Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2004. Die FAZ feiert die allerbeste Perkussionistin der Welt, Evelyn Glennie. Die NZZ freut sich über sensationelle Dokumentenfunde aus dem mittelalterlichen Nowgorod. Die FR besucht Deutschlands spektakulärste Baustelle: die Hamburger Hafencity. In der Welt gesteht Niall Ferguson, dass er etwas über sich gerlernt hat: Er ist ein Linksliberaler. Die taz beklagt die Verwahrlosung und Neidbesessenheit eines Amerikas, das sich in George W. Bushs Gesicht spiegelt. Die SZ bringt schon mal einen Nachruf auf Jassir Arafat.

NZZ, 05.11.2004

Daniel Weiss, Slawist an der Uni Zürich, ist hingerissen über sensationelle Funde privater Korrespondenz aus dem Nowgorod des 11. bis 15. Jahrhunderts. Die Botschaften lauten etwa "Ich habe mein Hemd vergessen - kannst Du mir eines schicken?", geben Auskunft über die Entwicklung der russischen Sprache und wurden auf Birkenrinde notiert: Weiss erläutert: "Erhalten hat sich die europaweit einmalige Privatkorrespondenz dank einem glücklichen Zufall: Die fehlende Drainage des vom hohen Grundwasser permanent durchnässten Bodens verhinderte anders als sonstwo - es ist anzunehmen, dass Birkenrinde rund um die Ostsee als billiges Schreibmaterial Verwendung fand - den Zutritt von Fäulnisbakterien."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel liefert die längst fällige Abrechnung mit dem Genre der von Zeitungsredakteuren so gern verfassten Familien- und Kleinkindkolumnen: "Konsequente Übertreibung und eine zwanghaft muntere Ironie halten den Leser auf Trab." Andrea Köhler schreibt Notizen aus "Amerika am Tag danach". Jurriaan Fransman kommentiert die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh.

Besprochen werden eine Ausstellung des Designers Christopher Dresser im Victoria and Albert Museum und Chorkantaten von Brahms in Zürich.

Auf der Filmseite führt der Filmhistoriker Herve Dumont in eine Retrospektive des Regisseurs Frank Borzage im Filmpodium Zürich ein. Und Marli Feldvoss bespricht die Berliner Ausstellung "Pioniere in Celluloid" über Juden in der frühen Filmwelt.

Auf der Medien- und Informatikseite schickt Florian Harms eine hoffnungsvolle Reportage über das Internet in Syrien: "Ähnlich wie in Iran eröffnen Satellitenfernsehen und Internet die Möglichkeit einer politischen Liberalisierung im Alltag, die das Regime nur schwer kontrollieren kann." "set" berichtet, dass Microsoft dem Kopieren von Software in den Entwicklungsländern durch eine Billigversion von Windows begegnen will. "ras" stellt eine Studie vor, nach der deutsche Zeitungen seit 2000 ein Drittel ihres Werbeaufkommens verloren haben. S.B. stellt den Zentralkatalog Schweizer Bibliotheken im Internet vor. Und "ras" konstatiert anlässlich der Fernsehberichterstattung über die Wahlen in den USA,"dass die Medienmaschine schneller rotiert, als die Ereignisse stattfinden".

FAZ, 05.11.2004

Hingerissen hat Tilman Spreckelsen in Thomas Riedelsheimers Dokumentarfilm "Touch the Sound" "die allerbeste Perkussionistin der Welt" beobachtet: Evelyn Glennie. "Es sind Glennies Hände, denen Riedelsheimers Interesse gilt, die er in Nahaufnahmen einfängt und umkreist, aber auch ihre nackten Füße, mit denen sie unruhig die Vibrationen aufnimmt. Denn die Perkussionistin ist in ihrer Kindheit fast vollständig ertaubt, und es ist der sanften Beiläufigkeit dieses großen Films geschuldet, dass diese Tatsache und ihre Folgen genau insoweit ausgebreitet wird, wie es für die Musik Glennies eine Rolle spielt".

Weitere Artikel: Walter Haubrich beschreibt die Reaktionen spanischer Intellektueller auf den amerikanischen Wahlausgang (große Enttäuschung, versteht sich). Kerstin Holm erklärt, warum sich Putin über den Wahlausgang freut. Regina Mönch berichtet über eine Weimarer Tagung zum "Kommunismus im Museum". Stephan Sahm macht sich Gedanken über den Sinn von Patientenverfügungen. Verena Lueken war dabei, als Arundhati Roy den Sydney Peace Prize erhielt. Jürgen Kaube berichtet über die Tagung einer Enquetekommission in Hamburg, die herausfinden wollte, wie man den Bürger für kulturelles Engagement bezahlen lassen kann, das der Staat nicht mehr finanzieren will.

Auf der letzten Seite porträtiert Uwe Walter den Althistoriker Christian Meier. Michael Gassmann nennt die neue Bach-Orgel für Hamburgs Marienkireche eine "Mogelpackung". Und Frank Rutger Hausmann erzählt, wie brillant Carl Schmitt eine französische Anthologie deutscher Lyrik beurteilte, die 1943 erschien.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Himmelsscheibe von Nebra in Halle, ein Konzert mit Paavo Järvi und dem Cincinnati Symphony Orchestra in Frankfurt/Main, die Ausstellung "Flämischer Glanz" im Bröhan Museum in Berlin, eine Ausstellung von Giovanni Anselmo im Museum Kurhaus Kleve, eine Ausstellung über den Frankfurt Sound im Jazz und eine Ausstellung über Nikolaus II. in der Hermitage Amsterdam.

FR, 05.11.2004

Oliver Herwig besucht Deutschlands spektakulärste Baustelle, die ausnahmsweise mal nicht in Berlin, sondern in Hamburg zu finden ist: die "künftige Hafencity", die große Perspektiven bietet und dennoch nicht genug wagt, so Herwig: "Auf den Illustrationen der HafenCityHamburg GmbH verblasst selbst Herzog & de Meurons spektakuläre Konzerthalle zu einer weißen Masse, die auf dem Kaispeicher A klebt wie zerlaufener Zuckerguss. Überhaupt Großarchitektur. All die Animationen, Statistiken und Hochrechnungen künftigen Lebens an der Elbe können nicht verbergen, dass vor allem Mittelmaß entsteht."

Weitere Artikel: Ruth Spietschka meditiert über das fotografische Autorenporträt und seine verkaufsfördernde Wirkung einst und jetzt. Martina Meister amüsiert sich in Times mager über die Werbekampagne des französischen Senders Pink TV, des ersten Senders in Europa für Schwule. Als Foto dient das berühmte Bild von Kohl und Mitterrand, die in Verdun Händchen halten, und als Werbespruch: "Es gibt mehr als nur den Sex im Leben eines Paares."

Besprechungen gelten dem 7. "European Jazztival" in Elmau und einigen lokalen Ereignissen.

Welt, 05.11.2004

"Anfang der achtziger Jahre war ich in Oxford einer der Tory-Jungen, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan bejubelten, als sie der Sowjetunion, den Gewerkschaften und der galoppierenden Inflation etwas entgegensetzten", schreibt der britische Finanzhistoriker Niall Ferguson. "Für uns bedeutete Konservatismus Freiheit im Sinne freier Märkte und freier Individuen im Gegensatz zum Kollektivismus. Das aber ist nicht mehr das, was die heutige Republikanische Partei unter Freiheit versteht. Vor nicht langer Zeit traf ich einen meiner alten Freunde aus Oxford wieder, der jetzt in Washington wohnt und arbeitet. 'Weißt du', sagte er, 'ich habe mich immer für einen Konservativen gehalten. Aber seitdem ich in diesem Land lebe, habe ich etwas über mich gelernt: Ich bin ein Linksliberaler.'"

TAZ, 05.11.2004

Die taz ist entsetzt. George W. Bush wurde wiedergewählt. Der berühmte Kulturkritiker Gary Indiana ist sich im Kulturteil sicher: "In George W. Bushs Gesicht spiegelt sich die Verwahrlosung und Neidbesessenheit eines Amerikas, das durch Massenmord erschaffen wurde."

"Highway to Hell" heißt es auch auf den Tagesthemenseiten, und der Politologe Marcus Raskin antwortet im Interview mit Bernd Pickert auf die Frage "Was erwarten Sie?": "Erstens, dass die Regierung in der Lage sein wird, einen Krieg ohne Ende zu führen. Zweitens könnten die bürgerlichen Freiheiten in diesem Land weiter eingeschränkt werden, die Bürger werden ausgeforscht und eingeschüchtert, mit allen Auswirkungen, die das auf die freie Meinungsäußerung hat. Drittens wird die arabischstämmige, muslimische Bevölkerung verschärfter Ausforschung ausgesetzt sein. Viertens wird auch noch der Verteidigungshaushalt weiter aufgestockt werden, mit gewaltigen Folgen, denn die US-Wirtschaft ist schwach, und das bedeutet, dass die Armen noch ärmer werden und die Mittelklasse langsam verschwindet."

Die Kulturseiten bieten Trost: Diedrich Diederichsen führt ins Berliner Total Music Meeting ein, das in diesem Jahr des großen Eric Dolphy gedenkt: "Wenn Jazz kritische Theorie wäre, dann wäre Eric Dolphy der Walter Benjamin gewesen: Er ist der große Unvollendete, der zeit seines Lebens und vor allem danach für sein Potenzial fast noch berühmter wurde als für sein auch nicht gerade einflussarmes Werk. Aber fast hätte er alle Menschheitsfragen gelöst und alle Medientheorien überflüssig gemacht."

Besprochen werden außerdem neue Folk-Alben der Sängerin Ana da Silva und des Duos März.

Auf der Medienseite resümiert Christoph Schultheis eine Mainzer Diskussion von Politikmagazin-Moderatoren über ihre bedauernswerte Lage.

Tom.

SZ, 05.11.2004

Der palästinensische Literaturkritiker Hassan Khader versucht schon einmal abzuschätzen, was Jassir Arafat nach seinem endgültigem Tod hinterlassen wird: " Das palästinensische Regime weist ähnlich korrupte Züge auf wie andere arabische Institutionen: Machtmonopol, Vetternwirtschaft, Missmanagement. Die 'Demokratie', die die Autonomiebehörde behauptet, ist oft eine Gefolgschaft, die mit der Anerkennung der Führerschaft Arafats erkauft wird. So vereinnahmen etwa in der zweiten Intifada fundamentalistische Gruppen die palästinensische Nationalbewegung, indem sie Lippenbekenntnisse für Arafat ablegen. Noch ist offen, welche Folgen dies hat."

Weiteres: Christoph Koch erzählt, dass Ivan Shapovalov, der russische Malcolm McLaren, nach seinem Schulmädchen-Duo t.A.T.u. nun eine Schwarze Witwe auf die Bühne schickt. Angeblich hört sie auf den Namen n.A.T.o. Andrian Kreye sorgt sich um die Millionen von Amerikanern, die für Kerry auf die Straße, in Konzerte oder nach Ohio gegangen sind.

Henning Klüver berichtet, dass Italien derzeit über das Massaker an der Division Acqui in Kephallenia, bei dem nach der italienischen Kapitulation rund zehntausend italienische Soldaten von deutschen "Edelweiß"-Einheiten abgeschlachtet wurden. Alexander Kissler kündigt das erste deutsche Sterbehilfe-Gesetz an. Reinhard Schulz hat auf der Münchner Musica Viva Werke von Karl Amadeus Hartmann und Wolfgang Rihm genossen.

Besprochen werden die große Schau spanischer Porträtmalerei aus fünf Jahrhunderten im Prado, Morton Tyldums Film "Buddy", die Berliner Inszenierung der "Herzogin von Malfi" ("Nöter kann Not nicht sein", schreibt ein ziemlich gehässiger C. Bernd Sucher), und Bücher, darunter Cecile Wajsbrots Roman "Im Schatten der Tage", Armin Strohmeyrs George-Sand-Porträt sowie Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).