Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2004. Die NZZ findet Nabokovs "Lolita" nach den jüngsten Enthüllungen noch lesenswerter. Die taz informiert über Exekutionsmobile in China. Die SZ plädiert für einen zugkräftigen Linkspopulismus und meditiert über unsere durch Massenmord verhexte Spaßkultur. In der FAZ plädiert der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner für die Schuldfähigkeit des Menschengeschlechts.

NZZ, 22.03.2004

Andreas Breitenstein stellt die von Michael Maar in der FAZ zusammengetragenen Indizien vor, die dafür sprechen, dass Lolita eine kleine Schwester hat - und sieht darin nicht den schlechtesten Grund, Nabokovs Roman "wieder (oder endlich!) zu lesen", denn: "Falls Lichbergs kleine Lolita wirklich eine maßgebliche Inspirationsquelle gewesen ist, wirft das auf Nabokovs große Lolita keinen Schatten", schreibt Breitenstein.

Weiteres: Der vielleicht nicht wichtigsten, aber einer "der schönsten" Literaturveranstaltungen hat Roman Bucheli beigewohnt: auf den 34. Rauriser Literaturtagen lasen unter anderem drei georgische Poeten zum Thema "Lieben und Leben". Anlässlich der El-Greco-Ausstellung in der Nationalgalerie London regt sich wieder der Gelehrtenstreit um die Urheberschaft der "Dame im Pelzumhang" (Bild hier), berichtet Georges Waser. Auf geschlossener Veranstaltung in der Züricher Tonhalle hat Peter Hagmann dem Collegium Novum Zürich zuhören dürfen und dabei gar kein Verständnis für diese Art der Öffentlichkeitsarbeit des Ensembles aufbringen können. Schließlich gratuliert Jürgen Brocan zum achtzigsten Geburtstags dem Lyriker Michael Hamburger (mehr hier), in dessen umfangreicher Apfelsortenzucht er die Zuwendung zum Elementaren gespiegelt findet.

FAZ, 22.03.2004

Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner greift in die FAZ-Gehirndebatte ein und wendet sich gegen den Determinismus von Hirnforschern wie Wolf Singer und Gerhard Roth, die den Begriff der Schuld in Frage stellen, weil all unsere Handlungen allein von unseren Hirn diktiert seien: "Folgt man einigen Postulaten in der aktuellen Debatte über die Willensfreiheit, so hätten die Angeklagten der Nürnberger Prozesse nicht hingerichtet, womöglich hätten sie nicht einmal bestraft werden dürfen. Denn, so lautet das Argument, eine Gesellschaft dürfe niemanden bestrafen, nur weil er in irgendeinem Sinne schuldig geworden sei. Das wäre nur dann sinnvoll, wenn dieses denkende Subjekt die Möglichkeit gehabt hätte, anders zu handeln als tatsächlich geschehen. Der Verbrecher gegen die Menschlichkeit als Sklave seines Gehirns."

Weitere Artikel. Mark Siemons sieht Lutz Hübners "Bankenstück" im Berliner Gorki-Theater, das den Berliner Bankenskandal aufgreift und es zur Revolution kommen lässt, als eine "durchaus staatstragende Beweisführung, weshalb Revolutionen sich nicht lohnen und weshalb die Theater dennoch auf ihre Gebärde nicht verzichten wollen". Zhou Derong diagnostiziert nach den Wahlen in Taiwan die "erste wirkliche Krise" der Demokratie auf Taiwan, denn der Präsident Chen Shui-bian hat mit 30.000 Stimmen Vorsprung gewonnen, während 300.000 Stimmzettel als ungültig erklärt wurden. Christian Geyer will in der Leitglosse nicht an Bushs Behauptung glauben, die Welt sei seit dem Irak-Krieg sicherer geworden. Harald Hartung gratuliert dem Dichter Michael Hamburger zum Achtzigsten. Joesph Croitoru blickt in polnische Zeitschriften, in denen es um das Geschichtsbild älterer und jüngerer polnischer Schriftsteller geht. Thomas Wagner gratuliert dem Kunsthistoriker Wulf Herzogenrath zum Sechzigsten. "G. St." meldet, dass die Akademie der Darstellenden Künste von Frankfurt nach Bensheim zieht.

Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld, dass der Stern-Reporter Hans-Martin Tillack, der wegen missliebiger Berichterstattung über Korruption in der EU von der belgischen Polizei festgenommen worden war, wieder freigelassen wurde - nun muss sie nur noch seine Archive wieder herausrücken.

Auf der letzten Seite liest Frank-Rutger Hausmann Reiseberichte von Ausländern, die Nazideutschland besuchten und stellt eine weithin positive Haltung zu den Judenverfolgungen fest. Kerstin Holm berichtet, dass das deutsche Kulturjahr in Russland von den russischen Ausrichtern mit Höhepunkten wie einer James-Last-Tournee gesegnet wurde. Und Gerhard Rohde den Komponisten und künstlerischen Leiter der Salzburger Festspiele Peter Ruzicka, der außerdem noch die Münchner Musiktheater-Biennale leitet - sehr zum Ärger der Salzburger Oberherren.

Besprochen werden eine Ausstellung der Künstlerin Leni Hoffmann im Kunstverein Hannover sowie ein Konzert des Altsaxofonisten Emil Mangelsdorff und seines Quartetts in Frankfurt.

FR, 22.03.2004

Nur im steten Gespräch mit ihren Bürgern können die europäischen Regierungen den Kampf gegen den Terror gewinnen, konstatiert der Politologe Herfried Münkler zum Auftakt einer Serie rund um die Toleranz. Die politische Bedeutung Spaniens jedenfalls ist durch den angekündigten konditionierten Abzug aus dem Irak enorm gestiegen. "Die Mehrheit der spanischen Wähler hat, indem sie Jose Luis Rodriguez Zapatero ins Amt des Ministerpräsidenten befördert hat, einen Mechanismus in Gang gesetzt, der die stillschweigenden Vereinbarungen der politisch verkehrten Welt zur Offenlegung zwingt oder aber destruiert. Und diese Vereinbarung lautet im Kern: Die einstigen Kriegsgegner verzichten auf jede öffentlich bekundete Schadenfreude über die schwierige Lage der Amerikaner in Irak, während diese mitsamt ihren Verbündeten sich darum bemühen, die Kastanien, die sie ins Feuer geworfen haben, so schnell wie möglich wieder herauszuholen."

Der "Dichter der Naturdinge", Michael Hamburger (mehr), wird heute achtzig Jahre alt. Michael Braun gratuliert und zitiert W.G. Sebald, der über Hamburgers Seelenverwandtschaft zu Hölderlin sinnierte: "Ist es möglich, dass man sich später in diesem Haus in Suffolk hat niederlassen müssen, nur weil in seinem Garten die Zahl 1770, das Geburtsjahr Hölderlins, auf einer eisernen Wasserpumpe steht?"

Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod vom Prominentenfotograf Peter Basch (mehr). In Times mager verfällt Stefan Kaufer der melancholischen Theater-Grübelei. Gemeldet wird, dass die Akademie der Darstellenden Künste von Frankfurt nach Bensheim zieht, des lieben Geldes wegen. Auf der Medienseite erzählt "Bild-am-Sonntag"-Chefredakteur Claus Strunz von seiner neuen Polit-Talkshow. Die FR druckt zudem Veronique Zanettis umfassende Analyse zur prekären Stellung der Frau im Krieg und humanitären Völkerrecht (hier die noch stattlichere Langfassung).

Besprechungen widmen sich Ausstellungen mit Stadtfotografien von Berenice Abbott und Naoya Hatakeyama in Berlin und Ringsgwandls neuem Programm im Münchner Residenztheater.

TAZ, 22.03.2004

Auf den Tagesthemenseiten informiert ein Artikel über die neuen Exekutionsmobile in China - auf der Basis des Fiat Iveco oder vom Typ "Heiliger Weg". Sven Hansen fasst ergänzend die Einschätzung von amnesty international zusammen. Wir zitieren den Werbetext für die Todesmobile: "Das auf dem umgerüsteten Fahrgestell der Reisebusserie 6792 Xiamen King Long ('Goldener Drache') basierende Exekutionsmobil zeichnet sich durch verhältnismäßig großen Komfort aus. Der Wagen ist ausgestattet mit einer elektrisch betriebenen Exekutionsbahre, einer Tragbahre, einem automatischen Waschbecken, einem Überwachungssystem mit LCD-Display, einem Wechselstromnetz, einem Leichenkasten und einer elektronischen Sterilisierungsanlage. Auf Wunsch des Kunden können digitale Videokameras installiert werden, die den gesamten Hinrichtungsprozess aufzeichnen. Das Hinrichtungsmobil Shenglu ('Heiliger Weg') können verschiedene Justizbehören einsetzen."

Für's Feuilleton schlendert Thomas Burkhalter über den Boulevard Belgrad und liefert eine Momentaufnahme der recht quirligen serbischen Musikszene, wo neben Turbo-Folk und Rap vor allem die Musik der Roma Erfolge feiert. "Ein Stadthippie filmt digital, andere frieren mit ihren Blitzfotografien die Bewegungen der sieben gut gekleideten Roma-Herren ein, die in wenigen Akkorden eine eingängige Balkanweise erklingen lassen. Eine Bauchtänzerin ohne Bauch wirbelt über die Bühne. Die Zuschauer freuen sich - bis sie zum mittanzen aufgefordert werden. Die erste Reihe verweigert sich: Man konsumiert lieber. Bereits die Hauptstädter mutet der ländliche Balkan exotisch an."

Eldad Beck (mehr), Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronot, erwartet von Deutschland mehr Neutralität, wenn es eine Führungsrolle im Nahen Osten spielen will. Im Augenblick werde Israel zu schnell verurteilt. "So überrascht es nicht mehr, wenn eine große deutsche Tageszeitung, wie vor kurzem geschehen, titelt: 'Brauchen wir Israel noch?' Könnte diese seriöse Zeitung einen Artikel mit dem Titel 'Braucht man Österreich noch (oder Belgien oder Burkina Faso)?' veröffentlichen? Nicht wirklich. Aber im Falle Israels gilt die 'Sonderbehandlung'."

Weitere Artikel: Dilek Zaptcioglu weiß, warum Fatih Akins "Gegen die Wand" in der Türkei so große Erfolge feiert: er wirkt nicht als Problemfilm. Besprochen werden die Ausstellung "Cremers Haufen", in der Werke aus der Fluxus-Ära der Sechzigerjahre mit zeitgenössischer Kunst konfrontiert werden, sowie Thomas Schulers Unternehmensbiografie "Die Mohns" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

SZ, 22.03.2004

Eigentlich sollte die SPD über einen neuen, zugkräftigen Linkspopulismus heilfroh sein, meint der Politikwissenschaftler Franz Walter (mehr) zur drohenden Abspaltung der SPD-Linken. "Denn das würde der deutschen Linken eine Chance geben, entheimatete Wählerschichten zu erreichen, ohne die sie bei den überregionalen Wahlen künftig nicht mehr mehrheitsfähig sein wird. Das Problem ist nur: die neuen Parteigründer, die sich bisher öffentlich für eine Abspaltung stark machen, taugen nicht zum linken Populismus." Sie bräuchten als Anführer "ganz unzweifelhaft eine rhetorisch kraftvolle, instinktsichere, eben unbekümmert populistische Danton-Gestalt", findet Walter.

Gustav Seibt kommentiert die - in Deutschland noch verbotenen - Holocaust-Plakate der radikalen Tierschutzorganisation Peta (hier einige Beispiele auf der Seite der Anti Defamation League). Seibt empfindet die Aktion als Zeichen der Zeit. "Sie sind schlau und rücksichtslos und daher vollkommene Repräsentanten unserer Zivilisation. Einer Spaßkultur, deren Phantasie vom Massenmord verhext ist, und in deren moralischen Diskussionen - vom Kosovokrieg bis zum Tierschutz - offenbar nur noch ein einziges Argument sticht: Auschwitz."

Weitere Artikel: Andrian Kreye befasst sich mit Samuel Huntingtons vieldiskutiertem Artikel zur Überfremdung der USA und attestiert Huntington ein überholtes Weltbild. "Midt" vermeldet den vorläufigen Höhepunkt in der Suche nach authentischen Theaterkomparsen: eine Londoner Theatertruppe sucht einen Toten. Merthen Wortmann berichtet von der Präsentation des neuen Films von Pedro Almodovar, "Die schlechte Erziehung", dessen gesellschaftliches Skandalpotenzial vom realen Terror in den Schatten gestellt wurde. Fritz Göttler gratuliert dem Schauspieler Karl Malden zum Neunzigsten, Cathrin Kahlweit überbringt dem Politologen Ekkehart Krippendorf (mehr) Glückwünsche zum Siebzigsten, und Lothar Müller widmet dem Lyriker Michael Hamburger (mehr), der heute achtzig wird, einen Zweispalter. Auf der Literaturseite resümiert Jutta Person die vierte lit. Cologne. Wenigstens die Reform des Schlagerwesens ist gelungen, seufzt Oliver Fuchs schließlich auf der Medienseite angesichts der Wahl des Sängers Max zum deutschen Grand-Prix-Vertreter.

Besprochen werden die Ausstellung mit den "Bodegones" von Luis Melendez im Prado, Georg Ringsgwandls Schickeria-Sause "Prominentenball" im Münchner Residenztheater, und Bücher, nämlich der von Jutta Held und Martin Papenbrock herausgegebene "wichtige" Sammelband über die Kunsthistoriker im Nationalsozialismus sowie Michael Wallners Roman "Finale".

Etliche weitere Buchbesprechungen finden sich in der 32 Seiten starken Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse. Wir werten die Beilage in den nächsten Tagen aus.