Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2005. Die taz geißelt die Feigheit der Biennale von Venedig, die Gregor Schneiders schwarzen Kubus nicht aufstellen wollte. Die Welt zitiert zu diesem Thema den Künstler, der nicht provozieren will. In der FAZ erinnert der Historiker Christian Saehrendt an die Verführbarkeit der "Brücke" durch den Nationalsozialismus. Die NZZ erteilt der Bundesrepublik ihren Segen für Neuwahlen. Die kulturhistorische Deutung des Michael-Jackson-Prozesses erreicht ungeahnte Tiefen.

TAZ, 15.06.2005

In der zweiten taz berichtet Ingeborg de Vries wütend, dass der Künstler Gregor Schneider seine Installation auf der Biennale in Venedig auf politischen Druck hin abbauen musste. Sie erinnert an die Kaaba in Mekka, provoziert vielleicht Muslime und ist deshalb ein Sicherheitsrisiko, so die Argumentation der Sicherheitsbehörden. "Das ist, so gesehen, das klassische Phantasma der europäischen Boheme allem fundamentalistischen Terror gegenüber: Bloß die schlafenden Hunde nicht wecken! Kein Streit bitte, keine Debatte ? kein Stolz auf die (nicht nur ästhetischen) Freiheiten liberaler Demokratien, keine Courage, gerade wegen möglicher Terrorgefahr dieses Kunstobjekt als irritierende Installation zu wollen - und nicht zu verbannen, als ob damit irgendetwas gewonnen wäre."

Auf der Meinungsseite erklärt der Historiker Hans-Ulrich Wehler im Interview die Gründe für die wachsende EU-Skepsis: "Es ist der Politik nirgends gelungen, den Beitritt der 10 östlichen Staaten 2004 den Wählern zu erklären. Das hätte Geduld erfordert. Man hätte sich ein Beispiel an Franklin Roosevelt nehmen können, der zu Beginn des New Deal damals im Radio alle 14 Tage den Amerikanern erklärt hat, warum man nun etwas Neues braucht. Diese Kamingespräche waren damals höchst wirksam - nicht einen Hauch davon hat die europäische Politik zu Wege gebracht. Der Beitritt der 10 ist zweifellos eine Belastung für die alten Unionsstaaten - aber anstatt darzustellen, warum dieser Beitritt nötig ist, welche Vorzüge er auch mit sich bringt, was uns mit diesen Ländern auch historisch verbindet, hat man so getan, als wäre das eben einfach so. Das hat sich nun gerächt."

Auf den vorderen Seiten ist der hochentwickelten Internetzensur in China ein Brennpunkt gewidmet. Nachdem Georg Blume einige Fälle von erfolgreicher Großzensur geschildert hat, lässt er sich von Xu Xing zum Internetguerillero ausbilden. "'Jeder weiß doch, wie man die fraglichen Begriffe umgeht.' Der berühmte Schriftsteller der 89er-Studentengeneration schreibt seit Jahren seine Blogs unbehelligt von den staatlichen Behörden. Das geht laut Xu Xing ganz einfach: Gibt man etwa die Schriftzeichen für die KP Chinas ein, sollte man zwischen jedem Zeichen die Leertaste drücken. Schon sei die Zensur machtlos! Dergleichen Tricks kenne jeder mit etwas Erfahrung."

In der zweiten taz resümiert Henning Kober ganz nüchtern den Jackson-Prozess. Bettina Gaus kritisiert die ARD für ihre Quotenfixierung und die geplante Kürzung der Politmagazine, über die Christian Bartels und Steffen Grimberg gleich darauf im Medienteil informieren.

Im Kulturteil dankt Lorraine Haist Rot-Grün für die zurückliegenden Jahre der Entspannung auf der Regierungsbank. Besprochen werden Christopher Nolans Film "Batman Begins" ("Batman will endlich dahin, wo Spider-Man bereits angekommen ist", frohlockt Dietmar Kamnmerer), zwei Räuber-Aufführungen bei den Internationalen Schillertagen in Mannheim, die mosambikanischen "Os Bandoleiros de Schiller" und eine sehr werktreue Aufführung der Südkoreaner und die erste deutsche Einzelausstellung mit den Film- und Fotoarbeiten des Londoner Künstlers Mark Lewis im Hamburger Kunstverein.

Und Tom.

FR, 15.06.2005

Daniel Kothenschulte kommentiert die Freisprechung Michael Jacksons: "30 lange Stunden, verteilt auf sieben Tage brauchten die Geschworenen, um den 'vernünftigen Zweifel' zu besiegen - und ihn damit ironischerweise dauerhaft zu zementieren. Hätte man den Blödsinn nicht sofort beim Namen nennen können? Ganz offensichtlich ist Jackson einer betrügerischen Sippe ins Netz gelaufen, die zuvor schon einer Supermarktkette außergerichtlich mehr als 150.000 Dollar wegen angeblicher sexueller Belästigung durch das Wachpersonal abgeknöpft hat. So üble Eltern wie dieser bedauernswerte Kronzeuge hatte selbst der in seiner Jugend ebenfalls gründlich ausgebeutete Angeklagte nicht zu bieten. Dazu kam noch ein Staatsanwalt, der so ausdauernd und verbissen nach Jackson jagte wie Elmer Fudd nach Bugs Bunny. Aber Jackson hatte über die verlängerte Jagdsaison verlernt, das niedliche flinke Kaninchen zu sein. Unfähig, seiner Verbitterung Ausdruck zu verleihen, erinnerte Michael Jackson zuletzt an die Titelfigur aus Victor Hugos Roman 'Der Mann, der lachte' - und der in Wahrheit ein durch eine grausige Operation entstelltes Gesicht zur Schau tragen musste."

Weiteres: Werner Balsen berichtet von starken Zweifeln an der These des chilenischen Wissenschaftlers Victor Farias, Salvador Allende sei ein Rassist und Antisemit gewesen. Besprochen wird Joschka Fischers Buch "Die Rückkehr der Geschichte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 15.06.2005

In einem Artikel über den verbotenen schwarzen, an Mekka erinnernden Kubus Gregor Schneiders, der im Rahmen der Biennale auf dem Markusplatz aufgestellt werden sollte, zitiert Rainer Haubrich den Künstler: "'Provokation war nicht mein Ziel", sagt Schneider, 'mich interessieren Räume.' Auch fasziniere ihn die formale Nähe der Kaaba zum Kanon der minimalistischen Kunst. 'Möglicherweise haben beide mehr miteinander zu tun, als uns bekannt ist', so Schneider. Er habe während der Planungen auch den Rat streng religiöser Moslems eingeholt. Ihm gehe es um einen Dialog der Kulturen, nicht um Konfrontation. Der Künstler überlegt nun, die Arbeit möglicherweise in London oder vor dem Berliner Reichstag zu realisieren."

FAZ, 15.06.2005

Steht die Malerei der "Brücke", die zur Zeit in einer Ausstellung der Berliner Nationalgalerie zu ihrem hundertsten Geburtstag gefeiert wird, vor einer Neubewertung? Der Historiker Christian Saehrendt weist eine durch die spätere Ächtung in der Nazizeit heute weitgehend vergessene Anfechtbarkeit des Expressionismus für nationalistisches und nationalsozialistisches Gedankengut nach. "Im Sommer 1933 sehen die Anhänger des deutschen Expressionismus, inzwischen eine heterogene Koalition von Museumsleuten, Galeristen, NSDAP-Mitgliedern und Künstlern, die Chance, der 'Brücke' unter der Parole eines 'Nordischen Expressionismus' im Nationalsozialismus einen Platz an der Sonne zu verschaffen... Doch Hitler entscheidet bald anders, denn er identifiziert expressionistische Kunst mit der verhassten Weimarer Republik. Es folgt die bekannte Stigmatisierung des Expressionismus als 'entartet'." Saehrendt ist Autor einer Monografie über "'Die Brücke' zwischen Staatskunst und Verfemung".

Der Michael-Jackson-Prozess wird gleich an zwei Stellen kulturhistorisch aufbereitet - auf Seite 1 des politischen Teils und in der Leitglosse des Feuilletons. Für Dietmar Dath ist "das 'Schwarze' im Pop nach einer mal offen, mal verdeckt ausgereizten Konvention der Kulturindustrie immer das Triebhafte." Jackson habe "wie alle Großen seines Genres dieses Klischee bedient - er war der erste männliche Popstar, der sich in Videos in den Schritt griff". Heute aber brauche die Popwelt "keine Schwarzen mehr, um die Pionierarbeit des Tabubruchs zu erledigen". Auch für Edo Reents trieb Jackson "all die Posen verrucht-obszönen Rockertums wie ein spätzeitlicher Prinz auf die Spitze".

Weitere Artikel: In einem weiteren Leitartikel auf Seite 1 annonciert Matthias Rüb das Ende einer "Antiamerikanischen Illusion" , die im Protest gegen den Irak-Krieg die "Wiedergeburt Europas" (so Habermas und Derrida in ihrem denkwürdigen "Kerneuropa"-Artikel) sah, welches nun friedlich verschieden sei. Im Feuilleton zieht Jordan Mejias Parallelen zwischen dem Jackson-Prozess und dem Broadway-Theaterstück "Doubt", in dem es um Promis vor Gericht geht. Reiner Burger gibt den neuesten Stand bei der Renovierung von Dresdens Historischem Grünen Gewölbe bekannt. Rainer Hermann stellt originelle Jugendprojekte des Goethe-Instituts in Kairo vor. Hannes Hintermeier eröffnet eine Reihe mit Porträts deutscher Verlegerinnen - den Anfang macht Tanja Graf, die Gründerin des erfolgreichen Schirmer & Graf-Verlags. Walter Haubrich schreibt zum Tod des portugiesischen Lyrikers Eugenio de Andrade.

Auf der Medienseite setzt Michael Hanfeld seine Berichterstattung zur Verfassungsklage der ARD gegen die ihrer Meinung nach zu geringe Gebührenerhöhung fort. Auf der letzten Seite meditiert Jürgen Kaube über die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen an Gerhard Schröder vor dem Hintergrund der heutigen, von Schröder zu verantwortenden Bildungspolitik. Und Dirk Schümer schreibt ein Profil des italienischen Kulturministers Rocco Buttiglione.

Besprochen werden der neue "Batman"-Film, Johannes Kalitzkes Musiktheaterwerk "Inferno" nach Peter Weiss in Bremen und ein Festival zu Ehren des Ballettmeister August Bournonville in Kopenhagen.

NZZ, 15.06.2005

Der Rechtsphilosoph Horst Dreier betreibt Verfassungskunde und erteilt der Bundesrepublik seinen Segen für die Auflösung des Bundestages via Misstrauensvotum. "Es sind drei Verfassungsorgane, die in ihrem gleichgerichteten Wirken den Weg zu Neuwahlen freimachen müssen. Wenn sie es tun, sich dabei der Zustimmung aller politischen Parteien sicher sein können und im Einklang mit der breiten Mehrheit des Wahlvolkes handeln, dann steht eine Aushöhlung der Verfassung nicht zu befürchten. Es wird Zeit, sich nach mehr als einem halben Jahrhundert stabiler bundesrepublikanischer Demokratie von der gängigen Perhorreszierung eines 'Appells an das Volk' zu lösen und die verbreiteten Weimar-Phobien mit ihren schiefen historischen Parallelen hinter sich zu lassen. Bonn war nie Weimar, und Berlin wird es nicht werden."

Weitere Artikel: Gemeldet wird der Tod des spanischen Autors Jesus Moncada. Paul Jandl überblickt noch einmal eine Reihe von Inszenierungen bei den Wiener Festwochen und bescheinigt vielen von ihnen "politisch korrekte Mittelmäßigkeit". Herausragend seien allerdings die Tschechow-Bearbeitungen von Arpad Schilling ("Die Möwe") und Luc Perceval ("Onkel Wanja"). "Perceval brilliert mit Drastik und mit stiller Ironie. Seine Figuren sind auf schöne Art erbärmlich." Ansonsten "bleibt sich das Großspektakel, das noch bis zum 19. Juni dauert, bis zur Verwechselbarkeit treu".

Besprochen werden die Schau "Picasso surreal 1924-1934" der Fondation Beyeler in Riehen, einige Konzerte des Feldkirch-Festivals und Bücher, darunter Ibrahim Aslans Ägypten-Roman "Die Spatzen vom Nil" und Hans Kernens Ratgeber " Arbeit als Ressource" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 15.06.2005

Die Amtsübernahme des Reformer-Präsidenten Chatami "markierte einen Wendepunkt in der iranischen Kunstszene", schreibt Martina Doering, die das Museum für Zeitgenössische Kunst in Teheran besucht hat. "Maler, Zeichner und Bildhauer, die ihre von der Staatsführung als unislamisch und unheroisch gescholtenen Werken im Verborgenen geschaffen hatten, traten an die Öffentlichkeit. Junge Künstler eroberten sich neue Bereiche, erschlossen sich andere Mittel und Möglichkeiten des Ausdrucks, ob mit Video, Installationen oder Konzeptkunst. Dutzende Galerien und Kunstzentren entstanden, Biennalen, nationale Art-Expos und Verkaufsmessen wurden organisiert." Damit wird es bald vorbei sein, fürchtet der Museumsdirektor Sami Azar. Denn der nächste Präsident, der am 17. Juni gewählt wird, wird wahrscheinlich ein Konservativer sein.

SZ, 15.06.2005

"Hier stand ein schwarzer Angeklagter vor einer Jury aus Weißen, Latinos und Asiaten." Andrian Kreye deutet den Prozess als Ausdruck der wieder stärker werdenen Rassenkonflikte in der amerikanischen Gesellschaft. "Für den amerikanischen Rassismus hatte der Prozess gegen Michael Jackson eine Bedeutung wie der Sechstagekrieg für den europäischen Antisemitismus. Angesichts des Bösen im Einzelfall findet man ungestraft neue Formen für alte Ressentiments. Da fand sich die Angst einer puritanischen weißen Gesellschaft vor der vermeintlich bedrohlichen schwarzen Sexualität genauso wie der Widerspruch zwischen individueller Freiheit und dem Zwang zum permanenten gesellschaftlichen Konsens, unter dem so genanntes lautes Verhalten nur in Form von Entertainment oder Schrullen der oberen Zehntausend geduldet wird."

Petra Steinberger berichtet von einer aufsehenerregenden Studie, in der Gregory Cochran (der Homosexualität schon mal als ansteckend bezeichnet) die überdurchschnittliche Intelligenz aschkenasischer Juden genetisch erklären will. Karl Forster wippt begeistert im Takt, als Bruce Springsteen beim Auftakt der Deutschlandtournee "Devils & Dust" in München "seine Geschichte lebt". Rudolf Steinberg, Präsident der Universität Frankfurt am Main, verteidigt die Verlagerung der Judaistik in ein neues Zentrum für Ostasienstudien in Marburg. "Was ist da los mit dem Marien-Hof-Staat? " Auf der Medienseite poltert der ehemalige OSZE-Medienbeauftragte Freimut Duve gegen die Schleichwerbung bei der ARD und warnt vor der "Einfaltquote der Werbeerlöse".

Besprochen werden Christopher Nolans Actionfilm "Batman Begins" (Nolan "versucht auch hier, die ein oder andere intelligente Idee einzuschmuggeln", meldet Tobias Kniebe), Ry Cooders Album "Chavez Ravine", zwei Comics, die sich an einer realistischen Darstellung des Holocaust versuchen, Pascal Crocis "Auschwitz" und Joe Kuberts "Yossel - 19. April 1943", Roger-Pol Droits Prosastücke zur Frage "Was Sachen mit uns machen" sowie Erwin Kochs Roman "Der Flambeur" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).