Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2005. In der FAZ erklären zwei Jungforscher, warum sie am lieber am MIT forschen, obwohl sie lieber in Europa leben würden. Die taz bringt einen Nachruf auf den Tresor, Berlins berühmtesten Club. In der SZ erklärt Florian Coulmas, dass japanische Schulbücher, die die japanischen Verbrechen in China leugnen, nicht an Schamkultur, sondern an Rechtslastigkeit laborieren.

FAZ, 15.04.2005

EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso hat erklärt, ein europäisches MIT aufbauen zu wollen. Die beiden Jungforscher Rafael Mickiewicz und Michael Köris erklären, warum sie die Realisierbarkeit dieser guten Absicht bezweifeln, und warum sie am MIT forschen, obwohl sie als Pole beziehungsweise Deutscher lieber in Europa leben würden: "Wir forschen, einer in der Biologie, einer in der Materialwissenschaft, am echten MIT, dem in Boston, dem mit tausend Professoren, zehntausend Mitarbeitern, 59 Nobelpreisträgern, einem Jahresbudget von 1,8 Milliarden Euro und einer Frau, der Neurobiologin Susan Hockfield, als Präsident. Wenn wir über den Campus gehen, sehen wir überall Baustellen. Im Nordosten werden bald die Neubauten für das McGovern-Institut für Gehirnforschung und das Picower-Institut für Lernen und Gedächtnis eröffnet. Hier kommt man aus dem Staunen nicht heraus."

Weitere Artikel: Michael Jeismann kommentiert einen Satz, den Angela Merkel in einem Zeit-Interview hat fallen lassen: "Radikal wird man, wenn man zum Beispiel die Singularität des Holocaust nicht anerkennt." Dietmar Dath fordert in der Leitglosse ein Verbot der SPD. Thomas Wagner stellt einige großformatige Gemälde vor, in denen der kolumbianische Maler Fernando Botero die Folterungen von Abu Ghraib (Bilder hier und hier und hier) anprangert. Edo Reents meldet den Tod des Rock'n'Rollers Johnnie Johnson. Arnold Bartetzky stellt Christoph Mäckels "empfindsam gestaltete Fassaden" am Leipziger Alten Markt vor. Karen Krüger erklärt in einem historischen Hintergrundartikel, dessen aktueller Anlass nicht ganz deutlich wird, dass die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi auf kolonialistische Rassetheorien der Belgier und Deutschen zurückgeht. Kerstin Holm würdigt die Verdienste Wladimir Tarnopolskis, des Leiters des Zentrums für zeitgenössische Musik in Moskau um eben diese.

Auf der Medienseite berichtet Karen Krüger, dass der Stern in der Causa Hans-Martin Tillack nun eine Klage gegen das Vereinigte Königreich Belgien vor dem Internationalen Menschengerichtshof in Straßburg einreicht - dem Reporter war wegen einer unliebsamen Recherche über Korruption in Brüssel unter dem Vorwand, er betreibe selbst Korruption, sein gesamtes Archiv requiriert worden. Jürg Altwegg berichtet, dass der Rüstungshändler Serge Dassault das Medien-Imperium um den Figaro zerschlägt, um sich einzig und allein auf diese Zeitung zu konzentrieren.

Auf der letzten Seite erinnert Eleonore Büning an das letzte Konzert der Berliner Philharmoniker in der Nazizeit vor sechzig Jahren. Paul Ingendaay greift die Korruptionsaffäre um einen Literaturpreis für den Schriftsteller Ricardo Piglia auf und beklagt ein weiteres Mal die von ihm schon mehrfach gegeißelten Manipulationen bei spanischsprachigen Literaturpreisen. Und Alexander Jürgs porträtiert den amerikanischen Textil-Produzenten Don Charney, der seine T-Shirts nicht in der Dritten Welt produzieren lässt und damit Geld verdient und einen gewissen Kult erzeugt.

Besprochen werden Todd Solondz' Film "Palindrome", eine Ausstellung mit Magrittes Fotos in Brüssel, eine Ausstellung über Martin Walser in München und der dem Akkordeon gewidmete Dokumentarfilm "Accordion Tribe". Außerdem bespricht Michael Borgolte Manuel Fernandez Alvarez' Buch über "Johanna die Wahnsinnige".

NZZ, 15.04.2005

Boris Schumatzky fasst noch einmal Versuche in Russland zusammen, die Freiheit der Kunst zu beschneiden. So wurden jetzt die Kuratoren der Ausstellung "Vorsicht, Religion!" im Moskauer Sacharow-Zentrum für Menschenrechte nach zweijähriger Verhandlung schuldig gesprochen und zu mittleren Geldstrafen verurteilt - wegen Volksverhetzung. Tatsächlich hatten orthodoxe Gläubige die Ausstellung gestürmt und mehrere Exponate zerstört. "Die Kirchenleitung hat sich bisher nur selten mit radikalen Fundamentalisten in den eigenen Reihen solidarisiert. Sie weigert sich aber auch, antisemitische Äußerungen und militante Aktionen zu verurteilen. So macht der wachsende gesellschaftliche Einfluss der Kirche auch den Antisemitismus langsam gesellschaftsfähig."

Volker S. Stahr zeichnet die Versuche von in Deutschland lebenden Christen und Muslimen nach, miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Kontakte zwischen den Kirchen sind schwierig, weil es auf muslimischer Seite nicht den einen Verein gibt, der die Mehrzahl der Muslime repräsentiert. Die Arbeit an der Basis funktioniert sehr viel besser, doch auch progressive Vertreter der islamischen Gemeinde werden "seltsam einsilbig", wenn es um radikale Muslime geht: "Sie reden nicht darüber."

Besprochen werden Wagners "Tristan und Isolde" in der Pariser Bastille-Oper und eine Beuys-Ausstellung in der Londoner Tate Modern.

Auf der Filmseite berichtet Birgit Heidsiek über einen problematischen Trend zu High-Budget-Produktionen im Hongkong-Kino: "Gerade kleinere Filme seien dringend notwendig, um neue Talente aufzubauen, weiß aber Nansun Shi, Produzent des Erfolgsfilms 'Infernal Affairs'." Zudem werden immer weniger Filme produziert. Die Jahresproduktion ist "von einst über 100 Titeln im vergangenen Jahr auf 65 Produktionen gesunken".

Weiteres: Mau. kündigt das Festival des Dokumentarfilms in Nyon an. Paul Jandl war bei einem Vortrag des Germanisten und Medienwissenschaftlers Lutz Koepnick, der über den Film noir und Adorno sprach. Besprochen werden Istvan Szabos Film "Being Julia" und der Film "Nobody Knows" von Hirokazu Kore-eda.

FR, 15.04.2005

In der Debatte um den Werteunterricht, der an Berliner Schulen eingeführt werden soll, fragt Ursula März, ob Werte überhaupt in einem Curriculum standardisierbar sind und wie demokratisch das dann wäre. Und sie schließt: "Wenn Werte wirklich Werte sind, dann sind sie die Luft, die wir atmen. Kein Schulfach."

Markus Brauck erklärt, warum sich Päpste umbenennen (weil zum Beispiel Sergius IV. sonst Pietro Boccadiporco geheißen hätte) und was die Namenswahl für die Amtführung verheißt. In Times mager weiß Hans-Jürgen Linke zu berichten, dass sich schon Mozart mit verschenkten Eintrittskarten in die Charts manövirert hat. Besprochen wird die Ausstellung frommer Nazarener-Kunst in der Frankfurter Schirn.

TAZ, 15.04.2005

Nach einer letzten Party an diesem Wochenende schließt der Tresor, Berlins berühmtester Club. Detlef Kuhlbrodt schreibt den Nachruf: "Auch die Leute aus den Alternativbereichen der Technomusik haben in der Tuna-Bar, dem freundlichsten Ort sozusagen im Tresor, oft Musik gemacht. Leute wie DJ Matchbox, der aus Hannover kam, mit 17 zum ersten Mal hier war, drei Jahre lang eine Technosendung machte und sonst noch in einem Plattenladen arbeitet. Für ihn wie für die Sozialisation vieler anderer Leute war der Tresor 'extrem wichtig', sagt er. Das war ja auch so ein Auf und Ab. Erst dauernd hin, dann nicht mehr so oft, dann wieder. Die Übergänge waren fließend; von den Star-DJs zu den brandenburger Nachwuchsauflegern, von den 47 Angestellten zu den Besuchern. Das war das grundsätzlich demokratische Element, dass der DJ nicht herausgehoben auf einer Bühne auf die Leute runterguckte."

Weitere Artikel: Auf der Meinungsseite erklärt uns im Interview Lord Richard Layard, Gründungsdirektor des Center for Economic Performance an der London School of Economics, wo das Glück liegt: "Das Wohlbefinden korrespondiert mit Aktivitäten im linken Stirnlappen des Gehirns. Bei negativen Gefühlen ist hingegen eine gesteigerte Aktivität im rechten Stirnlappen festzustellen. Wir können sehen, dass diese Messungen übereinstimmen mit dem, was Menschen selbst über ihr Wohlbefinden aussagen." Und auf den Tagesthemenseiten widmen sich Dirk Knipphals, Michael Rutschky, Dorothea Hahn und Alexander Cammann dem vor 25 Jahren verstorbenen Jean-Paul Sartre.

Besprochen werden die Ausstellung "Bauen" im Jüdischen Museum Berlin und CDs mit Indie-Rock.

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 15.04.2005

Heinz Bennent gastiert mit einem Tschechow-Abend in Berlin. Im Interview mit Christina Tilmann erklärt er seine Arbeitsweise: "Ich mache im Film genau das Gleiche wie im Theater. Ich hasse es, wenn die Kamera bedient werden muss. Als ich mit Ingmar Bergman gearbeitet habe, hat er mir gesagt: 'Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du dir eine günstige Position zur Kamera suchst, höre ich sofort auf. Die Kamera gibt es nicht für dich.' Das ist ein idealer Regisseur, der weiß, dass es auf den Menschen ankommt, nicht auf die Kamera."

Welt, 15.04.2005

Hanns-Georg Rodek reibt sich die Augen vor einem Wahlkampfspot, den der Regisseur für Labour gedreht hat. Er zeigt Premier Tony Blair und seinen Intimfeind, den Schatzkanzler Gordon Brown, in trauter Kaminzimmer-Atmosphäre: "Der Premier ergreift einen blauen Bleistift und wirft eine Liste der Errungenschaften seiner Regierung aufs Papier, insbesondere die wirtschaftliche Stabilität, natürlich ein Verdienst des Kanzlers. Gordon äußert im Brustton der Überzeugung, daß es darum gehe, im Team zu arbeiten, und Tony ergänzt lächelnd, wie sich ihre Partnerschaft bewährt habe. Der Zuschauer staunt - und schüttelt sich ob soviel Verbogen- und Verlogenheit. Die vier Minuten wirken so glaubwürdig wie Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder als harmonisches Linksaußen-/Mittelstürmerpaar auf einem Wahlspielfeld."

SZ, 15.04.2005

Gewohnt sachkundig bringt der Japanologe Florian Coulmas etwas Nüchternheit in die Debatte um die japanischen Schulbücher, in denen von Japan begangene Gräuel verharmlost werden. Hier gehe es, meint Coulmas, nicht um eine kulturelle Besonderheit der Schamkultur, wie etwa Ian Buruma in der taz behauptet (hier), sondern um eine im Land selbst umstrittene Instrumentalisierung der Geschichte: "Dabei können Kritiker in Korea und China dank der Rolle, die der japanische Staat hier spielt, die interne Diskussion in Japan einfach ignorieren. Dass sich die überwiegende Mehrheit der Geschichtslehrer darum bemüht, den japanischen Schülern ein realistisches Bild von der Geschichte ihres Landes in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu vermitteln; dass die rechtslastigen Schulbücher, die der Stein des Anstoßes sind, höchstens an einem Prozent der japanischen Schulen verwendet werden; dass sich viele japanische Intellektuelle darum bemühen, mit ihren koreanischen und chinesischen Kollegen ein sachliches und aufrichtiges Gespräch zu führen, um zu kompatiblen Geschichtsbildern zu kommen; all das wird von chinesischen und koreanischen Medien ignoriert. Und der japanische Staat macht es ihnen leicht. Würde er die Schulbuchzulassung einer unabhängigen Historikerkommission überlassen, wäre das Problem aus der Welt."

Weiteres: Till Briegleb sieht das neueröffnete Haus der Fotografie in Hamburg mit der Gundlach-Sammlung und dem Spiegel-Archiv auf einen guten Weg gebracht: Jetzt braucht das Haus nur noch einen Etat und ein paar Mitarbeiter. Alexander Menden beteiligt sich genüsslich an Spekulationen, wer die nackte Bewunderin auf Lucian Freuds Bild "Der Maler wird von einer nackten Bewunderin überrascht" ist. Jürgen Schmider notiert, dass bei den englischen Buchmachern die Wetten auf Kardinal Ratzinger bei 3:1 stehen. Zum fünfzigsten Geburtstag von McDonald's präsentiert die Redaktion ein kunterbuntes Happy Meal. Katharina Müller beobachtet eine Verödung der Landschaftsarchitektur, während Balkone und Gärten blühen: "Das private Grün boomt also, das öffentliche Grün steckt in der Krise." Ralf Dombrowski genoss auf den Jazzwoche in Burghausen Bobby Hutcherson, McCoy Tyner und musikalische Tugendhaftigkeit. Tim B. Müller berichtet von einem Berliner Vortrag der amerikanischen Richterin Margaret H. Marshall über vergleichendes Recht. Harald Eggebrecht hat in München Mozarttrios mit Anne-Sophie Mutter, Andre Previn und Daniel Müller-Schott gehört, Jürgen Schmieder war in Marcel Schierins Film zur NS-Ästhetik "Ewige Schönheit" .

Auf der Literaturseite warnt Burkhard Müller vor Schillers Balladen, geradezu jugendgefährdend sei diese traurige Form "regressiver Volkspädagogik": "Das Schlimmste an dieser und anderen Schiller-Balladen steckt jedoch nicht in Aufbau oder Inhalt, sondern in ihrem monotonen Rhythmus. Er macht das Lesen zu einem einschläfernden Vorgang, das Deklamieren zu einer unmöglichen Forderung und vollends das notenbewehrte Abhören des auswendig Gelernten, alternierend zwischen gequälter Stockung und der Erlösung blinden Fortratterns, zum peinigenden Erlebnis." Lothar Müller sieht dann in Heinz Erhardt den wahren Erben Schillerscher Dichtkunst. Besprochen werden Dieter Kühns "Schillers Schreibtisch" und Frank Rexroths "Deutsche Geschichte im Mittelalter" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).