Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.03.2004. Die SZ sucht arabische Intellektuelle auf Augenhöhe. In der FR ärgert sich Ulrike Ackermann über das mangelnde Wir-Gefühl in Europa. Die NZZ besucht den Komponisten Salvatore Sciarrino. In der FAZ wünscht sich Gerhard Stadelmaier eine Lulu mit Kopf.

SZ, 26.03.2004

Sonja Zekri fragt, warum die Kritik an Israel meist so hart, die an den Palästinensern so mild ausfällt. Zwar glaubt sie, dass die Vorwürfe gegen Israel "ein Gegenüber auf gleicher Augenhöhe treffen", ist damit aber nicht zufrieden: "Wo überwindet ein arabischer Schriftsteller die sterile Routine des Antiamerikanismus zugunsten einer Selbstkritik, die nach all den Jahren in der Opferrolle wie eine Erlösung wirken würde? Wo sind die Stimmen in Palästina, in der arabischen Welt, die nicht nur Mitleid für die eigenen Toten fordern, sondern auch für jene der anderen Seite? Man findet sie kaum, schlimmer noch: man erwartet nicht einmal, sie zu finden, und viel zu selten wird dieser Mangel überhaupt als böses Defizit wahrgenommen."

Nach den Kommunalwahlen in Frankreich, bei denen sich Le Pens Front National als konstant erfolgreich erwiesen hat, sieht Clemens Pornschlegel das politische System des Landes in einer schweren Legitimationskrise: "Rest-Europa mag es vielleicht noch nicht ganz klar sein. Der rassistische Nationalismus ist in Frankreich zum festen Bestandteil des politischen Alltags geworden. Gewalt gegen Juden gehört zu diesem Alltag. Der Rassismus liegt nicht hinter, sondern vor uns."

"Die Medien agieren kulturell als Herrschaftssystem", behauptet Wolfgang Rihm in einem ganzseitigen Gespräch mit Gerhart Baum über Mainstream, Effizienzdenken und Bildungsbürger in der Kultur.

Weiteres: Carlos Widman berichtet von der peinvollen Eröffnung eines Museums über die Militärdiktatur in Argentinien. Ijoma Mangold berichtet irritiert von einem Vorfall bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse. Dabei hatte Zentralratsvize Salomon Korn aus Protest die Veranstaltung verlassen, nachdem die frühere lettische Außenministerin Sandra Kalniete gefordert hatte, über den Nationalsozialismus nicht die Schrecken des Kommunismus zu vergessen. Jens Schneider meldet, dass der Streit um den Neubau der Paulinerkirche in Leipzig beigelegt ist. "HPK" wirft ein Schlaglicht auf den neuen Verlag "Matthes & Seitz", der sich in Leipzig vorstellt. Dirk Peitz schwärmt vom "naiven, emphatischen, melancholischen, ehrlichen, grundsympathischen" Pop der französischen Band Phoenix (mehr hier).

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Inszenierung der "Lulu" (Anne Tismer "ist Trotzkopf und Opas Luder, Salonschlange, Vamp und Zinnsoldatin. Sie macht sich zum Affen mit Schlenkergliedern, wackelt lasziv mit den Hüften und schleckt sich die Lippen"), Todd Phillips Remake von "Starsky & Hutch".

Und Bücher, darunter Jan Wagners Gedichtband "Guerickes Sperling" und Peter Reichels politische Geschichte von Theater und Film "Erfundene Erinnerung" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

FR, 26.03.2004

"Selbstvergessen und friedenssehnsüchtig bastelt die EU an ihren Institutionen und scheint die Welt um sich herum wie ein im Spiel versunkenes Kind vergessen zu haben", wettert die Politologin Ulrike Ackermann. Angesichts des nach dem "kurzweiligen Schock" von Madrid wieder einsetzenden Gefeilsches der EU-Nationen um Macht diagnostiziert sie ein mangelndes Wir-Gefühl in der "Salatschüssel" Europa: "Offensichtlich muss der Terror - zynisch gesprochen - erst jeweils national erfahren werden, in Berlin, Paris oder Brüssel Bomben explodieren, bis ein Zusammengehörigkeitsgefühl und gemeinsames Handeln angesichts des islamistischen Terrors gegen den Westen in Europa entstehen."

Weitere Artikel: Ruth Spietschka hat sich durch die Literaturbeilagen der großen Zeitungen gewühlt und ist an der Tristesse der Buchwerbung, die sich an Händler statt an den Leser richtet, schier verzweifelt: "Punkt, Punkt, Komma, Strich: und fertig ist - die Buchwerbung?" Ulrich Clewing beklagt das Ende des Zentrums "Zeitgenössische Kunst und Kritik" in Essen (die Homepage steht indessen noch). In Times Mager spottet Christian Schlüter über Schröders und Münteferings Versuche, das Geld mittels "vaterländischer Verpflichtung" zu disziplinieren. Besprochen werden Thomas Ostermeiers Inszenierung von Frank Wedekinds "Lulu" an der Berliner Schaubühne und die "Whitney Biennial" (hier die Homepage) in New York.

TAZ, 26.03.2004

Gerrit Bartels erzählt, was er so auf der Leipziger Buchmesse erlebt und gehört hat, zum Beispiel, dass die neue SZ-Bibliothek ein richtiger Coup sein soll. "Variationen über eine Frau, die immer wieder in die Patsche gerät" hat Simone Kaempf in Berlin gesehen: Thomas Ostermeiers Lulu-Inzenierung: In der Kolumne "zwischen den rillen" widmet sich Hans Nieswandt den neuen Alben von N.E.R.D. und Kanye West. Stefan Reinecke hat Frank Schirrmachers düstere Prophetie "Das Methusalemkomplott" gelesen und wendet sich "entsetzensbleich" ab.

Auf der Meinungsseite unterhält sich Daniel Schulz mit Cicero-Chefredakteur Wolfram Weimar über Patrizier, Pöbel und die res publica.

Und noch TOM.

NZZ, 26.03.2004

Elisabeth Schwind hat den Komponisten Salvatore Sciarrino (mehr hier) besucht und sich die Regeln des Komponierens erklären lassen: "Er öffnet eine Mappe und zieht ein Blatt Papier hervor: Es ist die Skizze eines Werks, an dem er gerade arbeitet. Eine grafische Skizze, ohne Notenlinien, aber mit Zeichen, so filigran wie mittelalterliche Neumen, aufgezogen auf unsichtbare Zeitfäden. Sciarrino, so erinnern wir uns in diesem Moment, hat als Kind, bevor sich die musikalische Begabung ihre Bahn brach, ungewöhnlich viel gemalt. Jetzt allerdings möchte er etwas anderes zeigen: 'Wenn ich so beginne, gibt es nicht nur Regeln, sondern auch die fürchterlichsten Maßeinheiten. Doch Regeln sind nur für das nützlich, was man schon kennt. Beim Komponieren allerdings liegt das Problem nicht in dem, was ich schon kenne. Wenn ich mich nicht wiederholen will, sind die Regeln weg.'"

Weitere Artikel: Urs Schoettli erkennt in der "sträflichen Vernachlässigung der Peripherie" eine wesentliche Ursache des Terrorismus. Erfolgreich könne der Kampf gegen den Terrorismus nur dann geführt werden, wenn mit einer gemeinsamen Anstrengung aller Staaten, Gesellschaften und Religionen weltweit "Krankheit, Hunger und Elend" bekämpft und der Dialog mit dem Süden aufgenommen wird. Anlässlich Salvatore Dalis 100. Geburtstags eröffnet im Caixa Forum Barcelona eine große Ausstellung; Markus Jakob erinnert an den "Meister der Verwandlung". Georges Waser berichtet über die Kampagne britischer Museen, die in einem Manifest mehr staatliche Zuwendung einfordern. Beatrice Eichmann-Leutenegger wirft einen Blick in die Literaturzeitschriften Akzente und neue deutsche literaturGemeldet wird die Verleihung des mit 120.000 Franken dotierten Roswitha-Haftmann-Preises an die britische Künstlerin Mona Hatoum

Auf den Filmseiten schildert Susi Koltai den neuen cineastischen Elan in Ungarn. Mitg. informiert uns über die internationale Konferenz "Film. Geschichte. Schreiben - Kanonisierung und die Liebe zum Kino". Besprochen werden Burkhard Röwekamps Buch "Vom film noir zur methode noire. Die Evolution filmischer Schwarzmalerei" und die Filme "Si pensava di restare poco" von Francesca Cangemi und Daniel von Aarburg, "Big Fish" von Tim Burton, "Blumen zu Zeiten der Okkupation" von Igor Grigoriew sowie "Ne fais pas ca!" von Luc Bondy der im Interview über die Tücken des Filmemachens spricht: "Ursprünglich sollte zum Beispiel der junge Mann, der jetzt Koch ist, Eishockeyspieler sein. Das wandelten wir um; die Miete eines Eisfeldes mit allem Drum und Dran wäre extrem kostspielig gewesen."

Auf den Medienseiten hat Heribert Seifert die neuen Magazine Cicero, Dummy, Alert, Qvest und Monopol durchgeblättert und stellt fest: "Auffällig ist allerdings, dass das Interesse gerade der kreativen jungen Magazinmacher nicht den Feldern von Politik, Kultur und Wirtschaft im traditionellen Sinne gilt. Hier bleibt eine Lücke, die man sich nicht bloß als Leser bald geschlossen wünscht." Snu. stellt Air America Radio vor, eine neue linksliberale Radiostation aus den USA. Und ras. berichtet von einer Studie über Antisemitismus, die die Anti-Defamation-Kommission, Bnai Brith Zürich, in Auftrag gegeben hatte. "Danach informieren die hiesigen Medien großenteils fair über die Juden, während in der Berichterstattung über muslimische Akteure ein klar negatives Bild vermittelt wird."

FAZ, 26.03.2004

Thomas Ostermeier hat an der Berliner Schaubühne Wedekinds "Lulu" inszeniert, doch leider: "Lulus Raketen steigen nicht", schreibt Gerhard Stadelmaier und stellt sich eine heutige Lulu vor: Sie "wäre die Frau aus dem Reigen, der sie allein ist. Durch sie hindurch geht eine ganze Welt von Männern. Zugrunde. Sie ist nur die Probe: auf die Liebe, die Lust, die Sehnsucht, das Leben. Die Probe, die keiner besteht. Die Person, an der das Vorhandene, also vorerst das Vorhandene an Männern, scheitert. Eine Zukunftsvision - gemordet. Das wäre die Lulu von heute. Darin läge ihr Geheimnis. Ihre Tollheit. Ihre Vernunft. Es käme weniger auf ihre Dessous an. Mehr auf ihren Kopf."

Weitere Artikel: Jordan Mejias war im Theater und hat ein "Bühnentalent allererster Ordnung" gesehen: "Al Pacino könnte nicht ausdrucksvoller die Wasserflasche ansetzen, immer und immer wieder, und Christopher Plummer, gerade im anderen Teil der Stadt als Lear zu Gange, nicht unauffällig auffälliger das Schneuztuch aus der Tasche ziehen. Professor Harold Bloom, egal wie, ist ein Star." Bloom plauderte mit Tony Kushner über das Theater und seine Beziehung zur Religion. Rik., vw. und hhm. liefern Skizzen von der Buchmesse. Edo Reents gratuliert sehr artig Diana Ross zum Sechzigsten. Christian Geyer meditiert über das Treffen Gaddafis mit Blair. Dieter Bartetzko kritisiert den Entwurf des Architekturbüros Erick van Egeraat für die Aula der Universität Leipzig, den die Jury des Wettbewerbs empfohlen hat. Kerstin Holm wirft einen Blick in russische Zeitschriften.

Auf der Medienseite macht sich Hajo Friedrichs Gedanken über die Berichterstattung aus Brüssel: "Heute sind Berichte von der EU gefragt, wenn sie Stoff liefern, der sich dramatisieren, personalisieren und - wenn es sich ergibt - skandalisieren lässt. Das ist nicht immer falsch, aber insgesamt zuwenig und lässt immer mehr den politischen Prozess und dessen Folgen für jeden einzelnen in der EU außer acht." Andreas Platthaus zieht drei Lehren aus der Lektüre des neuen Magazins Cicero. Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Platthaus die Fotografin Daniela Steinfeld, die in ihrer Düsseldorfer Galerie "Van Horn" "sieben hinreißende" Zeichnungen von Robert Crumb ausstellt. Michael Maar beschreibt das Leben Heinz von Lichbergs, der "Lolita" erfand. Und Alexandra Kemmerer gibt Sponsoren einen Tipp: die UNO braucht 1,2 Milliarden Dollar zur Renovierung ihres Gebäudes.

Besprochen werden Bücher, darunter Peter Gülkes Biografie des Komponisten Guillaume Du Fay (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr) und die große Ausstellung zur französischen Genremalerei im Alten Museum in Berlin: "Die Schau, die zuvor in Ottawa und Washington gezeigt wurde, bestätigt den Eindruck, die französische Kulturproduktion jener Tage sei geradezu obsessiv mit Kommentaren und Anleitungen zu einer Strategie der Verführung beschäftigt gewesen", schreibt Niklaas Maak.