Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2004. Die NZZ wandelt auf  den Spuren Arno Schmidts in Bargfeld. Die SZ prangert die neue europäische Art der Flüchtlingsentsorgung an der Quelle an. Die FR war dabei, als dem Feuilleton das Totenglöckchen geschlagen wurde. Die taz und die FAZ mögen Michael Thalheimers "Faust"-Inszenierung am Deutschen Theater.

NZZ, 18.10.2004

Uwe Stolzmann war auf den Spuren von Arno Schmidt in Bargfeld und erzählt, wie der junge Germanistikstudent Bernd Rauschenbach zum Gründer der Schmidt-Stiftung wurde oder wie der junge Jan Philipp Reemtsma Schmidt auflauerte, um ihm mal eben die Nobelpreissumme zu schenken. Außerdem hat er versucht, Frau Knop auszuquetschen, Schmidts damalige Haushälterin: "Wie oft sind Sie damals hier gewesen? 'Verschieden.' Sie zögert. 'Alles nach Absprache. Er stand dann schon am Tor und hat mich reingelassen.' Pünktlich musste man sein, sagt Frau Knop, pünktlich; weil es keine Klingel gab. Dann verstummt sie. Man müsste in sie dringen, um Alltägliches aus dem traurig-schönen Leben des Einsiedlers zu erfahren. Etwa, was die Schmidts so aßen. ('Wenn ich gekocht hab: Kartoffelbrei mit Frikadellen. Linsensuppe.') Oder wie er sich bei der Arbeit ruinierte, ein Mann von eiserner Konstitution. (Nescafe: täglich eine Büchse. Schnaps: sechs Flaschen die Woche; Krämer Bokelmann brachte den Korn ins Haus.) Wie oft empfing er Besucher? 'Selten. Ganz selten', sagt Frau Knop. Einmal im Monat? 'O nee, so oft nicht.' Jetzt lacht sie. Einmal im Vierteljahr? 'Oder noch seltener.'"

Weiteres: Der Medizinhistoriker Thomas Rütten präsentiert Hinweise auf einen authentischen Kern von Thomas Manns "Der Tod in Venedig". Aldo Keel meldet den Tod des Schriftstellers Per Hoejholt, der auf sehr dänische Weise elitär und populistisch zugleich gewesen seil soll.

Besprochen werden eine Ausstellung von Zeichnungen der Art brut und der Moderne im Kunstmuseum Solothurn, eine Aufführung von Puccinis "Manon Lescaut" im Opernhaus Zürich, Verena Weiss' Tanztheater "Schatten der Erde" in Luzern und das Abschlusskonzert von Alfred Brendels Zürcher Mozart-Reihe.

TAZ, 18.10.2004

"Punktgenau" bringt Michael Thalheimer den "Faust" am Deutschen Theater in Berlin auf die Bühne, lobt Katrin Bettina Müller. Wenig Drumherum, stattdessen Konzentration auf die Sprache und den Faust in Gestalt von Ingo Hülsmann. "Fast sieht man die Worte auf seiner Zunge, bevor man sie hört. Die gespannten Lippen, die schwellende Ader auf der Stirn: Michael Thalheimer stellt eine Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums wieder her, als säße man plötzlich mit schärferen Brillen und frisch durchgeblasenen Ohren im Theater. Die Stimmen sind wieder laut, ohne Mikroport. Hier wird nicht nur ein Klassiker entstaubt, sondern auch eine Theatersprache."

Weitere Artikel: Dirk Baecker beklagt das Schubladendenken bei General Motors und fordert etwas nebulös eine "Kontingenzkultur", die nicht nur kurzfristig aufs Ergebnis schielt. Jan-Hendrik Wulf fasst einen Konvent der Berliner Volksbühne zur globalen Weltordnung im Vorfeld der US-Wahlen zusammen, auf dem auch die Theorien von Antonio Negri und Michael Hardt diskutiert wurden.

In der zweiten taz äußern sich Jan Feddersen und Daniel Bax kontrovers zum Wirbel über die Figur Mohammed al-Salmawys, die auf der Buchmesse Nagib Machfus vertrat und zuvor durch Zustimmung für Holocaust-Leugner aufgefallen war. Feddersen meint, man hätte Salmawy nicht einladen sollen, Bax dagegen hält die Konzentration auf die Auswüchse des arabischen Diskurses für eine deutsche Obsession. Deutsche Kommunen dürfen nun Spielhallen verbieten, in denen man sich mit Laserpistolen abschießen kann, informiert Christian Rath.

Außerdem: "Gestern fahr ich mit der Tram Richtung Favoriten. Draußen regnts, drinnen stinkts, und ich steh in der Mitten." Peter Unfried erzählt sehr vergnüglich, wie er in Wien vergeblich nach Elfriede Jelinek sucht. Jan Feddersen zitiert süffisant einige Bemerkungen von Christl R. Vonholdt, Gutachterin der Union für die Novelle des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Auf der Medienseite grübelt Wilfried Urbe, ob sich angesichts des Booms der leichten TV-Dokumentationen in Zukunft Bildung nur noch über die Unterhaltung vermitteln lässt.

Und Tom.

FAZ, 18.10.2004

Oha, eine positive Kritik des Gerhard Stadelmaier. An Michael Thalheimers "Faust"-Inszenierung im Deutschen Theater gefällt ihm zumal Regine Zimmermanns "gellend mageres" und "ungeheuer hartes" Gretchen: "Und um so brutaler zu brechen und zu knicken. Starr und total unsüß, ist es das erste Opfer, das diesem fürchterlichen Kerl auf seiner Selbstvernichtungsraserei über den Weg läuft. Blutverschmiert, besudelt am Ende im Kerker, der ihr Bett ist. Woraus sie sich mit einem Schnitt durch den Hals befreit."

Weitere Artikel: Eleonore Büning meldet in der Leitglosse, dass der Bayerische Rundfunk sein Orchester streichen und der SWR seine Orchester fusionieren will, um der so skandalös niedrigen Gebührenerhöhung etwas entgegenzusetzen, und fordert die "Kulturfuzzis" zu Protestbekundungen auf. Laut Niklas Maak zerbricht Opel am Niedergang der Kleinfamilie ("Wozu brauchte man einen geräumigen Wagen mit Platz für drei bis vier Kinder, wenn die meisten Ehen nach dem ersten Kind ohnehin wieder geschieden wurden?") Gina Thomas schreibt zum Tod des englischen Historikers Conrad Russell. Michael Gassmann schreibt einen Nachruf auf Freiburg ältestes Cafe, das Cafe Steinmetz, das demnächst geschlossen wird. Eleonore Büning gratuliert dem Pianisten Nelson Freire zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Dietmar Dath von der Wiederauferstehung der Serie Miami Vice in neuem Gewand.

Auf der letzten Seite besucht Julia Voss das Naturkundemuseum Sarawak auf Borneo, das einst von Alfred Russel Wallace, dem Konkurrenten und Freund Darwins gegründet wurde. Jürg Altwegg berichtet über Scharmützel zwischen der streitbaren Dürrenmatt-Witwe Charlotte Kerr und dem Autor Hugo Loetscher, der ihr nicht genehme Erinnerungen an die Beerdigung des Dichters veröffentlichte. Und Hans-Dieter Seidel porträtiert den Schauspieler Wolfgang Maria Bauer, der künftig in einer ZDF-Serie den Kommissar Siska geben wird.

Besprochen werden ein Auftritt des Saxofonisten Archie Shepp beim Berliner "Black Atlantic"-Festival, eine Retrospektive des Malers Wolfgang Peuker in der Kunsthalle Rostock, Elias Merhiges Film "Suspect Zero", Racines "Phädra" und Karst Woudstras "Würgeengel" (nach Bunuel) in Bonn und Sachbücher, darunter ein Bildband über den Gulag.

Welt, 18.10.2004

Volker Blech unterhält sich mit Hellmut Seemann, dem Präsidenten der Stiftung Weimarer Klassik, der sich freut, dass der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek auch wieder so etwas wie bürgerschaftliches Engagement auslöst: "Ich war gerade bei einem Bauunternehmer, der den ersten Spatenstich für ein Investitionsprojekt gemacht hat. Was tut er am Festtag? Er schenkt der Bibliothek einen größeren Geldbetrag. Durch die deutschlandweiten Reaktionen ist man sich in Thüringen bewusst geworden, wo das Herz der nationalen Kultur liegt. Die Bibliothek ist das Symbol, das Pantheon dafür."

Auf der Forumsseite feiert ein gewisser Edmund Stoiber den "Zidane der französischen Wirtschaftspolitik ", Nicolas Sarkozy, der " für einen neuen, europäischen Politikstil" stehe. Aber gilt das nicht auch für Angela Merkel?

FR, 18.10.2004

Stefan Behr resümiert eine Berliner Tagung zum Kulturjournalismus, auf der die Redakteure von Beginn an vom Ende sprachen. Jens Jessen - "man hört ihn gern" - meinte, "der 'Aberglaube des Marktes' habe sich auf das Feuilleton übertragen: Erwünscht sei, was der breiten Masse gefalle. Miesmacherei sei ein Gräuel vor dem Konsumenten. Der Leser, Zuschauer oder Zuhörer fühle sich von komplexen Beiträgen nicht mehr herausgefordert, sondern verhöhnt, geschulmeistert oder gar gelangweilt. Eine Zwickmühle. Denn Feuilleton müsse elitär sein, meint Jens Jessen. 'Wenn der Musikkritiker für Leute schreiben soll, die sich nicht für Musik interessieren, wird's bedenklich.' Schlimmer als bedenklich: Dann läute das 'Totenglöcklein für das Feuilleton'."

Ganz tot ist das Feuilleton noch nicht: "Bevor Amelie Niermeyer Freiburg verlässt, hat sie noch einmal einen letzten, bemerkenswerten Saisonstart geschafft", frohlockt Dorothea Marcus, der neben Hölderlins "Antigone" und "Oedipus" besonders die Uraufführung von Tom Peuckerts "Dionysos Deutschland" gefallen hat. Die Regisseurinnen Daniela Kranz und Jenke Nordalm inszenieren "intelligentes Accessoiretheater, aus dem ein kleiner, pathetischer Trauerruf um eine aus den Fugen geratene Welt geworden ist".

Morgan Powell sieht im amerikanischen Wahlkampf neben den Kandidaten einen dritten Mann herumgeistern, den Nine-Eleven-Präsidenten. "Was die Wähler suchen, ist eher das einmalige Produkt eines historischen Ausnahmezustands und der eigenen Phantasie als ein Mann aus Fleisch und Blut. Folglich ist er schwer zu bekämpfen." Annette Becker berichtet vom "rauschenden" Fest des Frauen-Musik-Büros und Frauenreferats in Frankfurt. Etwas indigniert erzählt Christoph Schröder vom Treffen der deutsch-arabischen Austauschchronistinnen in Frankfurt (mehr zu dem Projekt des Goethe-Institus hier). Burkhard Müller-Ulrich klärt uns auf, dass nun auch die letzte islamische Organisation ihre Klage gegen Michel Houellebecq zurückgezogen hat. Houellebecq hatte den Islam in einem Interview als die "blödste Religion" bezeichnet.

Besprochen werden die szenische Erstaufführung von Franz Schrekers "Irrelohe" unter der Regie von Olivier Tambosi, Christian Tschirners "wenig ergiebige" Inszenierung von Molieres "Menschenfeind" am Staatstheater Mainz, ein Konzert der Rock-Punkband "The Hives" in Wiesbaden sowie das "ungewöhnliche" Jubiläumskonzert des International Choir.

SZ, 18.10.2004

Heribert Prantl prangert den Kuhhandel an, den Deutschland und die EU mit den nordafrikanischen Ländern betreiben, um Flüchtlinge problemlos und umgehend wieder abschieben zu können. "Aus den alten Kolonialländern werden nun also neue, sie werden eingespannt zur Flüchtlings-Entsorgung. Entsorgung ist teuer, das ist aus dem Umweltschutz bekannt. Dementsprechend wird den einschlägigen Ländern finanzielle und sonstige Hilfe angeboten. Die Europäer finanzieren, die anderen parieren. Und so wird Libyen jüngst auch vom Bundeskanzler gehätschelt. Die EU-Sanktionen werden aufgehoben. Libyen soll Nachtsichtgeräte erhalten und Schnellboote, um zu verhindern, dass Flüchtlinge überhaupt nach Europa kommen."

Weitere Artikel: In London hat der Kunstherbst mit der über die ganze Stadt verteilten Frieze-Messe begonnen, und Holger Liebs schaut sich zwei Horrorhäuser an, die der Installationskünstler Gregor Schneider im Viertel Whitechapel errichtet hat. "Niemand sollte diese einzigartige Schau versäumen, die nachgerade weltbilderschütternd ist", begeistert sich Harald Eggebrecht über die Ausstellung im Landesmuseum Halle, wo die erst vor kurzem gefundenen Scheibe von Nebra zu bestaunen ist. Arno Orzessek resümiert eine "produktive" Tagung zum Dreiecksverhältnis von Recht, Medien und Justizkritik am Neuruppiner See. "hera" kolportiert die erschreckende Neuigkeit, dass RTL2 jetzt ein Big-Brother-Dorf bauen will, in dem die Bewohner womöglich Jahrzehnte verbringen sollen. Dirk Peitz reflektiert über die Popstar-Konstruktion Robbie Williams. Erwin Hösi hat das kurze, aber intensive Early Music Weekend in London genossen.

Außerdem: Thomas Steinfeld belegt fast die ganze Literaturseite mit einem Plädoyer für die deutsche Sprache, deren Staatsferne ihr in der Vergangenheit gut getan habe, aber immer mehr verloren gehe, wie man in der Wissenschaft beobachten könne. "Es ist der Gestus der Staatlichkeit, die imaginierte Verantwortung für das politisch verfasste Gemeinwesen, die Arroganz einer eingebildeten Verwaltung, die diese Sprache so unerträglich macht. Auf diese Weise, und auf keine andere, betreibt man den Ruin der deutschen Sprache."

Besprochen werden Michael Thalheimers "Faust" Im Deutschen Theater in Berlin ("Thalheimer filtert alte Texte durch ein engmaschiges Netz, aber was unter herausrinnt, ist nicht ein Extrakt, sondern eine farblose Flüssigkeit, mit der er sein eigenes Süppchen angießt", schimpft Christopher Schmidt), Olivier Tambosis "bemühte" Version von Franz Schrekers "Irrelohe, Marin Alsops Debüt als Dirigentin bei den Münchner Philharmonikern. Außerdem Mikael Håfströms auf dem Roman von Jan Guillou basierender Film "Evil", Elias Merhiges Thriller "Suspect Zero - Im Auge des Mörders" mit Ben Kingsley, Harald Clemens' Version von Edna O'Briens "Triptychon" im Münchner Marstall, die sich laut Egbert Tholl wie die schon Vorgänger im Marstall als "szenischer Lemur" entpuppt, und nur ein Buch, nämlich Sandor Marais Roman "Die Nacht vor der Scheidung". (Dazu mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr.)