berichtet von den Nöten des deutschen "Live 8"-Veranstalters Marek Lieberberg, der fürchtet, sich vor seinen Kollegen in London, Philadelphia, Rom und Tokio heillos zu blamieren: Er findet keine Sponsoren. "'Seit Beginn unserer Bemühungen für das deutsche Konzert zappeln wir in einem Netz aus Geiz, Desinteresse und einer behördlichen Hin- und Herschieberei in Berlin; das ist ein Netz, das es so in keiner anderen der beteiligten Metropolen gibt.'"

Weiteres: Johan Schloemann berichtet von einem Vortrag des amerikanischen Geistesgeschichtler Anthony Grafton in Berlin, der sich mehr apokalyptisches Denken und eschatologische Inspiration wünscht (und auf die entzückende Seite Rapture Ready amerikanischer Endzeit-Apostel hinwies). Oliver Herwig stellt Architekturportale (zum Beispiel muenchenarchitektur und koelnarchitektur) vor, die trotz ihrer überschaubaren Zahl bereits miteinander im Clinch liegen. Adrienne Braun unterhält sich mit dem Kurator Hans Ulrich Obst. Egbert Tholl spricht mit Martin Frey, der in diesem Jahr zum letzten Mal die Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Patenkirchen leiten wird. Gottfried Knapp gratuliert dem Architekten (und SZ-Gesellschafter) Peter von Seidlein zum Achtzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Schätze aus 1001 Nacht" in der Völklinger Hütte, Matthias Hartmanns und Christoph von Dohnanyis "Elektra" an der Pariser Bastille und Bücher, darunter Luigi Guarnieri "Das Doppelleben des Vermeer" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 24.06.2005

Auf der Medienseite erklärt Christa Piotrowski, dass der Mangel an erfolgreichen progressiven Medienprojekten in den USA auf eine schlecht organisierte Linke zurückzuführen sei. "Konservative haben dagegen seit Ende der sechziger Jahre eine starke Opposition gegen die angebliche liberale Voreingenommenheit der Medien organisiert", und "'liberal' ist inzwischen ein Schimpfwort, mit dem die Rechten traditionelle Publikationen wie die New York Times oder Newsweek bezeichnen." Piotrowski stellt unter anderem drei progressive Projekte vor, die dem medialen Konservatismus nun die Stirn bieten wollen: das progressive Netzwerk Air America Radio, das Network Current (ein Projekt des ehemaligen Vizepräsidenten Al Gore) sowie die "Huffington Post" der Publizistin Arianna Huffington, eine Website, auf der 350 VIP-Blogger berechtigt sind, ihre Gedanken auszubreiten.

Bluegene von IBM, der zurzeit schnellste Supercomputer der Welt, sei gerade gut genug für das Kooperationsprojekt Blue Brain des Brain Mind Institute der ETH Lausanne und IBM, ist von "gsz" zu erfahren. S.B. schreibt über das sogenannte Produktivitätsparadox, welches besage, "dass viel Geld für Informatik ausgegeben werde, diese Mittel aber nicht produktiv genutzt würden." Zumindest für die Eidgenossen solle mittels einer Stiftung für eine "produktive Schweiz" Abhilfe geschaffen werden. Gemeldet wird, dass Deep Throat demnächst auch als Buch und Film auf uns zukommt, da Mark Felt die Rechte an seiner Lebensgeschichte verkauft habe, und dass das Online-Zeitungslesen im Trend liege: Gemäß einer Studie des Medienforschungsunternehmens Nielsen lesen 21% der US-Zeitungsleser ihr Blatt im Netz, 71% bevorzugten Papier, teilt "ras." mit.

Das Feuilleton: Martin Krumbholz wandelt "teils amüsiert, teils konsterniert" durch die Reiskorn-Installation "Of All the People in All the World" beim Festival Theater der Welt, "schaut, staunt und begreift". Aldo Keel berichtet, dass unter Norwegens Autoren ein Streit um den Solidaritätsfond des Schriftstellerverbandes entbrannt sei, und Knut Henkel meldet, dass Hemingways Villa in Havannah dringend saniert werden müsste. "Doch gegen die Sanierung mit amerikanischen Geldern laufen Abgeordnete der exilkubanischen Minderheit in Miami Sturm. Wenn Castro eine weitere Touristenattraktion wolle, dann solle er selbst dafür zahlen", wie Henkel die Kongressabgeordnete Ileana Ros-Lehtinen zitiert.

Besprochen werden eine Retrospektive des kalifornischen Künstlers John Baldessari in Wien und eine Inszenierung von Richard Strauss' "Elektra" in der Pariser Opera Bastille.

Auf der Filmseite stellt Georges Waser "SilverFin" vor, einen Roman, der James Bonds Schulzeit in Eton beschreibt. Besprochen werden Bruno Molls Dokumentarfilm "Erinnern", Rebecca Millers Film "The Ballad of Jack and Rose" und Alex de la Iglesias schwarze Komödie "Crimen ferpecto".

TAZ, 24.06.2005

Daniel Bax ist in das nordserbische Novi Sad gereist und hat dort den kroatischen Rockmusiker Darko Rundek und den Komponisten Boris Kovac getroffen. Kovac ist einer der Mitbegründer des "Interzone"-Festivals in Novi Sad, das vor sieben Jahren "als Treffpunkt der Opposition in einem alternativ geprägten Stadttheater begann und bis heute die Schnittmenge von Jazz, Weltmusik und Neuer Musik auslotet", so Bax. Sowohl Rundek als auch Kovac fühlen sich eher der westlichen Popwelt zugehörig und verfolgen ganz andere musikalische Vorstellungen als der Balkan-Sound, der sich zur Zeit "nicht zuletzt dank der Filme von Emir Kusturica und der Musik von Goran Bregovic" großer Beliebtheit erfreut. Bax zitiert Kovac: "Es ist natürlich gut, der Zigeunerkultur zu ihrem Recht zu verhelfen. (...) Aber es ist etwas anderes, auf diesem Klischee vom wilden Balkan herumzureiten. Mir gefällt dieses simplifizierende Bild nicht, das Kusturica und Bregovic für das westliche Publikum vom ehemaligen Jugoslawien zeichnen."

Weitere Artikel: Jörg Magenau kommentiert Peter Handkes Äußerungen als "Umwegzeuge" im Prozess gegen Slobodan Milosovic. "Handke hält das Tribunal in Den Haag grundsätzlich für verfehlt. Milosevic gehöre zwar durchaus vor ein Gericht - aber nicht vor dieses, das von den Nato-Mächten als eine Art Gerechtigkeitswelttheater eingesetzt wurde. Welches Gericht aber zuständig sein könnte, verrät er nicht - ein menschliches kann es kaum sein." Philip Gessler befürchtet, dass die CDU/CSU den Ethikrat abschaffen will.

Auf der Meinungsseite plädiert Bahman Niroumand für einen Wahlboykott im Iran. Er findet den Erzkonservativen Ahmadinedschat ebenso inakzeptabel wie den Konservativen Rafsandschani. "Als Rafsandschani Staatspräsident war, beteiligte sich Ahmadinedschat in seinem Auftrag an zwei Mordattentaten, in Paris gegen den früheren Ministerpräsidenten Schahpur Bachtiar und in Wien gegen den Führer der Demokratischen Partei des iranischen Kurdistan, Abdolrahman Ghasemlu. Unter Rafsandschani wurde Ahmadinedschat Provinzgouverneur. Sie haben jahrelang zusammengearbeitet. Soll man empfehlen, aus Angst vor dem Angestellten dessen Chef zu wählen?"

Besprochen werden "Melegin Düsüsü - Angel's Fall" , der zweiten Spielfilm des türkischen Regisseurs Semih Kaplanoglu, die Tanzmusik-Compilation "Bucovina Club" und die neue CD von Les Babacools.

Schließlich Tom.

FAZ, 24.06.2005

In einem politischen Kommentar auf der Seite 1 plädiert Hubert Spiegel für eine Reform der Rechtschreibreform und für eine Abschaffung der Kultusministerkonferenz. Im Feuilleton bekennt Jürgen Kaube, dass er die politische Botschaft der Friedenspreisentscheidung für Orhan Pamuk nicht recht versteht. Dietmar Dath bekennt Ähnliches über die neue "Linkspartei" und schreibt ihr schon mal das Streben nach einem neuen Sozialismus ins Parteiprogramm. In der Leitglosse wartet Hannes Hintermeier mit sommerlichen Assoziationen zum Thema des Grillens auf. Regina Mönch berichtet über den sensationellen Fund einer Handschrift aus dem 6. Jahrhundert in der kaum erschlossenen Sammlung des Kollegiatstifts Zeitz. Kerstin Holm meldet, dass Moskauer Behörden dem berühmten experimentellen Regisseur Anatoli Wassiljew sein Theater wegnehmen wollen. Oliver Jungen gratuliert dem Mediävisten Stefan Weinfurter zum Sechzigsten. Andreas Rossmann schreibt einen kleinen Nachruf auf den Politologen Karl Rohe.

Auf der Medienseite porträtiert Michael Seewald den Schauspieler Uwe Kockisch, der demnächst den Kommissar Brunetti nach Donna Leon spielt. Und Nina Rehfeld meldet, dass die New Yorker Zeitung Newsday und ihr spanischsprachiges Schwesterblatt Hoy wegen Auflagenmanipulation ins Gerede gekommen sind.

Auf der letzten Seite erinnert Joseph Hanimann an den Lemberger Juden Leopold Weiß, der zum Islam übertrat, Pakistan mitbegründen half und nach dem Krieg als pakistanischer Botschafter bei den Vereinten Nationen wirkte. Martin Kämpchen erinnert an einen Aufstand unter Indiens Ureinwohnern, den Adivasis im Jahr 1855, der also dem berühmten Aufstand indischer Soldaten gegen die Briten im Jahr 1857 noch vorausging. Und Andreas Kilb porträtiert den amerikanischen Historiker Anthony Grafton (hier eine Karikatur aus der New York Review of Books), der sich neuerdings mit eschatologischen Denken beschäftigt und der einen Vortrag in Berlin hielt.

Besprochen werden ein Konzert der Band Antony and The Johnsons, Norman Jewisons Film "The Statement" über einen französischen Kollaborateur, der seine Mitschuld an der Judenvernichtung in gläubig-katholischer Zerknirschung bewältigen will, was nach Michael Althen selbst Michael Caines schauspielerische Ressourcen überfordert, Leos Janaceks "Schlaues Füchslein" in Köln und in Freiburg und Sachbücher, darunter ein Band mit Gerichtsreportagen von Gerhard Mauz.