Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2004. Die NZZ kritisiert das schlechte Deutsch der Frakturfraktion. Trotzdem plädiert Hans Küng in der Welt für einen Dialog der Religionen. Die taz konstatiert: Die Intellektuellen haben ohnehin ausgedient. Die New York Times ist sehr streng mit Nicholson Bakers neuem Roman "Checkpoint". Der Salzburger "Rosenkavalier" stößt auf widersprüchliche Reaktionen.

NZZ, 09.08.2004

Roman Bucheli macht sich lesenswerte Gedanken über die Rechtschreibreform und die jüngsten Akte der Gegenreformation. Unter anderem ist ihm das Argument der Gegner sauer aufgestoßen, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen die neue Schreibung sei. Ginge man allein davon aus, dann wäre, so Bucheli, "vermutlich jede Rechtschreibregelung überflüssig". Auch ansonsten ist Bucheli kein Freund der Reformgegner: "Die Rechtschreibreform wird heute aus dem gleichen fundamentalistischen Geist heraus bekämpft, aus dem sie entstanden ist. Dass man damit einen Kultur- und Machtkampf auf dem Rücken der Schüler austrägt, scheint niemanden zu kümmern. Und wie man bei regelmäßiger Lektüre leicht feststellen kann, wird bei den betroffenen Zeitungen wohl auch nicht die Sorge um die Sprache allein die Maßgabe des Handelns sein."

Weitere Artikel: Hansgeorg Hermann, freier Journalist und Reiseführer auf Kreta, führt durch die griechische Kultur. Roman Hollenstein folgt den Spuren antiker Bauwerke in Mailand. Daghild Bartels berichtet über die schleichende Auflösung der Sammlung Barbier-Müller, der größten Sammlung primitiver Kunst in privater Hand.

Besprochen werden die Aufführung von Strauss' "Rosenkavalier" bei den Salzburger Festspielen und eine Ausstellung über Wohnungsbau im Architekturzentrum Arc en reve in Bordeaux.

Weitere Medien, 09.08.2004

In der New York Times Book Review bespricht Leon Wieseltier Nicholson Bakers neuen Roman "Checkpoint", der auch hierzulande schon von sich reden machte, weil darin ein gewisser George W. Bush ermordet werden soll. Wieseltiers Kritik fängt so an: "Dieses schmutzige kleine Büchlein handelt von der Frage, ob die Probleme unseres ehrsamen und ängstlichen kleinen Landes durch das Erschießen des Präsidenten gelöst werden können. Zwar plädiert das Buch nicht für die Ermordung George W. Bushs. Es ist perfider..." Wieseltiers Urteil ist am Ende sehr streng: "Die Radikalität der Rechten hat zu einer Radikalität der Linken geführt. Der amerikanische Liberalismus im Ganzen scheint seinen Kopf zu verlieren. Wenn die Befremdlichkeit gegenüber Bush zu einer Entschuldigung für eine große Vereinfachung wird, wird das schlimme Folgen für den Liberalismus und Amerika haben."

TAZ, 09.08.2004

Die Intellektuellen haben als Gesellschaftskritiker ausgedient, diagnostiziert der Philosoph und Autor Ludger Heidbrink. Grund dafür ist die Ungewissheit in der Gesellschaft selbst. "Solange der Bürger nicht sagen kann, was letztlich für ihn wichtig ist - das schöne Leben oder die Sorge um die Natur, der eigene Arbeitsplatz oder das Wohl der Gemeinschaft -, hat es der Gesellschaftskritiker schwer. Woher soll er die Reformziele nehmen, wenn die Betroffenen selbst nicht wissen, was sie wollen? Die Gesellschaft, darin liegt das Hauptproblem, ist zu einem System ohne Eigenschaften geworden, an dem jede Kritik abprallt."

"Wer einmal mit dem Gedanken spielt, den US-Präsidenten oder den Bundeskanzler umzubringen, muss nicht gleich psychisch angeknackst sein", meint Gerrit Bartels nach der Lektüre von Nicholson Bakers Roman "Checkpoint" und nimmt Baker damit vor den Rezensentenkollegen der New York Times in Schutz (hier die Kritik von Leon Wieseltier). Daniel Bax schreibt einen Nachruf auf den exzentrischen Funk-Pionier Rick James. Und Jan Freitag liest die Rückkehr der alten Werte an der Besetzungsliste der neuen Schwarzwaldklinik ab.

Klaus Harpprecht wundert sich, warum die deutsche Sprache allgemeine Regeln braucht und plädiert auf der Meinungsseite für ein bisschen mehr Anarchie. "Vermutlich war der 'Duden', gleichviel in welcher Version, von Beginn an ein sprachfeindliches Unternehmen." Im Medienteil lacht Arno Frank über den angeblich größten Sportteil der Welt - in der neuen Bild am Sonntag.

Schließlich Tom.

Welt, 09.08.2004

"Soweit es das offizielle Russland angeht, hat man ein Dreivierteljahrhundert von Massenmord, Hungertoden, Plünderung von Privateigentum, zu schweigen von der verwerflichen Institution der Sklavenarbeit, einfach weißgewaschen, wenn nicht geradezu mit dem Siegel der Billigung versehen", schreibt der britische Journalist Paul Johnson über den Umgang mit den stalinistischen Verbrechen in Russland. "Hier genau liegt die zentrale moralische Schwäche des russischen Staates, der eigentliche Grund, warum russische Geschichte vielfach wie die Abfolge endloser Schrecken wirkt. Und ich sage das trotz der Leiden, die dem russischen Volk durch die Nazis, die fremden Invasoren, zugemutet wurden. Kein Staatsdiener in Russland, und sei er noch so brutal, ist je bestraft worden, es sei denn durch Zufall. Schon das Regime Iwans des Schrecklichen wurde von seinen Nachfolgern in Ehren gehalten. Tatsächlich impliziert ja der Herrschertitel 'der Schreckliche' im Russischen keine Verdammung. Dasselbe Wort der Hochachtung begegnet uns zum Beispiel auch als Anrufung in der alten Nationalhymne der Zarenzeit: 'Gott der Allschreckliche.'"

Im Feuilleton unterhält sich Gernot Facius mit dem Tübinger Theologen Hans Küng ("Französische Laizisten können so dogmatisch und autoritär sein wie römische Prälaten") natürlich über den Dialog der Religionen, diesmal unter besonderer Berücksichtigung des Islams, seine angeblich "blutigen Grenzen" und seine Erneuerungsfähigkeit.

FR, 09.08.2004

Furios verreißt Hans-Klaus Jungheinrich Robert Carsens Inszenierung des Rosenkavaliers in Salzburg. Ein auf das Fernsehen ausgerichtetes, "ungenügend durchgearbeitetes", "beschämendes Debakel", schimpft er. "Der kleine anekdotische Marsch für den Sarottimohren, der das von der Marschallin verlorene Taschentüchel sucht, gilt nun einem dunklen Halbwüchsigen, der im Personenverzeichnis der Neuinszenierung Mohammed heißt und, sich die Augen reibend und torkelnd, aus einer der peripheren Bordell-Lagerstätten auftaucht, ein Gewehr ergreift und wild um sich schießt, derweil sich vom geöffneten Hintergrund eine bedrohlich anmutende Armee in Kriegsuniform nähert. Aha, sagt sich der aufgeklärte Besucher."

Weitere Artikel: Durchwachsen findet Daniel Kothenschulte drei deutsche Filme auf dem Festival in Locarno, "zwischen gelungener Synästhesie und visueller Amnesie". In Times mager beäugt Rene Aguigah die Simulation des Konservatismus in der Debatte um die Rechtschreibreform. Auf der Meinungsseite trägt Michael Lüders überraschend kritische Töne aus Artikeln der arabischen Zeitung Al Hayat zusammen. So schreibt der libanesische Schriftsteller Amil al-Ma'aluf: "Demokratie ist konkret, kein Allgemeinplatz, und sie führt die arabische Nation zu ihrem Ursprung, versöhnt gesellschaftliche Notwendigkeiten mit den Ansprüchen des Einzelnen."

Besprechungen widmen sich dem neuen Album der Hip-Hop-Combo "Arrested Development" und politischen Büchern, Klaus Roths Untersuchung des neuzeitlichen Politikverständnisses "Genealogie des Staates", die erst jetzt veröffentlichten "Heimlichen Erinnerungen" des Architekten Julis Posener sowie Ilse von zur Mühlens Dokumentation zur Kunstsammlung Herrmann Görings (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 09.08.2004

"Kakanien, mon amour", schwärmt Jürgen Otten über Robert Carsens Inszenierung des Rosenkavaliers in Salzburg. "Ein Abend reich an Poesie wie ein Roman von Proust und bildersüchtig wie ein Film von Visconti". Und weiter. "Die Morbidität einer bürgerlichen Gesellschaft in Agonie, ihre verzweifelte Liebe zu sich selbst, sie ist, musikalisch wie szenisch, tauglich als Parabel über den Zustand unserer Psyche. Der Inszenierung gelingt etwas Erstaunliches: Sie strebt glücklich aus der Zeit, in der sie vorwiegend handelt, hinaus."

In einem recht besinnlichen Brief erklärt Rocksänger Bruce Springsteen seine Sorgen um Amerika und kündigt an, "mit einer Reihe meiner Künstlerkollegen - darunter die Dave Matthews Band, Pearl Jam, R.E.M., die Dixie Chicks, Jurassic 5, James Taylor und Jackson Browne - ... im Oktober durch Amerika (zu) touren. Wir werden unter dem Gruppennamen 'Vote for Change' auftreten. Unser Ziel ist eine Richtungsänderung der amerikanischen Politik und eine neue Führung des Landes im November."

Weitere Artikel: Petra Steinberger fasst das Buch "The Empty Cradle. How Falling Birthrates Threaten World Prosperity - And What To Do About It" des Wirtschaftsjournalisten und Autors Phillip Longman zusammen, in dem dieser die desaströsen Effekte einer schrumpfenden Weltbevölkerung schildert. Alexander Menden streift durch das Londoner Viertel Willesden, in dem die britische Polizei in vergangenen Monaten immer wieder nach Mitgliedern von Al-Qaida gesucht hat. Willesden ist auch bekannt geworden durch Zadie Smith' Roman "Zähne zeigen". Angela Köckritz schildert die Renaissance der Revolutionären Oper in China: "Die Soldatinnen jubeln. Revolutionärin Qionghua tanzt der aufgehenden Sonne entgegen. Küsst die wehende rote Flagge. Begeisterung im Publikum." Siebzig Jahre nach ihrer Erfindung wird nun endlich die fatale Gehirnoperationstechnik der Lobotomie historisch aufgearbeitet, berichtet Sonja Zekri. Im Aufmacher trauert Christopher Schmidt um die großen Ferien, die jetzt zu komprimierten Extrem- und Aktivurlauben zusammengeschrumpft sind. "bru" verabschiedet den verstorbenen Funk-Pionier Rick James.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bildern von Charlotte Salomon im Frankfurter Städel, Kerstin Stutterheims und Niels Bolbrinkers Zirkusfilm "Die Thuranos", und Bücher, darunter die Neuausgabe von Else Lasker-Schülers "Mein Herz", Amelie Nothombs Roman "Die Kosmetik des Bösen" sowie ein Hörbuch mit Erwin Strittmatters Lesungen aus seinem Roman "Der Laden" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 09.08.2004

Christian Geyer fragt nach den Gründen einer angeblichen Flut biografischer Literatur (sie liegen im bedauerlichen "Niedergang des animal metaphysicum"). Michael Siebler freut sich, dass kurz vor der Olympiade eine Säule des zentralen Zeustempels im Heiligen Hain des antiken Olympia wiedererrichtet wurde. Jürgen Kaube kritisiert in der Leitglosse das von Hamburger Politikern durchgeboxte Vorhaben einer Ehrendoktorwürde für Wladimir Putin. Jürg Altwegg vermerkt Schweizer Irritationen über die Rechtschreiberei der deutschen Frakturfraktion. Erna Lackner berichtet über Verstimmungen in Österreich aus dem gleichen Grund.

Michael Jeismann empfiehlt Nagib Mahfus' Roman "Der Rausch" als sein Lieblingsbuch. Andreas Kilb zeigt sich in seiner Kolumne vom Filmfestival Locarno tief beeindruckt von Volker Schlöndorffs Film "Der neunte Tag", einer kammerspielartigen Auseinandersetzung zwischen einem von den Nazis verfolgten Priester und einem SS-Mann, gespielt von Ulrich Matthes und August Diehl. Achim Heidenreich bespricht erste Konzerte bei den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik. Kerstin Holm schildert einen sibirischen Streit um eine Nomaden-Mumie - nach einem Erdbeben fordern örtliche Schamanen, dass die Wissenschaftler die Mumie wieder zur Begrabung freigeben. Jürgen Richter bedauert, dass Offenburg das ehemalige Ausbesserungswerk der Bahn abreißen will.

Auf der Medienseite schreibt die amerikanischen Medienkünstlerin Eliza Slavet in der Reihe "Stimmen" über die Stimmen der Simpsons. Außerdem erfahren wir, dass der MDR sparen will, und dass Frankreich seine Zeitungen subventioniert.

Auf der letzten Seite erinnert Frank-Rutger Hausmann daran, dass Carl Schmitt seine ersten Veröffentlichungen nach dem Krieg beim Verlag Greven herausbrachte, welche heute als bibliophile Sammlerstücke zu gelten haben. Dirk Schümer erinnert an den Flugzeugabsturz der Fußballmannschaft von Turin, der dem Fußball begabte junge Männer raubte und fünf Jahre später das Wunder von Bern erheblich erleichterte - die Italiener machen jetzt einen Film darüber. Und Thomas Wagner erinnert an den Politiker des Vormärz Bernhard August von Lindenau, der vor 150 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden eine Austellung über die Naturmalerei der englischen Präraffaeliten im Alten Museum Berlin, der Salzburger "Rosenkavalier" unter Robert Carsen und Semyon Bychkov, eine Ausstellung mit gestrickten Kunstwerken geisteskranker Künstlerinnen aus der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg und Neuerscheinungen aus der akademischen Welt.