Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2004. In der NZZ erklärt A. L. Kennedy, warum sie sich nur noch im Internet informiert. Die SZ fordert mehr Opulenz bei der Verleihung des Lettre Ulysses Award (die NZZ hätte lieber weniger gehabt). Die Welt berichtet über den Strukturwandel des Buchhandels. Die FAZ fürchtet die Schließung des Matsov-Archivs.

NZZ, 04.10.2004

Sieglinde Geisel war etwas unbehaglich bei der Verleihung des Lettre Ulysses Award für literarische Reportage: "Bei Kerzenlicht und Wein hörte man, wie in fünf Minuten vier chinesische Bauern totgeschlagen werden oder wie in Sierra Leone die 'cut-off people' den Menschen die Hände abhacken. Das ist kein moralischer Widerspruch, denn sonst dürften nirgends mehr Feste gefeiert werden. Aber der nahtlose Übergang von den berichteten Grausamkeiten zum gediegenen Diner rückt die Texte auf einmal in weite Ferne." (Paulo Mouras prämierte Reportage über ein Flüchtlingslager nahe Tanger finden Sie im Perlentaucher, Auszüge aus allen Reportagen der Finalisten finden Sie in der neuen Lettre International)

A. L. Kennedy (homepage) spricht in einem langen Interview über ihren neuen Roman "Paradise", das Schreiben und die Politik (Kennedy hat eine Kolumne im Guardian, in der sie sich mit der Tagespolitik auseinandersetzt): "Die Abwesenheit von Fakten in den Zeitungen ist ein Desaster. Wo waren die Zeitungen, als es darum ging, zu sagen: Da sind ja gar keine Massenvernichtungswaffen? Heute wird darüber geschrieben, was das für ein böser Krieg war, aber wo waren sie, als es drauf ankam? Ich selbst informiere mich nur noch im Internet, nicht in den Zeitungen. No news in the newspapers."

Unter der Bezeichnung "Bologna-Prozess" hat vor einigen Jahren der Versuch begonnen, die Integration Europas durch eine rasche Homogenisierung europäischer Bildungssysteme zu beschleunigen. Eine solche "Europädagogik" findet der Kulturwissenschaftler Thomas Macho im Prinzip ganz vernünftig, doch erfordere der Prozess der Angleichung "erhebliches Feingefühl für historische Differenzen ... Europa ist ein Prozess des Kopierens; dieses wertvolle Kopieren - ein Lernen an Unterschieden - darf nicht einer uniformen Europädagogik geopfert werden."

Weitere Artikel: Hartwig Vens meldet den Zustand der Popkomm: "Der Patient war noch nicht tot, aber beileibe auch nicht mehr wirklich lebendig." Birgit Sonna stellt den neuen Münchner Petuelpark und seine Kunst vor. Hanno Helbling schreibt zum Tod des Theologen Robert Leuenberger.

SZ, 04.10.2004

Der Lettre Ulysses Award geht nach China, meldet Kai Strittmatter auf der ersten Seite des Feuilletons. Und zwar an das Autoren-Ehepaar Wu Chuntao und Chen Guidi, die unter hohem persönlichen Einsatz ein Buch über die Lage der chinesischen Bauern geschrieben haben, dass zuerst gelobt, dann gut verkauft, und schließlich verboten wurde. Im Augenblick stehen die beiden vor Gericht. Sebastian Handke war auf der Preisverleihung in Berlin und berichtet auf der Literaturseite. Ihm war der Rahmen fast nicht opulent genug für diese "allesamt preiswürdigen Heroen der literarischen Reportage". (Einen Auszug aus der chinesischen Reportage lesen Sie hier.)

Der Soziologe Heinz Bude denkt im Aufmacher über Ungleichheit nach, das Thema des heute in Kassel beginnenden Soziologentages. Bude sieht das Ende der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" der Nachkriegszeit gekommen. "Nicht mehr der individuell erworbene Status, sondern die allgemeine Bedürftigkeit soll jetzt der Maßstab für den legitimen Anteil des einzelnen am Sozialeigentum aller sein. Das Risiko des durchschnittlichen Abweichlers ist enorm gewachsen, weil er sich im Zweifelsfall in die Hände eines "Fallmanagers" begeben muss, der nach nirgendwo existierenden Normalitätsunterstellungen darüber befindet, ob man legitimer Bittsteller, ein unbesorgter Schmarotzer oder ein bedauernswerter Verlierer ist."

Claus Heinrich Meyer rühmt den verstorbenen Fotografen Richard Avedon als fast ebenso wort- wie bildgewandt. Und erzählt ein paar Geschichten. "Die Windsors hingegen, berüchtigtes Paar, waren gefürchtet ob ihres gefrorenen professionellen Lächelns. Sein Taxi habe leider einen entzückenden kleinen Pinscher zermatscht, erzählte Avedon. Und konnte sich rühmen, die Windsors aussehen zu lassen wie gesalzene Wegschnecken."

Weitere Artikel: Tim B. Müller hat bei der Diskussion zwischen Joschka Fischer und dem ehemaligen amerikanischen Senator Bob Kerrey studieren können, wie Amerika unter John Kerry handeln würde. Die deutsch-amerikanische Freundschaft zumindest scheint nicht gefährdet zu sein. Oliver Fuchs und Dirk Peitz blicken recht böse auf die Berliner Popkomm zurück, die nicht für den Pop geworben habe, sondern eher "Selbstvergewisserungs-Show" der Branche war. Reinhard Schulz freut sich, dass das traditionsreiche Festival der jungen Musik, der Warschauer Herbst, nach wie vor ein Ort der Vermittlung zwischen den verschiedensten Publikums- und Musikerschichten ist. Alexander Menden hat sich den Kevin Spaceys Einstand als künstlerischer Direktor des Londoner Old Vic Theatre angesehen und bescheinigt ihm, bei Maria Goos' "Cloaca" "solide" Arbeit geleistet zu haben. Fritz Göttler schreibt zum Tod der Schauspielerin Antje Weisgerber, gratuliert Charlton Heston zum Achtzigsten, und hält den vorläufigen Abschied des britischen Kunstsammlers Charles Saatchi von der Britart für nachvollziehbar. Elisabeth Kiderlen fasst eine viertägige Diskussion über die RAF zusammen, die gezeigt hat, wie der innerdeutsche Terrorismus der 70er Jahre langsam historisiert wird.

Besprochen werden die Saisoneröffnung im Schauspielhaus Bochum mit Jürgen Goschs Inszenierung von Ibsens "Peer Gynt" und Niklaus Helblings Version von Sibylle Bergs "Das wird schon", eine Ausstellung zur Frage der für Ost und West unterschiedlichen Erinnerungen an das Jahr 1945 im Deutschen Historischen Museum in Berlin, eine Frankfurter Ausstellung zu Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, Rawson Marshall Thurbers Film "Dodgeball", und Bücher, darunter Norbert Gstreins Roman "Wem gehört eine Geschichte", in dem er auf Kritik an "Das Handwerk des Tötens" reagiert (Eine "unerfreuliche Depesche aus dem nicht weniger unerfreulichen Literaturmilieu", meint Julia Encke), Markus Werners Roman "Am Hang" sowie Thomas Steinfelds Musterung der Philologie (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 04.10.2004

Und noch ein Interview mit Gore Vidal - diesmal auf den Tagesthemenseiten der taz. Wenn Kerry Präsident wird, meint Vidal, sollte er "jeden Amerikaner aus dem Mittleren Osten abziehen. Alle Hilfe für Israel und Ägypten stoppen. Raus gehen" und den Mittleren Osten sich selbst überlassen: "Lasst sie sich gegenseitig umbringen! Wenn sie das machen wollen. Wer sind wir denn, dass wir uns da einmischen? Wir haben unser eigenes Land in den Dreck geritten. Wir reden davon, Demokratie in der Welt zu verbreiten - wir hatten noch nie eine Demokratie! Die Gründer wollten das nicht, das Wort taucht in unserer Verfassung nicht auf. Wir sind eine Republik, und zwar eine sehr strenge und kaltherzige. Einen sicheren Platz, um Geschäfte zu machen, das ist alles, was wir wollten. Dann kam all diese Rhetorik über Demokratie und Freiheit. Die Armen haben keine Freiheit, nirgends. Und die Hälfte unserer Menschen sind ziemlich arm. Wir haben zu Hause viel zu tun."

Enthusiasmus ist nicht gerade das, was Ralf Niemczyk da im Resümee der ersten Berliner Popkomm verbreitet: "Und genau das ist es, was die erste Hauptstadt-Popkomm ausgemacht hat: der MoMA-Effekt. Man steht endlos in irgendwelchen Schlangen, irrt durch die Stadt auf der Suche nach dem ultimativen Thrill und endet völlig entkräftet am falschen, irgendwie langweiligen oder desorganisierten Ort. Gejagt von der schrecklichen Ahnung, dass es anderswo viel besser sein muss. Über 70 Prozent der Popkomm-Aussteller reisten aus dem Ausland an, wo man zwischen Kreuzberg und Friedrichshain das ultimative Szene-Walhalla vermutet. Eine Selffulfilling Prophecy, die zur Premiere alle Ungereimtheiten locker übertüncht."

Weitere Artikel: Kathrin Bettina Müller hat die Hannoveraner Erstaufführung des neuen Stücks "Die Frau von früher" von Roland Schimmelpfenning gefallen. Eine Zürcher Ausstellung zum Thema "militärische Tarnung" hat Matthias Buschle besucht.

In der zweiten taz informiert Helmut Höge darüber, dass sich die Klientel der Psychologen nach ihrer Krankenkassenzulassung verändert hat: "Neben dem rechten Ostler kommen nun auch Leute, die in der DDR gelitten haben: Einer lebt in einer betreuten WG für politisch Verfolgte." Günter Zint berichtet von der "Photokina 2004". Eher zum Lachen findet es Niklaus Halblützel, dass sich Microsoft jetzt gegen Spyware engagieren will.

Und hier Tom.

FR, 04.10.2004

Joachim F. Tornau freut sich über einen "durchaus gelungenen Saisonauftakt unter neuer Intendanz am Kasseler Staatstheater". Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des Fotografen Richard Avedon. Gerhard Midding gratuliert Charlton Heston zum Achtzigsten.

Besprochen werden Falk Richters Inszenierung der "Elektra" an der Oper Frankfurt, die Ausstellung "Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen" im Deutschen Historischen Museum in Berlin, bulgarisches Zaubertheater in Darmstadt sowie die Inszenierungen von Ibsens "Peer Gynt" und Sibylle Bergs "Das wird schon" in Bochum und politische Bücher, darunter Jeremy Rifkins "Der Europäische Traum" und Timothy Garten Ashs: "Freie Welt. Europa" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 04.10.2004

Wieland Freund berichtet vom anhaltenden Strukturwandel des Buchhandels. Die Großen wachsen, die Kleinen bekommen es mit der Angst zu tun: "Auch die kleineren, von der Umsatzkrise geschüttelten und von der Filialisten-Konkurrenz bedrohten Buchhandlungen reagieren auf Neues zunehmend zurückhaltend; nur 350 Mal, so vermeldete eine entsetzte Branchenpresse, sei der lang erwartete erste Roman der Bachmann-Preisträgerin Terezia Mora bestellt worden."

Im ausführlichen Interview äußert sich Edgar Reitz zu seiner dritten "Heimat" und stellt fest: Den "Untergang" hätte er nicht drehen können: "Ich habe es in 'Heimat' ja auch mit Menschen zu tun, die das Große und Ganze gar nicht bewegen könnten. Ich könnte niemals eine Figur wie Hitler oder irgendeinen dieser Menschen beschreiben können, die Weltgeschichte machen. Da würde mir die Fähigkeit zur Liebe fehlen.

FAZ, 04.10.2004

Spender gesucht! Kerstin Holm meldet auf der letzten Seite die drohende Obdachlosigkeit des Matsov-Archivs in Tallin. Der estnische Dirigent Roman Matsov (1917 bis 2001) hatte während der sowjetischen Besatzung Estlands "unter großem persönlichem Risiko" Musik aufführen lassen, "die für die Sowjetmacht kein Existenzrecht besaß". Heute lagern hier "die vollständigsten autorisierten Notenausgaben von Schostakowitsch, die auch Hinweise des Komponisten über ihren autobiografischen Sinn enthalten, außerdem Schostakowitschs Werkbearbeitungen anderer Komponisten. Eine ganze Musikbibliothek Maria Judinas, die insbesondere aus dem Ausland eingeschmuggelte Noten enthielt. Partituren und Briefe der zwei Musiker, 1500 unpublizierte Konzertaufzeichnungen von hohem Seltenheitswert ... " Estland hat jedoch soeben die gesetzliche Mietpreisbindung abgeschafft, Matsovs Sohn weiß nicht, wohin mit dem kostbaren Archiv. "Das, was künstlerischer Heldenmut in schwerer Zeit zusammentrug, droht nun im freien Spiel der Marktkräfte unterzugehen", warnt Holm. (Mit Musik kann man im Jetzt natürlich nicht so gut renommieren wie mit Kunst, doch gerade deshalb erinnert man sich an Musik-Mäzene noch in den Geschichtsbüchern!)

Im Aufmacher kritisiert Paul Ingendaay "The Plot Against America", den neuen Roman von Philip Roth. Roth überlegt in seinem Buch, was wäre, wenn Charles Lindbergh, bekennender Antisemit, 1940 die Wahlen gegen Roosevelt gewonnen und in Folge Amerika die Rolle des Weltpolizisten verweigert hätte: "Welchen Sinn hat es, für Bush einen Vorläufer zu erfinden, der nie Präsident war? Schlimmer aber wirkt sich aus, dass die ganze Lindbergh-Idee für einen Roman ziemlich albern ist. Es muss anstrengend und zeitraubend sein, den Lauf der Geschichte ab Frühjahr 1940 willkürlich zu verändern und dann im Herbst 1942 unter lächerlichen Vorwänden wieder ins gewohnte Flussbett zurückzulenken. Wieviel Aufwand, nur um mäßig zu flunkern!"

Weitere Artikel: Jordan Mejias schreibt zum Tod von Richard Avedon. Andreas Rosenfelder hat sich auf der Popkomm gelangweilt: "Mit dem Umzug der Popkomm von Köln nach Berlin verlagerten sich die Tagesparolen ganz aufs Geschäft, während der Ausdruck 'Party' den Beiklang des Zeitdiebstahls bekam." Gerhard Rohde resümiert beglückt das "Auftakt"-Festival mit Peter Eötvös in der Frankfurter Alten Oper. Gemeldet wird die Schließung des Lupanar, ein Freudenhaus der antiken Vesuvstadt Pompeji, das wegen Renovierung seiner "drastischen erotischen Fresken" zwölf Monate für Besucher gesperrt wird.

Auf der Medienseite schildert Michael Hanfeld tief beeindruckt die Reisen des neuen Vorstandsmitglieds von Gruner und Jahr, Torsten-Jörn Klein, der seit Januar für das internationale Zeitschriftengeschäft zuständig ist. Auf der letzten Seite porträtiert Michael Stabenow den slowakischen EU-Kulturkommissar Jan Figel. Michael Jeismann berichtet über die ersten Berchtesgadener Gespräche, das ist ein Kreis, der über "Deutschlands innere und äußere Verhältnisse" diskutiert und dessen Einrichtung bezahlt wird aus einer Stiftung zum Andenken des 1970 von Terroristen ermordeten deutschen Botschafters in Guatemala, Karl Graf von Spreti.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Künstlerporträts von Barbara Klemm im C/O Berlin, Richard Strauss' "Elektra" an der Frankfurter Oper, eine Ausstellung mit "Traumlandschaften" von Max Ernst im Hamburger Ernst-Barlach-Haus, Ibsens "Peer Gynt" am Schauspielhaus Bochum in der Inszenierung von Jürgen Gosch, eine Ausstellung zur Architektur von Marlene und Hans Poelzig im Basler Architekturmuseum, Sachbücher, darunter eine Studie von Barbara Seyock über den Handel in den frühen Kulturen in Südkorea und Westjapan (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). Und Gerhard Stadelmaier hatte endlich mal das Gefühl, am richtigen Platz zu sein, als er die Premiere von "Vier Millionen Türen", "eines schnellen, intelligenten, aber absolut zeitlichen Stücks von Martin Heckmanns und Thomas Melle" in der Werkstatt des Deutschen Theater sah.