Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2005. In der taz erklärt Ian Buruma am Beispiel Japans und Deutschlands den Unterschied zwischen Scham- und Schuldkultur, außerdem erklärt Joschka Fischer, warum er so vieles herunterschluckt und was das mit ihm macht. Spiegel Online analysiert die Krise der Zeitungen. In der FAZ erklärt Fareed Zakaria: Demokratie braucht Geduld. Der  Tagesspiegel interviewt Jorge Semprun. Die FR meint: Man sollte über der Diskriminierung der Weißen die Diskriminierung der Schwarzen nicht aus den Augen verlieren. Die Welt empfiehlt Kanada.

TAZ, 13.04.2005

Im Kulturteil geht die Dutschke-Debatte in die siebte Runde. Für Isolde Charim nimmt Wolfgang Kraushaars Buch die linken Nostalgiker ins Visier, nicht die alten, sondern die jungen, die sich mit wohligem Schauer Filme wie "Die fetten Jahre sind vorbei" angucken. Besprochen werden eine vier-CD-Box mit Aufnahmen der Folkdiva June Tabor und die Multimedia-Ausstellung "Making Things Public" im ZKM Karlsruhe.

Japans Premierminister Junichiro Koizumi besucht einmal im Jahr den Yasukuni-Schrein in Tokio. Dort liegen auch Kriegsverbrecher aus dem Zweiten Weltkrieg. Schämt er sich nicht für diese Verbrechen? Auf der Meinungsseite erklärt Ian Buruma im Interview den Unterschied zwischen Schuld- und Schamkultur. "Beides existiert in beiden Kulturen nebeneinander, wenngleich in der einen die Schamkultur, in der anderen die Schuldkultur überwiegt. Zur Kultur der Schuld gehört diese sehr christlich grundierte Vorstellung, man muss seine Schuld eingestehen und um Vergebung bitten. Kein japanischer Politiker würde auf die Idee kommen, sich hinzuknien, um für historische Verbrechen um Verzeihung zu bitten, wie Willy Brandt es im ehemaligen Warschauer Ghetto getan hat. Die Japaner - auch Linke und Liberale - empfänden es als extrem taktlos, allzu viele Worte über die Verbrechen, die sie begangen haben, zu verlieren. Das ist, sehr grob gesagt, die Differenz zwischen einer Schuld- und einer Schamkultur."

614 Zeilen Interview mit Joschka Fischer auf den Tagesthemenseiten: "Dass ich ab und an auch als arrogant empfunden werde, will ich gar nicht bestreiten, manchmal auch als ungeduldig und hart in der Sache argumentierend. Aber als Außenminister kann ich in der Öffentlichkeit nicht mehr so direkt werden. Also schlucke ich vieles herunter, da wirke ich dann in dem einen oder anderen Gespräch nicht gerade wie Franz von Assisi, das gebe ich gerne zu."

Susanne Knaul porträtiert die Schauspielerin Hanna Marron, die 1933 mit ihrer Familie von Berlin nach Palästina auswanderte. "Sie erzählt vom Theaterleben, vom Regisseur Gottfried Reinhardt, Sohn des legendären Max, und vom Schauspieler Emil Jannings: 'Er hasste Kinder, vor allem die, die auf der Bühne standen.' Als 'Riesen' empfand ihn die kleine Hannele, als er ihr grob Vaseline ins Gesicht schmierte, damit es aussieht, als triefe ihr Rotz aus der Nase. Die Tochter von Gerhart Hauptmanns 'Fuhrmann Henschel' sollte dadurch echter wirken. Sie spricht mit bebender Stimme, als sie Emil Jannings nachahmt, als grause es ihr heute noch. Sie erzählt ohne Vorbehalte, mal ungeduldig aufbrausend, dann wieder versöhnend, großzügig, umgarnend: 'Warum lachen Sie denn gar nicht?'"

In der tazzwei fragt sich Dirk Knipphals, warum eigentlich nie über die "harten" Frauen der Kriegsgeneration gesprochen wird. "Ich würde hiermit gern anregen, das nachzuholen. Schließlich: Warum sollen nur die Männer von Nazizeit und Krieg deformiert worden sein, die Frauen aber nicht? Dafür spricht nichts - und die Zeit, da man Täterschaft pauschal den Männern und den Opferstatus den Frauen zuordnete, sollte vorbei sein. Stimmt schon: kalte, harte Frauen - das hat offensichtlich etwas Peinlichkeitsbesetztes. Man redet irgendwie nicht gern drüber." Laut Knipphals gibt es eigentlich nur zwei Bücher, die über dieses Thema sprechen: Peter Kohls Biografie seiner Mutter und Uta Ruges "Windland". Ruge hat "ihre eigene Familiengeschichte während der Nazizeit auf Rügen aufgearbeitet - das einzige mir bekannte Beispiel, in dem direkt die NS-Erziehung der eigenen Mutter beschrieben wird." (Hier eine Leseprobe)

Schließlich Tom.

Weitere Medien, 13.04.2005

In Spiegel Online setzt Frank Patalong seine äußerst lesenswerte Recherche über die Zeitungen, ihre Krise und das Internet fort: "Wo bitte geht's hier nach Morgen?" Die traurige Ausganglage: "Zwar steckten die deutschen Verleger über Jahre beharrlich ihre Köpfe in den Sand, doch längst ahnen auch sie: Ihren Zeitungen kommen nicht nur die Anzeigen, sondern auch die Leser abhanden. Anders als in alten Zeiten mutieren Heranwachsende nicht mehr automatisch zu Zeitungslesern. Während ihnen die Alten also treu bleiben, fehlt den Zeitungen der Schwung frischer Leser - was die Modernisierung der Produkte auch nicht erleichtert." (Hier der erste Teil von Patalongs Recherche, als dritten Teil wünschte man sich nun eine Erkundung der möglichen Gegenstrategien.)

Außerdem erkennt der Filmkritiker Georg Seeßlen in dem päpstlichen Todesspektakel von Rom eine "gewaltige Bilder- und Erzählmaschine", die "jede aufklärerische Skepsis" unterdrückt.

NZZ, 13.04.2005

Anna Winterberg schildert die Situation älterer Menschen in Indien, die - anders als das Klischee es will - kein umsorgter Lebensabend im Schoße ihrer Großfamilie erwartet, sondern Ausgrenzung und Armut. Besprochen werden eine Schau französischer Meisterzeichnungen des 17. und 18. Jahrhunderts im Schlossmuseum Weimar, Sydney Pollacks neuer Thriller "The Interpreter" und Bücher, darunter Curzio Malapartes Kriegsgemälde "Kaputt" und eine Biografie Johanna der Wahnsinnigen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 13.04.2005

Jorge Semprun kommentiert im Interview die Flut von Filmen, Büchern und Medienberichten zum Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus: "Das überrascht mich nicht. Es überrascht mich auch nicht, dass so viele Deutsche den Film 'Der Untergang' sehen wollten. Ich fand ihn sehr interessant. Ich habe Wim Wenders' scharfe Kritik daran verfolgt, aber mich hat nicht schockiert, dass Bruno Ganz Hitler menschliche Züge verleiht. Mich schockiert viel mehr, wenn man glauben machen möchte, dass die SS-Leute in den Konzentrationslagern Unmenschen gewesen sein sollen. Das war vielleicht das Einzige, was mir an 'Schindlers Liste' von Steven Spielberg nicht gefiel. Musste der Lagerleiter sich auch noch sexuell absonderlich verhalten? Warum? Er kann ein guter Familienvater und Musikliebhaber sein und gleichzeitig ein Konzentrationslager leiten. Das ist das Geheimnis des Menschen, dass er so etwas unter einen Hut bekommt. Die Gleichung sexueller Sadist gleich politischer Sadist ist zu einfach."

FAZ, 13.04.2005

In einem Vorabdruck aus seinem Buch "Das Ende der Freiheit?" legt der amerikanische Journalist Fareed Zakaria dar, dass eine Demokratisierung von Ländern nur mit Geduld und ökonomischer Stützung gelingen kann. Ein bloßes Abhalten von Wahlen jedenfalls reicht nicht: "Im Irak zum Beispiel ist der Legitimationsbedarf so groß, weil es sich um ein außergewöhnliches Unternehmen handelt. Da die Vereinigten Staaten in den Irak einmarschiert sind, mussten sie Wahlen abhalten, um sich möglichst schnell eine Legitimation zu beschaffen. Dabei opferte Amerika die Möglichkeit, die Demokratie in einem schrittweisen und nachhaltigen Prozess aufzubauen. Dieses forcierte Vorgehen könnte am Ende auf Amerika zurückfallen und zu einem Albtraum werden." Das Buch erscheint in diesen Tagen im Verlag "Frankfurter Allgemeine Buch". (Hier eine weitere Leseprobe).

Im Aufmacher erzählt Jordan Mejias von der neuesten Geschäftsidee des AOL-Gründers Steve Case, der mit einem Gesundheitskonzern namens revolution.com die medizinische Prävention popularisieren will: "Warum keine Beratungsstelle im Supermarkt? Warum keine Preislisten für Konsultationen und Operationen, abrufbar jederzeit vom heimischen Computer aus?" (Alle Informationen aus Mejias' Artikel finden sich auch hier.)

Weitere Artikel: In der Leitglosse zieht Jürgen Kaube die Potenziale der Erziehungswissenschaften zur Behebung der Bildungsmisere in Zweifel. Mark Siemons besucht das Berliner T-Com-Haus, das mit den Mitteln der Telekommunkation und zu den geltenden Gebührensätzen des Hauses eine schöne neue Kommunikationswelt vorgaukelt. Edo Reents berichtet über den Fall der Schlagersängerin Gracia, die beim Grand Prix Eurovision Deutschland vertreten darf, weil ihr Produzent angeblich ihre Singles aufkaufte, um sie in die Hitparade zu hieven. Gemeldet wird, dass Nordkorea nicht am Korea-Schwerpunkt der Buchmesse teilnehmen wird. Dietmar Dath schreibt zum Tod der feministischen Theoretikerin Andrea Dworkin. Und Hartmut Ellrich beklagt den Zustand des Schlosses Friedrichswerth unweit von Gotha.

Auf der Medienseite empfiehlt Karen Krüger den Fernsehfilm "Der Stich des Skorpions" über einen Fluchthelfer, der von der Stasi eingesperrt und gefoltert wurde. Henrike Rossbach erkundet, was von der beendeten Serie "Berlin, Berlin" bleibt (möglicherweise ein Kinofilm zum Beispiel).

Auf der letzten Seite belegt Malte Herwig nach Plagiatsvorwürfen gegen den Bestsellerautor Frank Schätzing, dass sich auch schon Thomas Mann in meeresbiologischen Dingen der Kunst des "sinn- und gedankenvollen Abschreibens" befleißigte. Andreas Rossmann meldet, dass die katholische Karl-Rahner-Akademie in Köln trotz der Kürzung der Mittel durch die Erzdiözese weitermachen will. Und Thomas Wagner porträtiert die Künstlerin Vanessa Beecroft, deren schwarz, rot und gold frisierte Nackte in der Neuen Nationalgalerie in der letzten Woche ein anmutiges Deutschlandbild abgaben.

Besprechungen gelten dem Film "Das Goebbels-Experiment", dem Festival Heidelberger Frühling und einer Installation des Künstlers Tim Hawkinson im Whitney Museum.

Welt, 13.04.2005

Glaubt man Holger Kreitlings Artikel auf den Kulturseiten, dann ist Kanada die Schweiz Nordamerikas: "Das Einwanderungsland Kanada ist eine kulturelle Erfolgsgeschichte. Die Integration funktioniert aus vielerlei Gründen, auf verblüffende Weise gelingt es dem Land trotz zweier Sprachen, eine eigene Identität zu behaupten. Ureinwohner fühlen sich ebenso als Kanadier wie Menschen, die erst vor kurzem aus Sri Lanka, der Ukraine oder Chile eingewandert sind. 'Kulturelle Vielfalt' ist ein Regierungsschlagwort, das auf zahlreichen Ebenen benutzt und eingesetzt wird." Auch die Reise Kreitlings wurde von der kanadischen Botschaft finanziert, wie wir am Ende des Artikels erfahren.

Und Hanns-Georg Rodek und Katharina Dockhorn spekulieren schon mal über das kommende Festival von Cannes.

FR, 13.04.2005

Anneli Klostermeier porträtiert den Dramatiker Roy Williams, den "ersten schwarzen Star in Londons New Writing Szene". Der Mann scheint recht bürgerlich zu sein, was Klostermeier offenbar nicht schwarz genug ist. "Man könnte ihn auch als 'coconut', als Kokosnuss, bezeichnen: außen schwarz und innen weiß. Das Nachwuchstalent ist im schicken weißen West-Londoner Stadtteil Notting Hill geboren und wohnt bis heute dort. Schwarze tauchen dort in größeren Gruppen lediglich einmal im Jahr zum Notting Hill Carnival auf, dem marketingträchtigen Sinnbild des multikulturellen London. Williams sagt Sätze wie: 'Vorurteile werden nur verschwinden, wenn die ethnic minorities die englische Kultur und Geschichte verinnerlichen wie ihre eigene.' Und alles in feinstem Britisch, dem man das Intermezzo als (erfolgloser) Schauspieler anhören kann."

In Paris haben einige französische Intellektuelle und jüdische Organisationen einen 'Aufruf gegen Anti-Weißen-Rassismus' lanciert, der seither "höchst kontrovers diskutiert wird", berichtet Martina Meister. Anlass sind Angriffe schwarzer Jugendliche auf Weiße, und zwar offenbar bevorzugt auf jüdische Weiße. Für Meister gibt es keinen Anlass, das Thema so hoch zu hängen, wie es die Unterzeichner des Aufrufs tun. Zwar sollte man schon darüber reden, aber dabei nicht aus dem Blick verlieren, dass Schwarze sehr viel mehr diskriminiert werden. "Es ist, wie so oft, eine Frage der Form. Denn der Appell betreibt im schlechtesten Sinn Schwarz-Weiß-Malerei".

Weiteres: In Times Mager erzählt Peter Iden eine sehr schöne Geschichte aus dem Theater Bochum. Dort wartete das Publikum geduldig mehrere Stunden auf den Hauptdarsteller, dessen Flugzeug ausgefallen war. Schließlich traf er ein und Tschechows "Iwanow" konnte aufgeführt werden. Am Ende: rauschender Applaus, zufriedene Zuschauer, gerührter Hauptdarsteller, glücklicher Intendant. Besprochen werden Sven Hanuscheks Canetti-Biografie, Michael Snows "Biographie of The Walking Woman" und Jörn Jacob Rohwers Gesprächsband "Hinter dem Ruhm" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)
Stichwörter: Dramatiker, Paris, Rassismus, Iwanow

SZ, 13.04.2005

Thomas Urban erzählt die Geschichte der drei Spitzel im Kreml. Vor Wladimir Putin herrschten dort nämlich schon Jurij Andropow, dem Russland die psychiatrische Behandlung kritischer Intelligenz verdankt, und Zar Boris Gudonow: "Godunow stammte nicht aus dem Hochadel, sondern hatte seine Karriere in der Opritschnina begonnen, der Leibgarde und Spitzeltruppe Iwans des Schrecklichen. Er gehörte zu den Führern der gefürchteten Organisation, die wie ein Staat im Staat funktionierte und über allem Recht zu stehen schien."

Weiteres: Petra Steinberger stellt fest, dass Optimisten die weltweiten Ölvorräte positiver einschätzen als die Pessimisten. Robin Detje schreibt zum Tod der amerikanischen Feministin Andrea Dworkin.

Auf der Plattenseite macht Harry Lachner in der improvisierten Musik eine neue "Strategie des Verstummens" aus. Empfohlen werden die neue Platte "Blessed Black Wings" der Sludge-Metal-Band High on Fire und die Geschichte von Lee "Scratch" Perry auf DVD.

Besprochen werden eine "exquisite kleine" Ausstellung mit Hans Memlings Bildern von "wohliger Formenmilde" im Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid, die Ausstellung "Über Schönheit" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, ein enttäuschender "Butterfly Blues" in Hamburg und Bücher, darunter Boris Schugatzkis Roman "Die Suche nach der Vorherbestimmung" und Erdmut Wizislas Geschichte der Freundschaft zwischen Walter Benjamin und Bertolt Brecht (mehr in unserer Bücherschau ab 14).