Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2004. Die FAZ beschreibt den kulturellen Schulterschluss zwischen Bertelsmann und der KP Chinas. Die taz verkündet das Ende der Neuen Niedlichkeit der Zonenkinder. Die NZZ bewundert die Plagiierung westlicher Kulturprodukte in Russland. "Rettet die Aura!" ruft Max Hollein im Tagesspiegel. Die SZ trauert um die Young British Artists.

FAZ, 28.05.2004

"Die Zeitläufte sind mittlerweile so beschaffen, dass ein deutscher Medienkonzern und die Kommunistische Partei Chinas gemeinsam in Peking zum kulturellen Schulterschluss gegenüber Amerika und dessen Unterhaltungsindustrie aufrufen", schreibt Mark Siemons, der eine Tagung besucht hat, die Bertelsmann zusammen mit dem Pekinger "Internationalen Kulturverband" unter dem Dach des chinesischen Kulturministeriums veranstaltet hat.
Die Chinesen, berichtet er, fürchten sich vor einer Überschwemmung durch westliche Ideen und Produkte. Bertelsmann wiederum "stellte sich und die von ihm vertriebenen Medien als das ideologiefreie System schlechthin dar, das nur verstärke, was ohnehin vorhanden sei und vom Volk gewollt werde. Als der Kunstwissenschaftler Fu Jin das Verschwinden der Wenzhou-Oper infolge der Globalisierung beklagte, beeilte sich Uli Sigg von der Zürcher Mediengruppe Ringier gleich zu erklären, dies liege bloß an der verminderten Aufmerksamkeitsspanne der jungen Generation. Unerörtert blieb, dass dies mit den Medien durchaus zusammenhängen kann, da sie das Verhältnis der Gesellschaft zu sich selbst verändern. Möglicherweise liegt ja gerade im ideologiefreien Absehen von jedem Inhalt die größte Kulturveränderung: Sie neutralisiert Tradition durch Abstraktion. Ebendavor scheint China aber bei all seiner Empfindlichkeit gegenüber äußeren Einflussnahmen keine Scheu zu haben." Die Chinesen seien durchaus vertraut mit der Methode "Siegen durch Anverwandlung". Deshalb sei noch lange nicht ausgemacht, wer in diesem "Kampf der Kulturindustrien" Sieger sein wird, meint Siemons.

Weitere Artikel: der Verleger Michael Klett fordert im Interview die Rückkehr zur alten Rechtschreibung. Hans-Peter Riese beschreibt das erdrückend pathetische Weltkriegsdenkmals in Washington, das heute eingeweiht wird. Gerhard Rohde resümiert das Saarbrückener Festival für Neue Musik "Mouvement", das in diesem Jahr das Schaffen des Komponisten und Posaunisten Vinko Globokar (mehr hier) präsentierte.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über Schwierigkeiten beim Kauf der letzten Filmrechte Leo Kirchs durch die ARD-Tochter Telepool. Nina Rehfeld war bei einem Vortrag des BBC-Anchormans Nik Gowing, der in Berlin über die Macht digitaler Bilder sprach. Und Elke Bihusch stellt den Fernsehfilm "Die Wannseekonferenz" vor, der heute abend bei Vox läuft. Auf der letzten Seite porträtiert Mechtild Gilzmer die Ethnologin und Widerstandskämpferin Germaine Tillion (mehr), eine ungemein mutige Frau, die auf dem Foto so rührend unschuldig aussieht, wie man sich Miss Marple vorstellt. Frank Pergande beschreibt die Versuche vierer Gerhart Hauptmann Museen, zum hundertsten Todestag des Dichters 2006 zusammenzuarbeiten. (Eine gemeinsame Internetadresse gibt es schon). Und Regina Mönch liefert anlässlich des Prozesses in Hildesheim eine außerordentlich informative Reportage über Schülermobbing.

Besprochen werden ein Auftritt der Hamburger Popgruppe "Die Sterne" in Frankfurt, die Aufführung von David Mamets "Sexual Perversity" in Frankfurt, eine Ausstellung über das Mittelalter in Franken im Pfalzmuseum Forchheim, Stanislaw Muchas Dokumentarfilm über die Mitte Europas und Bücher, darunter die Erinnerungen Johannes Pauls II. (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 28.05.2004

Auch die Russen kennen sich aus mit dem Siegen durch Anverwandlung, wie ein Artikel von Marina Rumjanzewa beweist: Zur Zeit lacht "das ganze Land über die Filme 'Herr der Ringe', 'Die zwei Türme' und 'Matrix'. Nicht über die Originale indes, sondern über deren 'lustige Übersetzungen'. Zu haben sind diese Piratenprodukte im Internet oder auf verschiedenen Videoträgern, und was darauf zu sehen ist, sind Originalbilder mit englischen Originaltexten. Nur die Musik ist teilweise ersetzt, und der russische Text, der, in einem in Russland gängigen Verfahren, hineingesprochen wird, ist frei erfunden. Diese Texte haben mit den Originalen so wenig zu tun, dass man sie nicht einmal als Parodie bezeichnen kann. Der Verfasser der 'Übersetzungen', Goblin, definiert das Genre seiner Werke als stjob - eine in Russland höchst beliebte Humorgattung, die mit Ulk und Veralberung zu tun hat, noch mehr aber mit schlichtem Blödeln."

Weitere Artikel: Christoph Schmidt berichtet über eine Debatte in Israel, wo Linksintellektuelle die israelische Besetzungspolitik mit den nationalsozialistischen Verbrechen verglichen haben und damit empörte Reaktionen auslösten. Sda. meldet das endgültige Aus für das Frankfurter TAT am 30. Mai. Die Stadt Frankfurt wird mit der Schließung des Theaters drei Millionen Euro im Jahr einsparen. Da hat die Stadt ja eine goldene Zukunft.

Besprochen werden die Ausstellung "Airworld" über das Design des Fliegens im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein und Aufführungen von Mark Andre und Brian Ferneyhough bei der Musikbiennale München. Auf der Filmseite geht es um Silvio Soldinis Konversationskomödie "Agata e la tempesta", Roland Emmerichs "The Day After Tomorrow" und Jim Jarmuschs elf Kurzfilme über "Coffee and Cigarettes". Che. schreibt einen kurzen Nachruf auf den Filmemacher Paul Lambert.

Auf der Medien- und Informatikseite informiert uns S.B. über die neuesten Entwicklungen im Kampf gegen Spammails. Und set. stellt fünf Programme vor, mit deren Hilfe Fotos, Audio- und Videodaten archiviert werden können.

Tagesspiegel, 28.05.2004

"Rettet die Aura!" ruft Max Hollein, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt in einer Polemik gegen die Virtualisierung und Technisierung der Museen. "Das Museum ist jener Ort, an dem ein Kunstwerk physisch im Hier und Jetzt erfahrbar ist. Eine Erfahrung, die uns in der Gegenwart der virtuellen Welten, die unnachgiebig unsere Wirklichkeit durchdringen, zunehmend abhanden kommt. Die Zukunft der Museen kann demnach weder in der Idee des Virtuellen liegen noch in dem multimedialen Bombardement von Zusatzinformationen und verspielten Hightech-Animationen Wange an Wange mit dem Kunstwerk selbst. Die unmittelbare, ästhetisch reine und von der Zeitdauer möglichst offene Begegnung mit dem Kunstwerk muss immer noch im Zentrum der Museumsarbeit stehen."

FR, 28.05.2004

Karin Ceballos Betancur arbeitet sich an Mario Vargas Llosas neuem Roman "Das Paradies ist anderswo" ab, hat dazu aber auch ein paar Sätze des Autors eingeholt. Zum Beispiel: "Man kann Perfektion in der Literatur erreichen, in der Musik, im Tanz, in den Bildenden Künsten. Individuelle Utopien sind in Ordnung. Aber in sozialen Kategorien funktioniert das nicht, weil die Unterschiedlichkeit der Menschen uns nicht erlaubt, Modelle zu etablieren, mit denen alle Menschen einverstanden sind."

Thomas Winkler hört mit Grausen, wie prolliger HipHop aus Berlin die Kinderzimmer erobert. Auf seinem Album "Maske" etwa singt ein gewisser Sido: "Hey, ihr Nullen, hier spricht das böse Berlin. Keine Mitte-Weicheier, keine Schickis, keine exilierten Bonner, keine Promifriseure und keine Galeristen, nein, hier spricht der Mülleimer der Hauptstadt, die dunkle Seite der Macht. Buh!"

Was ist das, wenn mit Kleingeld große Konten aufgemacht werden, fragt Ursula März: "typisch kolumnistisch". Christian Broecking berichtet vom 15. Schaffhauser Jazzfestival. In Times mager betrachtet Christian Schlüter das unglückliche Händchen der SPD beim Thema Türkei. Burkard Brunn hat sich in der Wiener Ausstellung "Eintritt frei" osteuropäische Kunst aus den sechziger und siebziger Jahren angesehen.

TAZ, 28.05.2004

Susanne Messmer stellt erleichtert fest, dass es in den Büchern der Zonenkinder vorbei ist mit der "Neuen Niedlichkeit", mit "dieser DDR von Sigmund Jähn und Sandmännchen". Von einigen Nachzüglern abgesehen, "plagen sich junge, in der DDR geborene Autoren und Autorinnen immer weniger mit Identitätspolitik herum als vielmehr damit, vordergründig die verlorene Vergangenheit zu archivieren - sie spielen höchstens noch kokett mit Klischees und Zuschreibungen. Ariane Grundies, Julia Schoch und Kerstin Mlynkec aber geht es, je jünger sie sind, viel mehr um die großen Themen: um Liebe, Leidenschaft, Ennui und Exzess, Melancholie, Widerstand, Verzweiflung und Tod. Spielt die DDR noch eine Rolle, wird sie bis auf die bekannten Besonderheiten beschrieben wie jede andere Gesellschaft auch: als ein Land, gegen das man literarisch antreten kann, ohne dabei pathetisch werden zu müssen."

Auf der zweiten Meinungsseite erklärt Michael Streck, was Roland Emmerich und Michael Moore gemein haben.

Besprochen werden neue Platten von Keane, Iron & Wine und den Eagles Of Death Metal und eine Ausstellung mit Bildern des Schotten Peter Doig in der Münchner Pinakothek - wobei Harald Fricke diese "Ansammlung von versprengten Wiedergängern aus High Art und Popkultur" ein wenig unheimlich war: "In München sind die Wände zwischen bändigender Zivilisation und dem individuell wuchernden Wahnsinn jedenfalls ziemlich dünn."

Schließlich TOM.

SZ, 28.05.2004

Hunderte von Werken der Young British Artists sind bei dem Großbrand in London in Asche aufgegangen, darunter Bilder von Patrick Heron, Tracey Emin und das schaurige Holocaust-Panorama "Hell" der Brüder Chapman. Der fassungslose Dirk Peitz will sich in seinem Nachruf auf die junge britische Kunst nicht einmal mit Ironie trösten lassen: "Dinos Chapman soll auf die Nachricht der Vernichtung von 'Hell' gesagt haben, es sei ja bloß Kunst gewesen, es passiere gerade Schlimmeres auf der Welt: 'Falls die Versicherung feststellen sollte, dass das Feuer ein Akt Gottes gewesen ist, wäre das wirklich lustig - dass Gott die Hölle zerstört hat. Wenn dem so sein sollte, werde ich wieder zur Kirche gehen.'"

Weitere Artikel: Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp interpretiert im Interview die Folter- und Exekutionsfotos im Interview mit Ulrich Raulff als "Bildakt", die ebenso wirksam sind wie Waffen und Geld. "Wir sehen gegenwärtig Bilder, die Geschichte nicht abbilden, sondern sie erzeugen." Alexander Kissler hofft, dass der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts in Dresden, Gerhard Besier, mit der Scientology-Ausgabe der hauseigenen Zeitschrift "Religion - Staat - Gesellschaft" den Bogen endgültig überspannt hat. Als einen überaus produktiven Irrtum hat Wolfgang Schreiber das Projekt Vivaldi-Cage-Pärt in Schloss Neuhardenberg erlebt. Merten Worthman berichtet vom gigantischen viereinhalb Monate langen Festival "Forum der Kulturen" in Barcelona. Und Hanns Zischler widmet sich in der Reihe "Vom Satzbau" der Interjektion, Tonwörtern ("schwupp") und Schallwörtern ("wupp").

Auf der Medienseite meldet Gerd Zitzelsberger, dass der Springer Verlag aus dem Poker um den Daily Telegraph ausgestiegen ist.

Besprochen werden die Ausstellung "show me the future" zu Werner Sobeks Technikvisionen in der Münchner Pinakothek der Moderne, die deutsche Erstaufführung von Nabokovs "Walzers Traum" in Darmstadt, Thomas Hengelbrocks "Rigoletto"-Inszenierung in Baden-Baden und Bücher, darunter Paul Zankers und Björn Ewalds Studie zur Bildwelt der römischen Sarkophage "Mit Mythen leben" und Carl Jonas Almqvists Roman "Die Woche mit Sara" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).