Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2004. In der Welt erzählt Peter Stein, wie er im Alter von 13 Jahren dem mittlerweile 2500-jährigen Sophokles begegnete. In der taz wendet sich ein Schüler gegen das Methusalem-Komplott der Neuschreiblegastheniker. Die FR meditiert über die Höfische Republik Frankreich. In der SZ wendet sich Robert Menasse gegen den rassistischen, sexistischen, neoliberalen (und so weiter) Charakter der neuen Rechtschreibung.

Welt, 11.08.2004

In der Welt werden wir Zeuge eines Aufsehen erregenden Zusammentreffens:

"Sophokles begegnete mir zum ersten Mal, als ich mit 13 Jahren in der Schule seinen 'Philoktet' zu übersetzen hatte", schreibt ein gewisser Peter Stein zum 2500. Geburtstag des Dichters. Und weiter, etwas kryptisch: "Denjenigen von uns, die sich verzweifelt dagegen wehren, der Mehrheit der 'Ganz Heutigen' Recht geben zu müssen, dass das Erbe von Aufklärung und Humanismus hoffnungslos veraltet und verloren sei - ihnen hat Sophokles eine Menge zu sagen."

TAZ, 11.08.2004

Die taz ist heute gut in Form!

Für die Meinungsseite schickt Matthias Greffrath eine lesenswerte Reportage aus dem Kosovo, besucht die Zeitung Java, deren Kunstbeilage arta von der Bundeskulturstiftung unterstützt wird, und zitiert den außenpolitischen Koordinator der Region, Enver Hasani: "Niemand will ein souveränes Kosovo, es würde nicht funktionieren. Es geht auch nicht um Nationalismus, diese Tünche wird immer dünner, es geht um Rückständigkeit. Wir brauchen eine Große Konferenz, die eine Gesamtlösung auf dem Balkan beschließt, und Kosovo muss zum Condominium werden, für lange Zeit, mit einer stabilen Verwaltung durch fünf, sechs Länder, die einen Aufbau von unten in Gang setzen. Die Bevölkerung würde jeden Status akzeptieren, wenn die Verwaltung, die Schulen, die Universitäten funktionieren, wenn es Wasser gibt und Strom - da ist ein Zusammenhang von Demokratie und Elektrizität."

Auf der Bildungsseite protestiert der Schüler Florian Hollenbach gegen das Methusalem-Komplott der Rechtschreiber: "Thomas Steinfeld etwa schreibt in der Süddeutschen: 'Die jüngeren aber werden umlernen müssen. Das kann aber nicht so schwierig sein, wie es klingt.' Daraus lässt sich nur folgern, dass Steinfelds Mitrevoluzzer offenbar nicht schlau genug sind, Neuschreib zu lernen. Schließlich behaupten sie, es wäre für sie partout nicht möglich, die neuen Regeln zu lernen. Die Erwachsenen können ruhig weiterhin ihre Schreibweise benutzen. Jeder soll schließlich seinen persönlichen Stil pflegen. Die Schüler jedoch sind diejenigen, die noch Diktate und Klausuren schreiben - und für ihre Fehler bestraft werden."

Auf der Kulturseite porträtiert Oliver Pfohlmann den lange Zeit vergessenen Autor Bela Balazs (mehr hier), dessen Werk (darunter die hinreißende "Jugend eines Träumers", bestellen Sie hier) dank des kleinen Arsenal-Verlags wiederentdeckt wird. Besprochen wird die Ausstellung "After Images" im Bremer Museum Weserburg über den Holocaust in der Kunst und Dietmar Sous' Prosaband "Vormittag eines Rock'n'Roll-Beraters".

FAZ, 11.08.2004

Band Aid, Farm Aid und jetzt Bruce Springsteens "Vote for Change"-Tour - Edo Reents bewundert die amerikanischen Musiker für ihr politisches Engagement, in Deutschland gebe es dagegen einen "Mangel an Volkstümlichkeit. Die deutschen Popmusiker waren und sind viel zu sehr mit dem Unterschied zwischen sich und denen beschäftigt, die nicht so reich und berühmt sind wie sie, als dass sie sich auch noch um Arbeitslose kümmern könnten. Lieber reden sie über die deutsche Neidgesellschaft, die hier jedem das Berühmtsein so schwermache."

Weitere Artikel: Mark Siemons sucht vergeblich nach einer Idee bei den Montagsdemonstranten: "Dieser sprachlose Menschenzug demonstriert offenkundig vor allem sich selbst: die Tatsache, dass es sie gibt und dass sie mit ihrer Rolle unzufrieden sind". Martin Kämpchen beschreibt eine Diskussion in Indien über den Begriff "Säkularität". Wolfgang Köhler berichtet über eine Konferenz der British Society for Middle Eastern Studies in London, die hauptsächlich dem Irak gewidmet war. Mark Siemons nennt "Zhuangzi" sein Lieblingsbuch. Michael Althen schreibt den Nachruf auf die schöne Fay Wray. Thomas Wagner schreibt zum Tod des amerikanischen Malers Leon Golub.

Auf der Medienseite stellt Esther Kilchmann bidoun vor, ein neues Kulturmagazin für Orient und Okzident. Die Redakteure arbeiten in New York, Dubai, Berlin und Teheran. Außerdem hat sich Esther Kilchmann zusammen mit Michael Hanfeld bei den Regionalzeitungen umgehört, wie sie es jetzt mit der Rechtschreibung halten wollen. Die Reaktionen sind wie zu erwarten unterschiedlich, doch wollen auch die Gegner der Reform erst zur alten Rechtschreibung zurückkehren, wenn die Agenturen vorangehen: "Meldungen zurückzuredigieren können wir uns nicht leisten", sagt Peter Bauer von den Bremer Nachrichten. (Na, hoffentlich liest er sie wenigstens.) Eine Meldung verkündet, dass ARD und ZDF bei der neuen Rechtschreibung bleiben. Und Gina Thomas schreibt den Nachruf auf Bernard Levin.

Auf der letzten Seite porträtiert Hansgeorg Hermann porträtiert den Psychiater Antonis Liondakis, der dreihundert Esel über Kretas Straßen schicken will, um die Menschen an die Vorzüge der Langsamkeit zu erinnern. Martin Halter folgt den Spuren des Baedeker in der Literaturgeschichte. Und Regina Mönch hat sich mit Hellmut Seemann, Präsident der Stiftung Weimarer Klassik über längst fällige Veränderungen in der Stiftung unterhalten.

Besprochen werden eine Ausstellung der "Meisterblätter" Werner Tübkes in Schloss Gottorf, die Ausstellung "Wirklich wahr!" im Ruhrlandmuseum Essen, eine Petrarca-Ausstellung im Strauhof Zürich und Bücher, darunter Blaise Cendrars gesammelte Gedichte (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 11.08.2004

Michael Meister analysiert das Überleben des Höfischen in der französischen Republik. De Gaulle setzte es als erster politisch ein. Und "Mitterrand übertraf de Gaulle noch. Er begann seine Amtszeit 1981 mit einem feierlichen Gang zum Pantheon. In der Hand hielt er eine Rose, rot wie der Sozialismus, aber dennoch ein metaphorischer Rekurs auf die Lilie der Könige. Wie diese hinterließ er Spuren seiner Regentschaft in der Stadt. Vom Grand Louvre über die Grande Arche de la Defense bis hin zur Grande Bibliotheque sind seine Grand Travaux allesamt steinerne Zeugnisse pseudomonarchischer Megalomanie."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte resümiert eine Reihe über Journalismus und Kino beim Festival von Locarno. Kothenschulte schreibt auch den Nachruf auf die Stummfilmschauspielerin Fay Wray. Peter Michalzik unterhält sich mit dem Leiter des Theater-Projekts Hebbel am Ufer (HAU) Matthias Lilienthal. Besprochen wird die Ausstellung "Gegen den Strich" in der Kunsthalle Baden-Baden, in der gezeigt wird, "was man in der Gegenwartskunst so alles Zeichnung nennen kann".

Auf der Standpunkte-Seite der abhängigen Zeitung sagt der Politikwissenschaftler Martin Hecht die Revolution an: "Langsam aber sicher wachsen außerhalb der Parlamente neue Bürgerbewegungen heran. Die großen Ausschlussthemen Entsolidarisierung und Globalkapitalismus reichen dazu locker aus. Der Anfang ist gemacht: Die neuen Montagsdemonstrationen sind die ersten Vorboten."

NZZ, 11.08.2004

Andrea Köhler befasst sich in einem launigen Artikel mit der Rolle der Töchter und Söhne im amerikanischen Wahlkampf. John Kerry beispielsweise trat beim großen Parteitag der Demokraten mit seinen Töchtern auf, um das Image des Vaters mit rührseligen Erinnerungen aufzupolieren: "Als Oma Kerry im Sterben lag und zu schwach war, das Herbstlaub vorm Fenster anzuschauen, bastelte ihr der Sohn einen bunten Baum und stellte ihn an ihr Bett. Und als die 19-jährige Alexandra einst in düstere Grübeleien versank, verhalf ihr der dekorierte Vietnam-Veteran mit seinen Erzählungen von den Schrecken des Krieges zur Einsicht, dass 'am Leben und amerikanisch zu sein' sie zum 'glücklichsten Mädchen der Welt' gemacht habe." Derweil lässt Bush seine Töchter in der aktuellen Vogue ablichten (mehr hier), um vom "Girlie-Glanz" zu profitieren

Weitere Artikel: Andreas Maurer hat sich beim Filmfestival in Locarno umgesehen. "Jdl." informiert über den Streit um Dietmar Pflegerl, den Intendanten des Klagenfurter Theaters, den Jörg Haider am liebsten absetzen würde.Gemeldet wird, dass Nadine Gordimer ihre Biografie gestoppt hat.

Besprochen werden eine Ausstellung Katharinas Grosses in Brandts Klaedefabrik im dänischen Odense und Bücher, darunter Italo Calvinos Nacherzählung von Ariosts "Orlando furioso" und das Buch "Romantiker der Revolution" des britischen Historikers Edward Hallet Carr (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 11.08.2004

Der Schriftsteller Robert Menasse entlarvt die Rechtschreibreform als rassistisch, neoliberal und reaktionär zugleich: "Ich spreche und schreibe Deutsch. Das große, weite und tiefe Deutsch, das die Reformer nicht verstehen. Und nicht ertragen." Und "Es gibt kein Denken ohne Sprache." (Aber Sprache ohne Denken, so scheint's.)

"Meine Sorgen möcht' ich haben", zitiert Ulrich Raulff dagegen den guten Tucholsky und schreibt dann selbst: "Die Sprache ist mehr als ihre Schriftgestalt. Umgekehrt ist die als richtig festgelegte Schriftgestalt gerade die strenge, doktrinäre Seite der Sprache. Nicht die Seite ihres Wohllauts, nicht die Erscheinung ihrer poetischen Seele, sondern die Disziplinierung ihrer Notation. Recht besehen ist Orthografie nichts als die Orthopädie der Schriftzeichen: Sitzt gerade, putzt die Nase! Die Muttersprache, der man sich auf dem Weg über die Rechtschreibung nähert, ist nicht die große, gnädige Mutter Natur, sondern eine böse, strenge Mutter. Warum wird ausgerechnet die so geliebt?"

Der Autor Tim Cole findet aus angelsächsischer Sicht den deutschen Wunsch nach einheitlicher Rechtschreibung "ebenso überflüssig wie urkomisch": Der Brite schreibt 'colour' oder 'flavour' und trägt es mit 'humour', dass sein amerikanischer Kollege bei solchen Begriffen das 'u' weglässt. Der Kanadier hingegen steckt irgendwo dazwischen und schreibt einfach so, wie ihm der Schnabel, respektive die Feder gewachsen ist. Angelsächsische Stilführer raten, sich für die eine oder die andere Form zu entscheiden und dabei zu bleiben: 'Be consistent!', sagt die Englischlehrerin zu ihren Schülern - nicht 'be right!'"

Eine seltsame Mitteilung der Redaktion entehmen wir den vorderen Seiten. Sie will, scheint es, nun erst einmal doch nicht zur alten Rechtschreibung zurückkehren. "Eine Entscheidung darüber, was wir konkret ändern, wird erst fallen, wenn der geplante Rat für Rechtschreibung, in dem auch Kritiker des geltenden Regelwerks zu Wort kommen sollen, sein Konzept vorgelegt hat", heißt es jetzt. Außerdem erkennt sie "vernünftige Neuerungen" an. 

Gegen neue und alte Phrasen ätzt Eckhard Henscheid (mehr hier): "Unter den Dumm-Metaphern und Blind-Tickets, welche der aktuelle Volksmund so von sich gackert, ist die bekanntlich leider auf Tucholsky zurückgehende Wohllebigkeits- beziehungsweise Wellness-Beschwörung 'Die Seele baumeln lassen' die momentan bedrohlichste und vor Elend baumelndste; neuerdings möglicherweise bedrängt von der Scheinveredelung 'Wenn die Seele schweben lernt'." Ebenfalls auf seine Liste haben es die Kritikervokabeln "spannend", "fesselnd" und "süchtig machend" gebracht.

Weitere Themen gibt es auch noch: Der Judaist Peter Schäfer diskutiert sehr kritisch die Thesen des Ägyptologen Jan Assmann zum Monotheismus: "Es ist für Assmann ausschließlich das Judentum, dessen monotheistischer Hass geschichtsmächtig wurde, das Hass, Konflikt und den Begriff der Sünde in die Welt gebracht hat - Christentum und Islam kommen bei ihm so gut wie gar nicht vor." Arne Perras erinnert an den Mord an den Herero, der heute vor hundert Jahren mit der Schlacht am Waterberg seinen Auftakt nahm. Roland Groß führt durch die Kölner Ausstellung "Namibia - Deutschland" zum selben Thema. Fritz Göttler schreibt zum Tod von Fay Wray. Christopher Schmidt zu dem der Fotografin Eva Kemlein.

Besprochen werden die Ausstellung "Beredte Hände" in der Salzburger Residenzgalerie, Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" mit Valery Gergiev und dem Petersburger Mariinsky-Theater und Bücher, darunter Bruno Steigers Roman "Erhöhter Blauanteil" und Konrad Canis' Band zu Bismarcks Außenpolitik (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).