Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2005. Die taz interpretiert Habermas' Kerneuropa ohne Frankreich und Krzeminskis Kriegsessay mit Lacan. Die NZZ besucht die Expo 2005 im japanischen Aichi. In der Berliner Zeitung bringt Meg Stuart die Kunstblase zur Explosion.

TAZ, 07.06.2005

Kann aus dem "Non" und dem "Nee" etwas Gutes erwachsen, fragt sich Robert Misik. Jürgen Habermas hat ihm gestern in der SZ (mehr hier) nicht so richtig Hoffnung gemacht: "Ziemlich abwegig scheint freilich, dass Habermas immer noch auf ein Kerneuropa hofft, das voranschreitet, während die anderen zaudern. Wie Kerneuropa ohne Frankreich denkbar ist, darüber verliert der Pontifex Maximus der Kritischen Theorie erstaunlicherweise kein Wort. Oder hält er es ohne Frankreich für vorstellbar? Hätte er uns schon sagen können. Jedenfalls, Deutschland soll dabei sein. Europa retten, dies ist für Habermas das letzte Projekt, für das sich die abtretenden 68er stark machen sollen. Würden sich Schröder und Fischer dafür noch einmal in die Riemen werfen, 'ihr Abgang gewänne an Kontur'. Schön gedacht, lieb gehofft."

In der Reihe theorie und technik deutet Isolde Charim den Text von Adam Krzeminski zu den unterschiedlichen Erinnerungen in Europa an den Zweiten Weltkrieg mit Jacques Lacan und kommt zu dem Ergebnis: "Das Verschwinden der differierenden nationalen Erzählungen bedeutet keineswegs die Vorherrschaft der historischen Wahrheit, sondern vielmehr das Aufkommen eines neuen Mythos: Die nationalen Heldenlegenden werden ersetzt durch jene eines abstrakten Leidens und eines verallgemeinerten Opfertums. Die moralische Gleichsetzung aller Opfer des Zweiten Weltkriegs ist längst über den Revisionismus hinaus zu einem allgemeinen Diskurs geworden, der die allgemeine Anerkennung des Leidens einfordert - sei es jenes der Deutschen unter den Bombardements der Alliierten oder jenes der Vertriebenen."

Weitere Artikel: Jochen Schmidt setzt die Reihe "Rot-Grün, wir danken dir" fort. Besprochen werden das neue Album von Coldplay und eine große Retrospektive in der Münchner Pinakothek der Moderne, die den "Antiarchitekten" Frei Otto würdigt.

Schließlich Tom.

FAZ, 07.06.2005

Heinrich Wefing malt schon mal eine künftige CDU-Kulturpolitik aus, von der er sich vor allem eine Verschmelzung der Kulturstiftungen des Bundes und der Länder erhofft, und nennt einige Kandidaten für das Amt des Staatsministers für Kultur, darunter die CDU-Politiker Norbert Lammert, Christoph Stölzl und Karin von Welck. Christian Geyer kommentiert jüngste Äußerungen Jürgen Habermas' und Daniel Cohn-Bendits zum Ende von Rot-Grün. Jürg Altwegg interpretiert die Zustimmung der Schweizer zum Schengen-Abkommen als Niederlage der populistischen Schweizer Partei SVP. "kdeu" meldet, dass ein bisher anonymes Barock-Gemälde des Prado dem malerischen Dunkelmann Georges de la Tour zugeschrieben werden konnte. Eleonore Büning berichtet, dass im Rahmen der Selbstabschaffung der deutschen Kultursender auch die Reihe "Musik der Gegenwart" des RBB nach fast 200 Konzerten eingestellt wurde. Gina Thomas lässt die Shortlist des Orange-Preises für britische Frauenliteratur Revue passieren und erzählt die Geschichte dieses Preises. Uwe Walter gratuliert dem Althistoriker Geza Alföldy zum Siebzigsten. Jürgen Kaube gratuliert dem Rechtshistoriker Dieter Simon zum Ebensovielten. Abgedruckt wird Henning Ritters Dankesrede für den Börne-Preis.

Auf der Medienseite erzählt Nina Rehfeld die Geschichte des Nachrichtensenders CNN, der 25 Jahre alt wird. Aus diesem Anlass hat sie auch den Gründer des Senders, Ted Turner interviewt. Und Matthias Schümann hat sich beim Hörspielsymposium an der Eider in Rendsburg historische Hör-Experimente von Rolf-Dieter Brinkmann angehört.

Auf der letzten Seite erklärt der katholische Priester Uwe Michael Lang die liturgischen Auffassungen Benedikts XVI., der die Bibel nach streng katholischem Glauben nicht dem Kirchenvolk zu lesen geben, sondern sie in der liturgischen Praxis zu Fleisch werden lassen wolle. Alexander Jürgs würdigt das Lebenswerk des karitativen Rockers Bob Geldof, der neue Wohltätigkeitskonzerte plant. Und Andreas Rossmann hat sich neue Stücke deutscher Autoren bei den Ruhrfestspielen angesehen.

Besprechungen gelten einer Ausstellung über die Thomas-Mann-Rezeption der letzten fünfzig Jahre in Lübeck, dem Lyriktreffen in Münster und Adriana Hölszkys Oper "Der gute Gott von Manhattan" in Dresden.

NZZ, 07.06.2005

"Eine Mischung aus Jahrmarkt und ernsthaften Anliegen" ist die Expo 2005 im japanischen Aichi, findet Ulf Meyer. "Das Thema der Expo, 'die Weisheit der Natur', wurde von fast allen Teilnehmern hartnäckig ignoriert. Der 'Menschenzoo' der Nationalpavillons, der vor Anbruch des Zeitalters des Massentourismus traditionell die Hauptattraktion einer Weltausstellung war, ist auch in Aichi noch zentral: Die 120 Länderpräsentationen sollten nach Wunsch der Veranstalter eine 'interkulturelle Symphonie' ergeben, kommen tatsächlich jedoch kaum über das Niveau einer Tourismusmesse hinaus."

Weitere Artikel: Joachim Güntner rekapituliert die Erfolgsgeschichte der Reihe "Wissen" des C.H.Beck-Verlags, die seit nunmehr zehn Jahren erscheint. Schweden hat 2005 zum Jahr des Designs erklärt (mehr hier), meldet Ursula Seibold-Bultmann.

Besprochen werden in einer Doppelrezension Puccinis "Manon Lescaut" und Franz Lehars "Lustige Witwe" in Wien und Bücher, darunter ein aus dem zwölften Jahrhundert stammender philosophischer Roman des klassischen arabischen Philosophen Abu Bakr Ibn Tufail, Andrej Blatniks Erzählband "Der Tag, an dem Tito starb", sowie Erwin Einzingers Roman "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 07.06.2005

Die Choreografin Meg Stuart fängt an der Volksbühne an, und sie erklärt im Interview mit Michaela Schlagenwerth, auf welche Weise sie die "Kunstblase" verlassen will, um sich dem wirklichen Leben zu nähern: "Ich habe Tausende von Stunden mit Bewegungsrecherchen im Studio verbracht, jetzt schicke ich die Tänzer zur Recherche auf die Straße. Ich bitte sie beispielsweise, sich auf der Straße ein Double zu suchen, jemanden, der ihrer Ansicht nach ihnen auf irgendeine Weise ähnlich zu sein scheint. Sie sollen versuchen, mit dieser Person in Kontakt zu treten, Gespräche zu führen, ein Video mit ihr zu drehen, sie ins Studio einzuladen. Oder ich bitte die Tänzer ohne Geld in die Stadt hinaus zu gehen und vierundzwanzig Stunden am Stück dort zu bleiben, auch draußen zu schlafen. Was passiert mit einem, wie verändern sich die Wünsche in einer solchen Situation, gibt es Gewohnheiten, die einem trotzdem wichtig bleiben? Solche Experimente mit den Modalitäten des eigenen Denkens, die interessieren mich."
Stichwörter: Geld, Stuart, Meg

FR, 07.06.2005

Der islamische Fundamentalismus neuer Prägung löst sich immer mehr von seinen traditionellen Wurzeln, um seinen Mitgliedern auch in Europa eine transnationale Identität zu verschaffen, die weder die EU noch der überkommene Glaube bieten können, beobachtet Michael Lüders. "Muslim in Europa zu sein heißt: Ich habe eine Identität, ich gehöre einer Bruderschaft im Glauben an." Dabei sei der Neofundamentalismus "kein islamisches Phänomen, und nicht zwangsläufig propagiert er Gewalt. Sein Pendant sind die evangelistischen Bewegungen in den USA, jene 'Wiedergeborenen Christen', die Präsident Bush zu einer zweiten Amtszeit verhalfen."

Zufrieden berichtet Peter Michalzik von den "aufregenden" Mannheimer Schillertagen, auf denen er natürlich viel Schiller gesehen hat, klassisch von Thomas Langhoff und unkonventionell von Rimini-Protokoll. Bei letzteren scheint sich das Theater "vor lauter Transparenz" aufzulösen. Jürgen Roth spottet über das zähste "aller akuten Kleister- und Nebelwörter", die Reform. In times mager sorgt sich Ina Hartwig um provinzielle Töne aus der Union. Alexander Schnackenburg beobachtet, wie sich nach dem Scheitern der Bewerbung als Kulturhauptstadt 2010 nun jegliche Kulturbegeisterung in Bremen verflüchtigt.

Besprochen werden eine Dresdner Ausstellung zum Thema Künstler und Erwerbsarbeit, die "bemerkenswerte" Aussagen über die Absurditäten in einer Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht, hervorbringt, das fünfte Album "Get behind me, Satan" der Musikgruppe "White Stripes" und die CD "Untiltet", in der "Autechre" Kriegstöne zu Electro verarbeitet.

SZ, 07.06.2005

Zwei Schauen beschäftigen sich mit der expressionistischen Künstlervereinigung "Die Brücke", die vor hundert Jahren von vier Studenten gegründet wurde. Lothar Müller zieht die Schau der Stiftung Moritzburg bei Halle derjenigen in der Neuen Nationalgalerie Berlin vor. Denn "zu den Vorzügen der Sammlung Gerlinger gehört der Nachdruck, den sie auf die Selbstinszenierung der 'Brücke'-Maler und auf das legt, was man heute 'Selbstvermarktung' nennen würde. So sind in Halle nicht nur eine Fülle von Plakaten zu sehen, die den Weg von den Dresdner Galerien zur von Max Pechstein vorangetriebenen 'Neuen Sezession' in Berlin illustrieren. Es werden auch, in einem schönen Seitenstrang, die Idee der 'passiven Mitgliedschaften' und der Jahresgaben, die Allgegenwart der Vignetten und 'Logos', das Ausgreifen ins Kunsthandwerk und die Reklame für das 'Institut für modernes Malen' in Pechsteins Berliner Atelier nachgezeichnet."

Im kleinen, feinen jüdischen Museum Hohenems besucht Petra Steinberger eine Ausstellung über jüdischen Kitsch. Vieles gibt's im Internet. "Frechen Gojim, also Nichtjuden, kann man ein 'I didn't kill your God'-T-Shirt vor die Augen halten oder den Hinweis 'I may be blonde but I"m Jewish' und denen, die es dann immer noch nicht kapiert haben, ein 'Kish Mir den Tuches' (Küss mir den Hintern). Für Haushunde gibt es koscheres Futter und für die etwas Gesetzteren Entsprechungen des 'Röhrenden Hirsches', also vor allem nostalgische Erinnerungen, fröhliche Chassidim und Schtetl-Romantik: Das ist ein anderer Kitsch, einer, der sich nicht mehr in die lang vergangene Goldene Zeit des Jüdischen Reiches Israel zurücksehnt, sondern in eine andere, nicht so lang vergangene, die des osteuropäischen Judentums."

Weiteres: Anlässlich der Volksabstimmung über ein recht restriktives Gesetz zur künstlichen Befruchtung rekapituliert Henning Klüver noch einmal vorhergehende Debatte. Oliver Fuchs glaubt, die Rockbands Oasis und Coldplay veranstalten mit ihren gleichzeitig herausgebrachten Alben ein Popduell. Fuchs favorisiert den "Mut zur Stumpfheit" der Gallagher-Brüder. Ira Mazzoni lernt auf einem internationalen Erfahrungsaustausch in Leipzig, wie man die verbrannten Bücher der Anna-Amalia-Bibliothek retaurieren kann. Der Hamburger Senat wünscht, dass Chilehaus und Speicherstadt Teil des Weltkulturerbes der UNESCO werden, berichtet Till Briegleb.

"Wir haben große deutsche Komponierkunst vor uns - daran gibt es nichts zu deuteln." Ergriffen stellt Reinhard Schulz die für die Münchner Philharmoniker geschriebene "Messe" für großes Orchester von Jörg Widmann vor, die unter Christian Thielemann nun erstmals aufgeführt wurde. In der Zwischenzeit plaudert Joachim Kaiser über verschiedene Beifallsformen und den Abend, als der Geiger Wolfgang Schneiderhan mit einem Panthersprung den Abend rettete. Gustav Seibt überbringt der Schriftstellerin und "großen Dame" Geno Hartlaub Glückwünsche zum Neunzigsten. Christine Dössel schreibt zum Tod der Wiener Burgschauspielerin Susi Nicoletti. Das Kanzleramt wird eingestellt, im ZDF und bald auch in der Wirklichkeit, bemerkt Christopher Keil in seinem Resümee der erfolglosen Fernsehreihe im Medienteil.

Besprochen werden Yash Chopras Melodram "Veer und Zaara", ein großes Melodram aus Indien, Paulo Coelhos neuer Roman "Der Zahir", ein von Volker Reinhardt herausgegebener Band mit Porträts zwölf "Deutscher Familien" sowie eine Sammelband mit Reisebereichten aus "Berlin, Paris, Moskau" der Zwischenkriegszeit (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).