Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2005. In der Literarischen Welt erzählt Georg Klein, was einem durchschnittlichen deutschen Kulturschurken in Schanghai so zustößt. In der SZ äußert sich Christina Weiss skeptisch über eine Vereinigung der Kulturstiftungen von Bund und Ländern. Die ersten Eindrücke von der Biennale in Venedig sind zwiespältig. Die NZZ schildert sie als das "das Katerfrühstück, durch dessen Verzehr man zu Besinnung und Nüchternheit zu gelangen hofft".

FAZ, 11.06.2005

Die Biennale von Venedig feiert viele Abschiede, schreibt Thomas Wagner, "überraschende und beklemmende, heitere und befreiende - von der Dominanz der Länderpavillons, von der chaotischen Überfülle vieler ihrer Vorgängerinnen, von der Befürchtung, die Kunst der Gegenwart verliere sich in Event und Spektakel, von der Illusion, Engagement und guter Wille seien in der Kunst schon genug." Von Tino Sehgals im vorhinein viel beraunten, aber nicht dokumentierbaren Kunstaktionen im deutschen Pavillon zeigt sich Wagner allerdings nicht so begeistert: "Tino Sehgal hat sein Publikum schon in bessere Geschichten verstrickt. Was ein Ereignis hätte sein können, das man nicht so leicht vergisst, schrumpft zum Show-Effekt. Das ändern auch Gespräche über Ökonomie nicht, die nebenan zu führen sind. "

Weitere Artikel: Edo Reents merkt in der Leitglosse an, dass im Staatsgefängnis von Corcoran, in das Michael Jackson eingewiesen werden könnte, auch ein gewisser Charles Manson sitzt. Gemeldet wird, dass Brigitte Kronauer den Georg-Büchner-Preis erhält und dass Theo Angelopoulos womöglich mit Michelle Pfeiffer drehen wird. In seiner Gastrokolumne stellt Jürgen Dollase den jungen Pariser Koch Pascal Barbot und sein Pariser Restaurant Astrance vor. Ellen Kohlhaas vergleicht die drei Händel-Festspiele in Halle, Göttingen und Karlsruhe. Wulf Segebracht gratuliert dem Schriftsteller Christoph Meckel zum siebzigsten Geburtstag. Martin Kämpchen erinnert daran, dass im aufstrebenden Indien auch manches im Argen liegt und nennt hier Kinderarbeit und ungesetzliche Hochzeiten im frühesten Pubertätsalter.

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage erinnert Clementine Kügler an die sozialistische Politikerin und Autorin Maria Martinez Sierra. Abgedruckt wird außerdem Michael Krügers Laudatio auf den FAZ-Redakteur Henning Ritter, der jüngst den Börne-Preis erhielt.

Auf der Medienseite annonciert Stefan Niggemeier das Ende der Jürgen-Fliege-Talkshow im Ersten. Und Yvonne Pioch stellt den Internetservice newintown.de vor. Auf der Literaturseite vergleicht Friedmar Apel drei verschiedene Schiller-Ausgaben. Besprochen wird außerdem der Roman "Horacios Geschichte" des kolumbianischen Autors Tomas Gonzalez.

Besprochen werden Fatih Akins Dokumentarfilm "Crossing the Bridge", eine Ausstellung der Konzeptkünstlerin Louise Lawler im Hamburger Kunstverein und eine Ausstellung über Beethoven und das Geld im Beethovenhaus Bonn.

In der Frankfurter Anthologie analysiert Gert Ueding das Gedicht "Hoffnung" von Friedrich Schiller:

"Es reden und träumen die Menschen viel
Von bessern künftigen Tagen,
Nach einem glücklichen goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen,
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung! (...)"

Welt, 11.06.2005

In der literarischen Welt erzählt Georg Klein von einem Lyriker, der in China verschütt geht. "... Gewiß versteht man sich hier in Shanghai ohne Scham und ohne Koketterie darauf, aus ihrer Not eine gewinnbringende Tugend zu machen. Ich behaupte das einfach. Ich nehme mir heraus, unser putziges Köln und die chinesische Metropole so platterdings in einen Vergleich zu setzen. Ich habe in beiden Städten mein Glück gesucht, habe in Köln reüssiert und in Shanghai bekommen, was einem durchschnittlichen deutschen Kulturschurken an Schicksal zusteht."

Besprochen wird außerdem Joschka Fischers "Die Rückkehr der Geschichte", das Roger Köppel etwas wolkig vorkommt. "Der Außenminister glaubt nicht an Verträge nach dem Vorbild des alteuropäischen Kräftegleichgewichts souveräner Nationalstaaten. Ihm schwebt eher eine Art Globalisierung der Europäischen Union vor, also die Verbreitung der postnationalen Idee geteilter Souveränitäten. Man könnte auch sagen: Fischer will ein großräumiges politisches Wohngemeinschaftsmodell, in dem sich möglichst viele Völker versammeln sollen, um das allgemeine Konfliktrisiko zu vermindern. Wie bei allen Wohngemeinschaften wird am Ende allerdings auch in dieser Konzeption nicht deutlich, wer am Ende wofür die Verantwortung trägt."

SZ, 11.06.2005

Im Interview zieht Christina Weiss nach drei Jahren eine Bilanz ihrer Zeit als Kulturstaatsministerin. Einem zweiten Anlauf zur Fusion zwischen Bundeskulturstiftung und Kulturstiftung der Länder steht sie skeptisch gegenüber: "Ich habe mich lange und vehement für die Fusion eingesetzt, solange ich glauben konnte, dass die Länder während der Verhandlungen eine echte Verständigung suchten. Im Verlauf der Debatte habe ich allerdings den Eindruck gewonnen, dass es nicht wirklich um gemeinsame Ziele ging. Die Bundeskulturstiftung ist ein starkes Förderinstrument für international ausgerichtete und innovative Projekte. Ein Land wie Deutschland braucht das dringend. Und man darf nicht vergessen, dass die Projekte der KSB in den Bundesländern stattfinden, es gibt ja keinen länderfreien Bundesraum. Sollte man durch eine Fusion die Möglichkeit der Förderung solcher Projekte verringern und stattdessen dafür sorgen, dass das Geld für die Restaurierung oder den Ankauf von historischem Kulturgut quotiert in die Länder geht, dann käme bei mir allerdings Misstrauen auf."

Weitere Artikel: Katajun Amirpur informiert uns darüber, "wie Europa die iranische Reformbewegung stärken kann". Lothar Müller hat schon ein Gratulationsporträt der designierten Büchner-Preis-Trägerin Brigitte Kronauer (mehr) geschrieben. Gemeldet wird überdies, dass der Roswitha-Preis an Julia Franck (mehr) geht. Jörg Heiser ist über das Gelände der in diesem Jahr an das Konzept "Themenpark" angelehnten Kunst-Biennale in Venedig geschlendert, auf der als zweiter Sachverständiger auch der Kunsthistoriker Beat Wyss unterwegs war. Das zwanglose Musikfestival des Pianisten Lars Vogt stellt Jörg Königsdorf vor. Der Geburtstagsglückwünsch für den Autor William Styron zum 80. Geburtstag kommt von Fritz Göttler

Besprochen werden eine Inszenierung der Oper "Manon Lescaut" von Robert Carsen an der Wiener Staatsoper und Peter Lichtefelds Film "Playa del Futuro", eine englischsprachige Geschichte des Oxford English Dictionary und der neue Band mit Erzählungen des Autors Christoph Meckel, dem bei dieser Gelegenheit auch gleich zum 70. Geburtstag gratuliert wird (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende verbittet sich Rebecca Casati die Klagen von Frauen, die unter Männern zu leiden hatten. "Angela Merkel wusste immer: Wer sich beschwert, ist ein Opfer. Und wer ein Opfer ist, kriegt keine Macht. Weil sie sich nie beschwert hat, bekommt sie bald Macht. Ist das so einfach? Ja, das ist so einfach."

Weitere Artikel: Martin Zips stellt die Journalistin Katharina Wulff-Bräutigam vor, die als Hippie-Kind so manches mitgemacht hat - darunter sehr viel schlimmere Dinge als Partys an der Isar, "wo sich nackte Erwachsene mit 'Wir gehen mal kurz bumsen' ins Gebüsch verabschiedeten." Der Autor Joachim Bessing bekennt, in der Stimme von Brian Ferry das "Weltall knistern" zu hören. Vorabgedruckt wird Kai Weyands Erzählung "Am Dienstag stürzen die Neubauten ein". Im Interview bekennt die Pippi-Langstrumpf-Darstellerin Inger Nilsson: "Ich bin wohl die Einzige auf der Welt, die nie ein Pippi-Langstrumpf-Buch gelesen hat."

TAZ, 11.06.2005

Zwiegespalten zeigt sich Brigitte Werneburg nach dem Gang über die diesjährige Kunst-Biennale in Venedig. Das Niveau ist hoch, aber Weniges macht wirklich Eindruck: "Doch so gern man sie noch immer unverbraucht sieht: Nicht Louise Bourgeois selbst sollte ihr Werk in die Zukunft des 21. Jahrhunderts neu fortschreiben. Das möchte man den jungen Künstlern zugestehen. Doch die setzen weiterhin verstärkt auf Videoinstallationen. Die wenigsten von ihnen aber finden hier zu einer eigenen Sprache, gerade weil in den Filmen so viel gesprochen wird. Ohne Geschichte und vor allem ohne die Moral der Geschichte kommt der Betrachter nicht davon und so quält er sich mit Erkenntnissen, die in ein Tagebuch gehören, nicht aber in die Welt; oder damit, dass er Lexikonwissen und ein paar Zahlen als politische Statements verstehen soll."

Weitere Artikel: Jochen Schmidt hat eine Erzählung übers Fotografieren geschrieben, die er Susan Sontag widmet. In der Serie "Rot-Grün, wir danken dir" stellt Jörg Sundermeier fest: "Rot-Grün verdanken wir die weit gehende Selbstabschaffung der außerparlamentarischen Linken." Gerrit Bartels gratuliert Brigitte Kronauer zur Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis. Dirk Knipphals kommentiert Diskussionen um Nationalkultur und Kulturnation. Besprochen wird der Film "Kombat Sechzehn".

Für die taz zwei hat sich Jörg Schallenberg im "African Village" des Augsburger Zoos umgesehen und hat nicht gefunden, was hier Skandal gemacht hat: "schwarze Menschen als exotische Objekte, als Un- oder Untermenschen in trauter Einheit mit der Tierwelt in einer offenbar zeitlosen Dörflichkeit". Mit ziemlicher Gelassenheit sieht der Italien-Korrespondent Michael Braun die derzeitig etwas aufgeregten politischen Verhältnisse in Deutschland. Marcus Stölb berichtet vom Besuch Franz Münteferings im Marx-Haus.

Im tazmag-Dossier erzählt Dominic Johnson die Geschichte von Tippu Tip, Sklavenhändler und Kolonialgouverneur: "Hamed bin Muhammed bin Juma Rajad el Murjebi, bekannt und gefürchtet als Tippu Tip, erlag am 13. Juni 1905 in seiner Heimatstadt Sansibar im Alter von rund 70 Jahren der Malaria. Als er starb, war sein Lebenswerk bereits auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet: Die jahrhundertealten arabischen Handelsimperien in Ostafrika waren vor dem Ansturm der europäischen Eroberung zerfallen. (...) Tippu Tip, der das alte System zu nie gekannter Größe hatte bringen wollen, erwies sich gegen seinen Willen als Agent der neuen Zeit - eine tragische Figur, in der man zugleich die Warlords der Gegenwart wiedererkennt."

Weitere Artikel: Hans Pfitzinger berichtet vom Drum und Dran des Neubaus von Thomas Manns Münchner Villa. Herumliegen nicht verboten - und eine Schwulensauna an der nächsten Ecke: Jan Feddersen freut sich über das "froheste der Mahnmale", das, wie wir uns zu erinnern glauben, eigentlich als Holocaust-Gedenkstätte geplant war. Cornelia Kurth macht uns mit der Kopflaus näher bekannt.

Besprochen werden die neue Essaysammlung des Cultural-Studies-Theoretikers Stuart Hall, der Band "Blinde Gewalt", der Gespräche mit Rechtsradikalen versammelt, ein Essay von Lytton Strachey, neue Jugendbücher mit Pferden und ein Westernroman, den Clint Eastwood lieber nicht verfilmen wollte.

Und Tom.

FR, 11.06.2005

Elke Buhr, die auf der soeben eröffneten Kunst-Biennale in Venedig unterwegs war, rät, diesmal die traditionellen Länderpavillons eher links liegen zu lassen: "Jenseits der Mauern des engen Biennale-Gartens liegen die vielen Palazzi, in denen mittlerweile nicht nur der größere Teil der nationalen Pavillons zu suchen sind, sondern auch die interessanteren: Aus Ländern, die andere Geschichten zu erzählen haben als immer wieder nur die vom Bild, dem Museum und seiner Kritik. In der Gemeinschaftsschau zahlreicher lateinamerikanischer Staaten, in dem Video 'Bocas de Ceniza' von Juan Manuel Echavarria, singen Menschen Lieder über den Kolumbianischen Bürgerkrieg in die Kamera, und den Schrecken in ihrem Blick wird man nicht wieder vergessen." Silke Hohmann stellt die Ausstellungen der Biennale-Direktorinnen Maria de Corral und Rosa Martinez vor.

Weitere Artikel: In times mager schreibt Hans-Jürgen Linke im Wesentlichen über das Wetter. Ina Hartwig hat sich "Kaddisch vor Morgengrauen", das belletristische Debüt des bisher für allerlei andere Dinge berühmten Michel Friedman (Wikipedia) vorgenommen: ein Trivialroman, wenngleich ein gut gemachter.

Besprochen werden ein Auftritt des Rappers Nelly in Frankfurt und die neueste Ausgabe des Gießener Festivals "Theatermaschine".

NZZ, 11.06.2005

Nach den Großereignissen der letzten Biennalen in Venedig empfindet Samuel Herzog die "BV 51" als "das Katerfrühstück, durch dessen Verzehr man zu Besinnung und Nüchternheit zu gelangen hofft - und wenn man den Anlass unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, dann ist er auch recht gut gelungen."

Florian Coulmas berichtet in einem "Schauplatz Japan", dass sich durch die Wirtschaftskrise auch in der japanischen Mittelschicht tiefgreifende Veränderungen ergeben haben. Das Modell des treusorgenden Ehemanns, der seine Familie versorgt und sein Leben lang in ein und der derselben Firma arbeitet funktioniert auch hier kaum mehr: "Das Brotverdiener-Modell der Familie ist obsolet. Schon mehr als 60 Prozent aller Haushalte beruhen heute auf zwei Einkommen. Unterdessen geht die Geburtenrate weiter zurück, die Zahl der Scheidungen steigt, und Eheschließungen werden immer länger hinausgeschoben. Alternative Partnerschaftsformen nehmen zu."

Außerdem gratuliert Michael Braun Christoph Meckel zum Siebzigsten. Besprochen werden eine Ausstellung über "Jüdischen Kitsch" in Bad Hohenems, die 18. Berner Tanztage, Edward Upwards Roman "Reise an die Grenze" und eine Ausgabe der Schriften Richard Wagners auf CD-Rom.

Literatur und Kunst wartet mit einem Schwerpunkt über russische Literatur und einem zweiten Schwerpunkt über Anton Bruckner auf. Olga Martynova schreibt über die Tradition der russischen Literaturzeitschriften, die heute ohne staatliche Subventionen existieren müssen. Felix Philipp Ingold liest Andrei Sinjawskis Lagerbriefe, die in Russland als Buch erschienen sind. Maja Turowskaja liest Leonid Zypkins Dostojewski-Roman "Sommer in Baden-Baden". Ulrich M. Schmid betrachtet einen Bildband mit den gesammelten Tätowierungen russischer Strafgefangener. Ferner schreibt Dorothea Redepenning über die Sinfonien Anton Bruckners "als Herausforderung", und Peter Hagmann hört sich einige wegweisende Bruckner-Interpretationen auf CD an. Dagmar Hoffmann-Axthelm legt einen Essay über den "viel strapazierten Begriff" der künstlerischen Authentizität vor. Und schließlich erinnert Ursula Pia Jauch an Jean-Henri Maubert de Gouvest der mit seinen "Irokesischen Briefen" im Jahr 1752 ein "Zeugnis freien Denkens und frühen Aussteigertums" schuf.

In den Zeitbildern erinnert Cristina Karrer an die Konflikte im Kongo, wo - wie einst im ehemaligen Jugoslwien - systematische Vergewaltigungen von Frauen zu den Techniken des Terrors und der Kriegsführung zählen.