Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2004. In der FAZ leitet Paul S. Hewitt die kommenden Dramen der Weltpolitik aus den demographischen Gegebenheiten ab. Die NZZ staunt über Philippe Cauberes Pavianschnute a la Mnouchkine. In der Welt verteidigt Norman Manea die Fehler der Demokratien. Die taz teilt die Menschheit in McKinseys und echte Menschen. Die FR sucht nach dem Profil John Kerrys. In der SZ meditiert Frank Böckelmann über die Überwachung des Internetverkehrs.

NZZ, 23.03.2004

Marc Zitzmann porträtiert den französischen Schauspieler Philippe Caubere, der in seinem gigantischen autobigrafischen Zyklus sein Talent zur Imitation voll und ganz ausschöpft. Dabei schlüpft Caubere in mehr als zweihundert verschiedene Rollen, erzählt Zitzmann - unter anderem in die seiner künstlerischen "Übermutter", der Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine: "Ariane etwa ist nicht nur die unleidliche Autokratin, die mit angewiderter Pavianschnute ihren Schauspielern tagein, tagaus die Worte 'Ihr kotzt mich an' an den Kopf wirft, sondern auch ein Mensch mit einem komplizierten Verhältnis zur Sprache, mit hauptstädtischen Vorurteilen und jähen Albernheitsanfällen, ein unrettbarer Blaustrumpf, im Grunde ein entzückendes fünfjähriges Mädchen."

Weiteres: "Hmn." meldet den Rücktritt des Intendanten der Salzburger Festspiele Peter Ruzicka. Besprochen werden zwei Ausstellungen etruskischer Kunst in Hamburg (eine im Museum für Kunst und Gewerbe und eine im Bucerius-Kunst-Forum), sowie Bücher, darunter der "wort- und bildgewaltige", monumentale Versroman "Fredy Neptune" von Les Murray ("ein wahrhaft modernes Epos, eine pikareske Irrfahrt durch ein wahnsinniges Jahrhundert, von Krieg zu Krieg, dazwischen Armut, Gewalt, Vorurteile, die Scheinwelt von Film und Zirkus", schwärmt Jürgen Brocan), Ulf Diederichs Übersetzung des altjiddischen "Ma'assebuchs" und Doron Rabinovicis Roman "Ohnehin" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.03.2004

Man kann sich zwar fragen, warum ein solcher Artikel auf den Kulturseiten einer Zeitung steht, aber packend ist er. Paul S. Hewitt, Leiter der Politikabteilung im amerikanischen Sozialministerium (und ehemals Direktor der Initiative "Global Aging" am "Centre for Strategic and International Studies") leitet in einem ganzseitigen Artikel alle Herausforderungen der Weltpolitik aus den unterschiedlichen demographischen Gegebenheiten der Weltregionen ab. Die kollabierenden Rentensysteme in Europa und Japan könnten dabei sogar jene bevorzugten Gegenden in Mitleidenschaft ziehen, von den in den nächsten Jahrzehnte am meisten abhängt: China und Indien. Zwei statistische Projektionen zeigen die dramatische Lage: "Bei gleichbleibender Geburtenrate würde sich beispielsweise die Bevölkerung des Jemen im Jahre 2050 auf 158,6 Millionen erhöht haben - von 18,3 Millionen im Jahre 2000 und lediglich 4,3 Millionen 1950. Da mehr als die Hälfte der Bevölkerung noch in ihr reproduktives Lebensalter eintreten wird, gehen selbst die optimistischsten Vermehrungsschätzungen von 71 Millionen Jemeniten um 2050 aus. Dies betrifft eine Wüstengegend, in der lediglich drei Flüsse das ganze Jahr lang Wasser führen." Für Deutschland sieht Hewitt die Bevölkerung bis 2050 auf 71 Millionen sinken: "Dies setzt jedoch voraus, dass die Fruchtbarkeit sich wieder etwas steigern wird, während die hohe Immigrationsrate unbegrenzt anhält. Ohne diese Entwicklungen würde die deutsche Bevölkerung im Jahre 2050 auf 51 Millionen und im Jahre 2100 auf 24 Millionen gesunken sein." Eine Menge weiterführender Artikel zum Thema finden Sie hier.

Weitere Artikel: Paul Ingendaay nimmt in einem resümierenden Artikel die ehemalige spanische Regierung trotz all ihrer Fehler vor dem Vorwurf in Schutz, sie hätte die Öffentlichkeit bei den Anschlägen in Madrid wissentlich in die Irre geführt. Julia Spinola hat in Frankfurt das Mahler Chamber Orchestra unter Daniel Harding gehört, aber vor allem auch gesehen: "Wenn Daniel Harding dirigiert, scheint sich seine ganze Gestalt in Musik aufzulösen." Eleonore Büning glossiert den Abgang Peter Ruzickas bei den Salzburger Festspielen, die er nur noch bis 2006 künstlerisch leiten will. Andreas Rossmann resümiert den "schwer erklärlichen " Triumph des Festivals lit.Cologne. Gerhard Koch gratuliert "Greenaways Morricone", nämlich Michael Nyman zum Sechzigsten. Oliver Tolmein hat den fünften Staatenbericht der Bundesrepublik über die Menschenrechtslage im Lande (hier als pdf) gelesen, der turnusgemäß bei den Vereinten Nationen vorgestellt wurde.

Auf der Medienseite stellt Michael Hanfeld zwei heute laufende Dokumentationen über den Irak-Krieg vor. Jürg Altwegg berichtet, dass die Washington Post in Paris eine französische Ausgabe von Newsweek herausbringt. Und Matthias Rüb berichtet über das Entstehen linker Talk-Radios in den USA.

Auf der letzten Seite schildert Alexandra Kemmerer das fromme Leben im Benediktinerinnen-Kloster Abtei Burg Dinklage bei Oldenburg. Niklas Bender berichtet über ein neues Buch von Pierre Jourde und Eric Naulleau, die vor zwei Jahren mit einer scharfen Polemik gegen den Pariser Literaturbetrieb bekannt wurden, die sie nun also aufwärmen. Und Katja Gelinsky schreibt ein Profil über den amerikanischen Bundesrichter Antonin Scalia, der ein Verfahren von Umweltschützern gegen seinen guten Freund Dick Cheney leiten muss.

Besprochen werden das Stück "Prominentenball" von Ringsgwandl (in dem es unter anderem um Uschi Glas geht) am Münchner Residenztheater, die Ausstellung "Nähe und Ferne" über das Verhältnis von Deutschen, Tschechen und Slowaken im 20. Jahrhundert in Leipzig.

Welt, 23.03.2004

In der Welt findet sich ein Interview mit dem amerikanischen Kulturwissenschaftler und Publizisten Norman Manea, dessen Autobiografie "Die Rückkehr des Hooligan" gerade erscheinen ist. Es geht um Nationalsozialismus, den Manea im Konzentrationslager überlebt hat, um den neuen "Nazi-Islamismus" und die USA: "Jemand hat gesagt: Das Genie der Amerikaner bestehe in der Vereinfachung. War es gut, dass die Amerikaner das komplexe Problem, ob man in den Zweiten Weltkrieg eingreifen sollte, so weit vereinfachten, dass sie am Schluss intervenierten? War es gut, dass die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ihren früheren Feinden wieder auf die Füße halfen und den Vormarsch des Kommunismus blockierten? Ich glaube, es war gut. Und heute warnt Amerika die Welt vor der Gefahr, die vom islamischen Fundamentalismus ausgeht. Natürlich ist Amerika trotzdem extrem unvollkommen, das liegt in der Natur der Demokratie. Und natürlich können brutale Vereinfachungen auch sehr gefährlich sein und schwere Konsequenzen haben. Aber Fehler von Demokratien, die korrigierbar sind, unterscheiden sich essenziell von den bösen Projekten von Diktaturen."

TAZ, 23.03.2004

Im Kulturteil nimmt sich Robert Misik die Metapher vom "McKinsey-Syndrom" vor. Über die "schroff geschiedenen Sphären von 'Herrschenden' und 'Beherrschten'" habe sich "ein plakatives Bild gelegt: hier die globalisierten Eliten in ihren grauen Business-Suits, in ihren Tagungs- und Konferenzhotels, Flughafenlobbys und Stahl-Glas-Bürohäusern, diesen Nicht-Orten erhöhter Mobilität, den Kulissen des Sozialen - jenseits von Raum und Zeit. Figuren ohne Eigenschaften, Gefühlszombies, die keine Biografie mehr haben, sondern nur mehr ihren eigenen Geschäftsbericht leben. Und da alle anderen, eine schillernde Buntheit aus Exkludierten, kleinen Leuten, Vorstadtkids, Künstlern und Lebenskünstlern (...) Kurzum: hier die McKinseys - und da die echten Menschen." Doch obwohl McKinsey "seit längerem schon eine Chiffre für Ökonomisierung" sei, scheine es, "dass es heute fast schon auch das Gegenteil ist: Chiffre für die Revolte der Subjekte gegen diese Ökonomisierung."

Im letzten Teil seiner "Kleinen Soziologie der Erziehung" denkt Dirk Baecker darüber nach, wie sich die diversen Pädagogiken "intelligenter" Erziehungskonzepte von den Ideologien ihrer eigenen Ideen befreien könnten ("Manche Schulen und alle Universitäten können auf das ersehnte Klingelzeichen erst verzichten, wenn und weil alle Beteiligten gelernt haben, sich auf diese Episodenstruktur der Erziehung zu verlassen").

Weitere Artikel: Detlef Kuhlbrodt kommentiert die jüngste Staffel von "Big Brother" als "postmodernes Theaterstück": "Man kann sie auch als Sandmännchen benutzen. Ist doch schön, grad als Junggeselle, wenn man beim Ins-Bett-Gehen im Fernseher den Bewohnern beim Ins-Bett-Gehen zuschauen kann." Na dann gute Nacht. Auf der Medienseite berichtet Daniela Weingärtner, warum der Ex-tazzler und jetzige Stern-Reporter Hans-Martin Tillack im Rahmen seiner EU-Filz-Recherchen in Brüssel verhaftet wurde und seither "leichte Zweifel am Rechtsstaat" hegt.

Besprochen werden das "Leningrader Album" von Evgenij Kozlov, das seine höchst erotischen Schülerzeichnungen aus den Jahren 1968 bis 1973 zeigt, und die Autobiografie von June Netwton, der Frau des kürzlich verstorbenen Fotografen Helmut Newton (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

FR, 23.03.2004

Welches politische Profil hat der Bush-Herausforderer John Forbes Kerry nun eigentlich?, fragt sich die New Yorker Kolumnistin der FR, Marcia Pally, im Aufmacher. Die Zwischenbilanz fällt, höflich gesagt, bescheiden aus: "John Kerry neigt wie viele Politiker zur Sprunghaftigkeit. Sein Abstimmungsverhalten belegt, dass er den Irak-Krieg von 2003 heute kritisiert, im Jahr davor jedoch für seine Autorisierung gestimmt hat. (...). Obwohl er für die Militärinterventionen in Kosovo, Somalia, Haiti, Panama und Afghanistan war, stimmte er im Jahr 1991 gegen den ersten Golf-Krieg. Nach dem schnellen Sieg von 1991 wendete Kerry sein Fähnchen und unterstützte den Krieg, ein Sinneswandel, der seine Mitarbeiter so sehr verwirrte, dass sie in seinem Wahlkreis Briefe verschickten, die beide Standpunkte unterstützten." Klingt wirklich toll.

Weiteres: Oliver Herwig wirft einen Blick auf die Münchner Theresienhöhe, wo derzeit auf dem alten Messegelände und drum herum ein neues Stadtviertel ("Experimentierfeld für Architekten und Stadtplaner") entsteht. Alexander Kluy resümiert eine Sonntagsmatinee des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der im Theater am Schiffbauerdamm die wertvolle Frage "Brauchen wir einen neuen Karl Marx?" zur Diskussion stellte. Dirk Fuhrig berichtet von der vierten lit.Cologne ("Wenn eine Stadt sogar ihre Sportstudios leer stehen lässt, wenn die Literatur ruft - was kann da noch schief gehen"). Peter Michalzik kommentiert den Rückzug vom Peter Ruzicka aus Salzburg. Und in Times mager räsoniert Burkhard Müller-Ullrich aus gegebenem Anlass (Leipziger Buchmesse) über die nicht nur semantische Beziehung zwischen Esprit und Weingeist. Gemeldet wird schließlich die Verleihung der Goethe-Medaille an Imre Kertesz - und dass Mel Gibson einen weiteren Bibel-Film plant!

Auf der Medienseite wundert man sich über die verstockte Informationspolitik im Zusammenhang mit der Verhaftung des Stern-Reporters Hans-Martin Tillack in Brüssel.

Besprochen werden die Installationen des Venezianers Fabrizio Plessi im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Außerdem präsentiert die FR heute eine Kinder- und Jugendbuchbeilage.

SZ, 23.03.2004

In einem umfangreichen Essay denkt der Münchner Publizist und Kommunikationsforscher Frank Böckelmann über die Patenschaft der abendländischen Idee von der Allwissenheit Gottes für die Überwachung des Internet-Verkehrs nach. "Diese oder jene Adresse passierend, hier stundenlang, dort nur Sekunden verweilend, beichtet der Surfer seine gesammelten Neugierden und deren Intensität. Absolution erhält er nicht." Nachdem die Anwender "ihre Windows geschlossen und ihr Einzelleben wieder aufgenommen haben, bangen sie vor der Entlarvung ihrer Gedankenverbrechen und vor öffentlicher Schande." Vor die akribische Beschreibung, wie eine solche "Entlarvung" technisch eigentlich funktioniert, stellt Böckelmann allerdings die gleichmütige Feststellung: "Ja, liebe Anwender, unsere schlimmsten Träume sind Wirklichkeit. Dennoch wäre Panik unangebracht, weil völlig vergeblich."

Alexander Kissler bringt uns in Sachen Kopftuchdebatte in Deutschland auf den neuesten (Argumentations)Stand. Er findet es vor allem "beunruhigend, wie schnell die Entwicklung von Parallelgesellschaften voranschreitet, denen die Mehrheitsgesellschaft entweder mit Desinteresse oder aber mit Verboten begegnet. Das Kopftuch - was auch immer sonst es ausdrücken mag - ist das sichtbarste Zeichen dieser dramatischen Entwicklung."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel porträtiert die britische Architektin Zaha Hadid (mehr hier), die den Pritzker-Preis erhält. Thomas Steinfeld berichtet von der Pariser Frühjahrsbuchmesse, auf der China ganz nah und Deutschland ganz fern scheint. Wolfgang Schreiber kommentiert den Rückzug von Peter Ruzicka von den Salzburger Festspielen. Gerhard Persche informiert über die Einweihung der neuen Säle des Wiener Musikvereins, und Kersten Knipp besuchte das Flamencofestival im andalusischen Jerez de la Frontera, wo "die Selbstdisziplinierungsrituale des Publikums" nur als "charmant inkonsequent" beschrieben werden können. "Egge" räsoniert über die Heringsverteilungsaktion von Verteidigungsminister Struck im niedersächsischen Verden, und in der "Zwischenzeit" ventiliert Wolfgang Schreiber den trostlosen Zusammenhang zwischen Handyklingeltönen und der Abschaffung der Berliner Symphoniker. Gemeldet wird, dass das Archiv der Jüdischen Presse jetzt online ist: Unter www.juedische-presse.de sind zahlreiche deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von 1810 bis zur Gegenwart im Original-Layout abrufbar.

Besprochen werden Lutz Hübners "Bankenstück" am Maxim Gorki Theater Berlin, der fernöstliche Publikumsrenner "Shaolin Kickers" von Stephen Chow, eine Ausstellung neuer politischer Kunst aus dem Iran im Berliner Haus der Kulturen der Welt, eine Ausstellung über Johann Wilhelm Ludwig Gleim und den Freundschaftskult der Aufklärung im Gleimhaus Halberstadt und Bücher, darunter eine Studie über Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre und eine Quellenedition zum Berliner Antisemitismusstreit 1879-1881 (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).