Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2005. Die FAZ dokumentiert, was Forscher glauben, auch wenn sie es nicht beweisen können, zum Beispiel, dass Babys nach Schönheit selektiert wurden und wir darum alle weiß sind (bis auf die Afrikaner natürlich). Die SZ setzt sich streng mit unserer Wahrnehmung der Tsunami-Katastrophe auseinander, an der unsere Regierung glücklicherweise nicht schuld ist. Die NZZ meldet, dass Basel in den letzten 550 Jahren stetem Wandel unterworfen war.

FAZ, 04.01.2005

Einmal im Jahr stellt John Brockman, der Magnat der in der FAZ einst so gefeierten "Dritten Kultur" eine Frage an die Eliten der Naturwissenschaften, die er in seinem Internetmagain egde.org veröffentlicht. Diesmal lautet die Frage schlicht, was die Forscher glauben, "obwohl Sie es nicht beweisen können". Die FAZ dokumentiert einige Antworten. Die originellste ist entschieden die der Entwicklungspsychologin Judith Rich Harris, die glaubt, dass Babys nach Schönheit selektiert wurden, "Ich nenne es die Selektion der Eltern, weil ich glaube, dass die Neigung, Neugeborene zu töten, die zu einer ungünstigen Zeit auf die Welt gekommen sind, in der Menschheitsgeschichte mitunter aus ästhetischen Rücksichten zurückgestellt worden ist: wenn das Kind auffällig aussah. Das könnte erklären, warum die Europäer sich in so kurzer Zeit von ihren afrikanischen Vorfahren durch die Helle ihrer Hautfarbe unterschieden und sich der Homo sapiens durch auffällig geringe Behaarung gegenüber seinen tierischen Ahnen und vermutlich auch gegenüber dem Neanderthaler auszeichnete. Noch aber wissen wir nicht einmal, ob der Neanderthaler ein Fell besaß."

Weitere Artikel: Henning Ritter konstatiert einen immer schärferen Gegensatz von Arm und Reich in den entwickelten Gesellschaften und fürchtet das neue Aufkommen der sozialen Frage. Dirk Schümer schildert in der Leitglosse den Streit der Nachkommen des flämischen Autors Alfons de Ridder alias Willem Elsschot um das Erbe. Thomas Wagner schreibt zum Tod des Werbekünstlers Charles Wilp. Timo John besucht das vom Architekten Peter Kulka entworfene Bosch-Hochhaus in Stuttgart. Oliver Tolmein erstellt ein Stimmungsbild unter Bundestagsabgeordneten zu dem von Bundesjustizministerin Zypries geplanten Gesetz zur Sterbehilfe (hier der Entwurf als pdf). "km" beschreibt eine Plakataktion des Schweizer Fotografen Michael von Graffenried, die vor Drogen warnt.

Auf der Medienseite erklärt uns Michael Hanfeld "warum wir die Katastrophe erst langsam begreifen". Und Sandra Kegel stellt neue Familienserien im Fernsehen vor.

Auf der letzten Seite warnt Lorenz Jäger vor Auswirkungen des neuen französischen Gesetzes gegen "Homophobie" und "verbale Gewalt gegen Frauen" auf die Meinungsfreiheit. Und Felicitas von Lovenberg stellt den Verlagsmann Jürgen Boos vor, der zum neuen Chef der Buchmesse auserkoren wurde.

Besprochen werden eine Ausstellung der Designklassiker Josef und Anni Albers in New York (mehr hier), eine Ausstellung von Zeichnungen und Grafiken Max Liebermanns in Saarbrücken und eine Ausstellung über Leben und Werk Arthur Rimbauds in Zürich.

TAZ, 04.01.2005

Das "Netzwerk als Leitbegriff der Jetztzeit" beschreibt Robert Misik in der Kolumne Theorie und Technik. Der bestimme auch "das Bild, das wir uns von der Gesellschaft machen". Stand der Begriff Netz vor 15 Jahren noch für "Zwangsstrukturen", aus denen es "kein Entrinnen" gebe, bilde er heute den "Konstrastbegriff zur starren, vertikalen Hierarchie" und sei "definitiv postitiv" besetzt. "Die Netzwerkmetapher ist die Illustration kooperativer Wechselseitigkeit von Strukturen und Individuen, die sich gegenseitig brauchen - der Interdependenz der Gleichen. Das Atom, Leitmotiv der letzten Jahrhundertmitte, evozierte dagegen folgendes Bild: hierarchisch im Inneren strukturiert, nach außen in Relation zu anderen, aber doch auf sich allein gestellt - es war das passende Sinnbild für einen autoritären Individualismus."

Weiteres: Harald Fricke würdigt in seinem Nachruf den Werbekünstler Charles Wilp, der sich selbst als "Künstler im Sinne der Renaissance" sah, als Vertreter der "Entgrenzung von Kunst und Massenkultur" und liefert den Slogan der Afri-Cola-Kampagne nach: "Sexy-mini-super-flower-pop-op-Cola, alles ist in Afri-Cola". Ralf Sotscheck porträtiert Cork, die diesjährige, bisher kleinste Kulturhauptstadt Europas ("Die Leute in Cork sind etwas verrückt, meint man in Irland. Sie sprechen in einem Singsang, sie haben eigene Wörter, wie zum Beispiel "langer", was Trottel, Säufer oder Penis bedeuten kann, und sie schauen immer aufs Meer.")

Besprochen werden schließlich Neuübersetzung von "Moby Dick" und eine Biografie über dessen Autor Herman Melville (siehe hierzu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

FR, 04.01.2005

In ihrem Nachruf auf den Fotografen Charles Wilp beschwören Silke Hohmann und Harry Nutt noch einmal seinen berühmtesten Werbespot herauf: "Zum Aufbruch Deutschlands aus den fünfziger Jahren in die Moderne lieferte Charles Wilp die Bilder - zu den einprägsamsten einer ganzen Epoche zählen seine verwirrend zirpenden und nebulösen Filme für Afri-Cola von 1968. Es war nicht richtig zu hören, was die Sirenen - Amanda Lear war darunter, Donna Summer und Marsha Hunt - hinter der vereisten Glasscheibe sirrten. Auch was sie dort taten, blieb weitgehend undurchsichtig, erst recht, was das alles mit einer Cola zu tun hatte, die nicht die Cola war. Aber ganz egal, die lasziven Lockrufe aus dem unterkühlt-heißen Weltraum-Nymphen-Paradies waren trotzdem zu verstehen. Sie sagten: 'Komm zu uns, auf die andere Seite'. Dahin, wo die neuen Gefühle, Bilder und Sinneswahrnehmungen warten. Dahin also, wo eigentlich alle hinwollten. Nur durften es nicht alle zugeben."

In Times mager bedauert Gunnar Lützow das allmähliche Verschwinden englischer Exzentriker und Spleens.

Besprochen werden Jarg Patakis Dramatisierung von Döblins "Berlin Alexanderplatz" am Schauspiel Hannover, der neue Film "Intime Feinde" von Patrice Lecont und schließlich die Aufsatzsammlung "Die gespaltene Moderne" des Kunsthistorikers und Mitgbegründers der Hamburger Kunsthalle Werner Hofmann (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 04.01.2005

Sieglinde Geisel zieht eine wohlwollende Halbzeitbilanz des Theaterprogramms der Berliner Festspiele, das unter dem Titel "spielzeiteuropa" um eigenes Profil ringt: "Wo sonst bekäme man etwa ungarisches Theater mit deutschen Übertiteln zu sehen?" Markus Jakob nimmt uns mit auf eine Führung durch das Museum der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, das seiner Meinung nach völlig zu Unrecht ein Schattendasein neben den drei großen Madrider Museen führt: "Der Rundgang beginnt zuoberst, im Verwaltungsgeschoss, das auch die Technikräume - Klima, Überwachung - aufnimmt. In der Begeisterung, mit der die Verantwortlichen dem Besucher die Anlage mit all ihren Schikanen vorführen, scheint ihnen die Ironie zu entgehen, die darin liegt, dass die Bildschirme zu diesem Zweck erst eingeschaltet werden müssen." Lutz Windhöfel stellt fest, dass sich Basel in den vergangenen 550 Jahren ganz schön verändert hat.

Besprochen werden Karl Mickels letzter Gedichtband "Geisterstunde" und Lizzie Dorons Erinnerungen an ihre Mutter "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 04.01.2005

In zwei Texten setzt sich das Feuilleton mit der Katastrophe in Südostasien auseinander. Thomas Steinfeld kommt auf folgenden Gedanken: Das "Gute daran" sei offenbar, dass es sich "um ein Unheil handelt, an dem unsere Regierung garantiert nicht schuld ist". "Die Suggestion von Welt- oder Nationalgemeinschaften, die zwangsläufig entsteht, wenn ein großes Unglück eintritt, kommt so fast immer den Regierenden zugute. Der Schiffbruch mit Zuschauern produziert seine ganz unvermeidliche Verlogenheit, weil das große Gefühl des Mitleidens die reale Ungleichheit der Situation erst überspielt, um sie dann nur umso beschämender hervortreten zu lassen." Das zeige sich auch an der "Emphase", mit der über deutsche Opfer gesprochen werde: "als handle es sich um eine herausgehobene Opferklasse". Johannes Willms denkt dagegen über Vermisste, Tod ohne Abschied und die "Ortlosigkeit des Todes" nach.

Weiteres: Henning Klüver beleuchtet die Hintergründe des Ausstellungsbooms in oberitalienischen Städten. Stefan Koldehoff berichtet über einen Streit zwischen der Stuttgarter Staatsgalerie und Sotheby's um die Zeichnungs- und Radierungssammlung "Augsburger Geschlechterbuch" aus dem 16. Jahrhundert. In einem Interview behauptet Sa'd Nimr, Koordinator des Projekts "Museum ohne Grenzen", dass Israel die Kultur Palästinas "vernichte". Dietlind Lerner führt durch die Höhle von Chauvet (mehr), die erst 1994 entdeckt wurde und die vielleicht ältesten Malereien verbirgt. Die Schriftstellerin Salvenka Draculic kommentiert die kroatischen Präsidentschaftswahlen, C.D. das Interesse von Christoph Schlingensief am Intendantenposten des Deutschen Theaters in Berlin. "egge" berichtet, dass der Kunstkritiker John Ruskin die erotischen Bilder von William Turner offenbar doch nicht verbrannt habe und diese sich sicher in den Beständen der Tate Gallery befänden.

Renate Klett resümiert das schwedische Tanzfestival "show off". Tatjana Rexroth führt durch Musikfestivals in Moskau und Sankt Petersburg. Gerhard Matzig verabschiedet Charles Wilp. "klüv" weiß, dass Michelangelos David in einen schützenden Käfig soll. In der Zwischenzeit betreibt Hermann Unterstöger ungebrochen Sprachkritik ("Sontäg"). Kurz vorgestellt wird schließlich der neue Buchmessen-Chef Jürgen Boos.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Bühnenversion von Lars von Triers "Idioten" am Schauspiel Frankfurt und Bücher, darunter eine Studie über Judith und Holofernes in der italienischen Barock-Malerei" und ein Band von Ernst Augustin (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).