Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2004. In der SZ fragt Ulrich Beck: Wie wird transnationale Politik möglich? Die FR zitiert Gary Grant richtig falsch. Die NZZ bringt ein langes Porträt über Reinhard Jirgl. In der taz verabschiedet Diedrich Diederichsen den Star und begrüßt den Promi. Die FAZ erklärt die heutige Arno-Schmid-Idolatrie mit dem früheren Stefan-George-Kult.

NZZ, 16.01.2004

Ein Vehikel der Gegenwart sei die Erinnerung für den 1953 in Ostberlin geborenen Schriftsteller Reinhard Jirgl (Bücher), den Roman Bucheli porträtiert. Von geografischer wie innerer Zerrissenheit geprägt berühre der an Hamsun und Nietzsche geschulte Geist die verschwiegenen Themen der deutschen Nachkriegsgeschichte, ohne dass er der Zukunft des Sozialismus, wie etwa Heiner Müller, je mit Optimismus hätte begegnen können. "Nicht selten gestaltet er Figuren, die sich bis zum Äußersten verausgaben, die ihre Geschichte erzählen und mit dem Ende der Geschichte auch am realen Lebensende ankommen. Dieser nie ganz freiwilligen Hingabe - denn nicht umsonst erzählen Jirgls Bücher von den Demütigungen unter den Bedingungen einer Diktatur - hat der Leser wenig entgegenzuhalten, nicht Empathie und nicht Mitgefühl bieten sich ihm als Ausweg."

Weitere Artikel: Die Aufweichung des österreichischen Gesetzes zur Buchpreisbindung kommentiert Paul Jandl. Ungebrochen ist laut Jörg Zutter die australische Lust auf mehr Kultur: Melbourne und Sydney liefern sich einen harten Konkurrenzkampf. Joachim Güntner hält es nach seiner Lektüre des in der Zeit erschienenen Artikels von Götz Aly für sehr plausibel, dass sich Walter Jens an seine NSDAP-Mitgliedschaft nicht erinnern kann. Seltsame Stolpersteine findet rbl. bei den Vorbereitungen zum 150. Todestag von Jeremias Gotthelf.

Die Neuregelung des Schweizer Filmpreises hat nicht zu einer verbesserten Qualität geführt, stellt Christoph Egger auf der Filmseite fest. Che. bereitet uns vor auf die 39. Solothurner Filmtage. Mau. gratuliert der letzten deutschsprachigen Filmzeitschrift in der Schweiz, dem Filmbulletin, zur 250. Ausgabe. Che. berichtet über das Tierfilmfestival NaturVision in Zürich ("'Natur im Garten - Die nackte Wahrheit' (Österreich 2002) von Barbara Puskas schließlich stellt das 'naturbewusste, ökologisch denkende Ehepaar' dem 'ordnungsliebenden Pedanten' gegenüber: 'Getrennt vom Zaun kämpfen sie gegen den einzigen gemeinsamen Feind - die Nacktschnecke.'")

Besprochen werden die Filme "The Company" von Robert Altman, "In America" von Jim Sheridan, "The Dreamers" von Bernardo Bertolucci, "Hildes Reise" von Christof Vorster, "Verflixt verliebt" von Peter Luisi und ein Buch, Jean-Claude Carrieres "Der unsichtbare Film" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medien- und Informatikseite nimmt Heribert Seifert den Lettre Ulysses Award für lterarische Reprotage, aber auch Äußerungen Alexander Kluges zum Anlass, um eine Renaissance des Genres der Reportage auszurufen - bloß hierzulande nicht: "Während es in der angelsächsischen Publizistik mit dem New Yorker oder dem Atlantic auflagenstarke Zeitschriften gibt, die die große Reportage pflegen, sind im deutschsprachigen Raum vergleichbare Blätter wie Transatlantik oder auch Spiegel Reporter vom Markt verschwunden. Sieht man von der sehr kleinen Kulturzeitschrift Lettre International ab, so bieten in deutschsprachigen Ländern allenfalls noch Geo oder Mare Platz für solche Texte, sofern sie in den thematisch begrenzten Rahmen dieser Magazine passen. Das ist bedauerlich wenig." Und sowohl Transatlantik als auch Spiegel Reporter wurden vom Markt genommen, um die Gewinnbeteiligung der Spiegel-Redakteure nicht zu schmälern.

Außerdem auf der Medien- und Informatikseite ein interessanter Artikel über Versuche, Apples Erfolg mit einer legalen Musikbörse nachzuahmen, und ein kurzer Artikel über eine Blattreform im immer europäischeren Europa-Ableger der New York Times - der International Herald Tribune.

SZ, 16.01.2004

"Kaum einer ... wagt bislang auch nur die Frage aufzuwerfen: Was bedeutet das eigentlich, wenn die 'deutsche' Wirtschaft boomt, aber in Deutschland weder neue Arbeitsplätze schafft noch Steuern zahlt?" Die SPD hat darauf jedenfalls keine Antwort, meint Ulrich Beck (homepage). "Es gibt die 'Industrienation', in deren Vorstellungswelt und Namen der SPD-Kanzler auch jetzt wieder jenseits des Parlaments in Form des 'Innovationsrates' managementerprobte 'Innovationsgeneräle' zur 'Innovationsoffensive' zusammentrommelt, schon lange nicht mehr. Wahrlich 'innovativ' wäre es dagegen, die programmatisch total ausgezehrte SPD oder sogar das ganze Land mit der Frage zu konfrontieren: Wie wird transnationale Politik möglich?"

Der königlichbritische Hofastronom und Master des Trinity Colleges, Cambridge, der höchst elegante Martin Rees ermuntert die Europäer, die 100 Milliarden US-Dollar teure bemannte Raumfahrt den Amerikanern und ihrem unerschöpflichen Vorrat an Milliardären zu überlassen. "Bisher waren es hauptsächlich verrückte Einzelgänger, die von einer privaten Weltraumreise träumen. Mittlerweile entwickeln aber auch wohlhabende Leute, die ihre Fähigkeiten mit erfolgreichen Wirtschaftsunternehmen bewiesen haben, diesen Enthusiasmus. Jeff Bezos, der Gründer von amazon.com, hat einige hochqualifizierte Raumfahrtingenieure für sein 'Dark Origins'-Projekt (mehr) unter Vertrag genommen. Elon Musk, der 32-jährige Milliardär und Gründer der Firma Pay Pal, hat nebenbei eine neue Rakete entwickelt. Für die Finanzierung einer Marsexpedition hätte auch Larry Ellison, der milliardenschwere Vorstandsvorsitzende von Oracle, die besten Voraussetzungen." Die Europäer, so Rees, sollten sich lieber weiter auf unbemannte Raumfahrtprojekte konzentrieren.

Weitere Artikel: Zum Mars? "Aber erst nach Berlin!", fordert zig. mit Blick auf den geplanten Umzug des BKA. Jeanne Rubner hat sich die privaten Universitäten in Deutschland angesehen und stellt fest: Elite sind sie nicht. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) steht 'vor einer existenzbedrohenden Bewährungsprobe', zitiert Christian Jostmann den Tagesspiegel. So schlimm sei es aber gar nicht, meint er. Mel Gibson plant US-Massenstart für seinen Jesus-Film, meldet Fritz Göttler. In der Reihe "Verblasste Mythen" singt Karl Bruckmaier den Abgesang auf die Stereoanlage. Holger Liebs macht sich Gedanken über den "TV-Dschungel als Labor gestrandeten Lebens". Im Europarat wird heute über die aktive Sterbehilfe debattiert, berichtet Alexander Kissler. Anke Schaefer meldet die Errichtung einer Dependance des Centre Pompidou in Metz. Stefan Koldehoff erwartet einen Rekordumsatz bei der Versteigerung von Kunstwerken aus der Sammlung Whitney am 5. Mai in New York. Ijoma Mangold war dabei, als das Literaturhaus Stuttgart die Serie "Persepolis" der Comiczeichnerin Marjane Satrapi vorgestellt hat. Jens Malte Fischer gratuliert der "grandiosen" Sängerin Marilyn Horne zum Siebzigsten.

Besprochen werden ein Konzert des Cellisten Daniel Müller-Schott, der mit dem Geiger Robert Kulek in München Werke von Schumann, Beethoven, Franck und Sir Andre Previn aufführte, der Film "Montags in der Sonne" von Fernando Leon de Aranoa und Bücher, darunter ein Band über elektronische und digitale Musik und ausgewählte Kriminalgeschichten von August Gottlieb Meißner (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 16.01.2004

Daniel Kothenschulte porträtiert Cary Grant (mehr) zu dessen 100. Geburtstag und begibt sich auf die Spur seines alterslosen Geheimnisses. "Jeder wird älter außer Cary Grant", sagte Grace Kelly einmal und hat damit nach Ansicht Kothenschultes den Nagel auf den Kopf getroffen: Der ewig jugendliche Filmschauspieler fürchtete weder Alter noch Tod und hat Zeit seines Lebens aus seiner Person ein Rätsel gemacht. "Sie dürfen mich ruhig falsch zitieren. Ich bin meist besser, wenn ich falsch zitiert werde," habe der Erhabene einmal gesagt, berichtet Kothenschulte.

Heribert Kuhn nimmt den Prozess gegen Michael Jackson zum Anlass, sich Gedanken über physiognomische Bedeutung des Gesichts zu machen. Der Star habe sei durch seine zahllosen Gesichtsoperationen jedes mimischen Ausrucksvermögens beraubt und biete sich gerade deswegen eine Projektionsfläche an, auch für das Dämonische. "Neben dem bewussten Angebot der Posen und Rollen, die als eigene Kreationen gelten müssen, geraten aber nun unter den extremen Öffentlichkeitsbedingungen der gerichtlichen Anklage sein Erscheinungsbild und Auftreten in den Bann alter mediengeschichtlicher Gewalten. Von 'Wacko Jacko, dem schlecht vernähten Kinderzombie mit dem irren Blick' (Ingo Mocek) ist die Rede."

Weitere Artikel: Rudolf Walther beschäftigt sich mit einem "Parteigänger der Nazis", dem Historiker Fritz Fischer, und erzählt uns in einer Kriminal- und Kunstgeschichte, wie der ehemalige Außenminister Roland Dumas an dem Nachlass Alberto Giacomettis (mehr)verdiente. Im Times Mager halten die Verweigerer Harry Nutt, Peter Michalzik und Daland Segler einen Abgesang auf Zivil- und Wehrdienst. Gemeldet wird, dass der letzte Tag der Frankfurter Buchmesse, der Montag, wegen einer Überforderung der Ausstellter wegfallen soll. Außerdem bespricht Adam Olschewski eine Musik-CD von Sandra Weckert ("Bar Jazz").

TAZ, 16.01.2004

Das Mullah-Regime im Iran gilt bislang als reformunfähig, aber die Jungen könnten es kippen, denn sie wenden sich immer mehr vom Glauben ab, glaubt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur auf der Meinungsseite. "Reformpolitiker machen die Konservativen für die negative Einstellung der Jugend zum Islam verantwortlich. Mohammed Resa Chatami, der Bruder des amtierenden Präsidenten und neue Shootingstar unter den Reformern, stellte vor kurzem offen und unumwunden klar: Die iranische Jugend flüchte wegen der gewalttätigen und diktatorischen Interpretation vor der Religion. Im Jahr 25 nach der islamischen Revolution hat Iran möglicherweise die am weitesten säkularisierte Bevölkerung des Nahen Ostens."

Der Star ist tot, jetzt gibt es nur noch Promis, behauptet Diedrich Diederichsen im Feuilleton. "Mit dem Promi ist auch die gute alte poptheoretische Maxime ins Wanken geraten, das Studium der von den Massen einerseits, den Subkulturen andererseits verehrten öffentlichen Figuren sei gegenwartsdiagnostisch relevant. Am einzelnen Promi gibt es nichts zu diagnostizieren. Man kann ihn in Australien in ein Erdloch sperren oder ins Tor von Bayern München stellen, ihn in einen Werbespot einbauen oder auch interviewen, er wird nicht aufhören sich selbst und nur sich selbst zu bedeuten. Es hat also, anders als eine neue Zeitungskrisen-bewegte blattmacherische Denke glaubt, die es bis in diese Zeitung geschafft hat, überhaupt keinen Sinn, Promis Artikel, Seiten, ja sogar Rubriken zu widmen." (Diederichsens Wort in aller Feuilletonisten Ohr!)

Weitere Artikel: Dirk Knipphals lobt Götz Alys "beeindruckend recherchierten Beitrag" in der Zeit zu Walter Jens' Mitgliedschaft in der NSDAP, offene Fragen bleiben aber: "Was Götz Aly letztendlich stützt, ist die Aussage von Walter Jens, sich nie persönlich um eine Aufnahme in die NSDAP beworben zu haben. Darum geht es in der Debatte aber gar nicht. Die Frage ist, ob Walter Jens ohne sein Wissen aufgenommen wurde. In diesem Punkt entlastet ihn Aly, wenn man es genau nimmt, nicht." Arno Frank stellt die amerikanischen Band Sophia vor. Besprochen werden CDs von Alicia Keys und Kelis.

Schließlich Tom.

FAZ, 16.01.2004

Ganz nebenbei meditiert Jürgen Kaube über die Arno-Schmidt-Idolatrie eingeweihter Kreise (hier und dort) und entfaltet hierzu eine originelle These: "Fast möchte man sagen: Im Bargfelder Zirkel büßten Teile der literarischen Intelligenz stellvertretend für alle Deutschen ab, dass es hierzulande einst einen George-Kult gab. Kein Schriftsteller wäre jedenfalls dafür mehr geeignet als Arno Schmidt, in dessen Büchern es stets ein wenig nach Pellkartoffeln riecht, der Gebirge albern fand, totgesagten Parks flache Kuhweiden vorzog und gern obszön war." Als nächstes hätten wir gern eine Dekonstruktion der Harald-Schmidt-Idolatrie!

Weitere Artikel: Werner Spies preist anlässlich einer großen Retrospektive im Centre Pompidou die Kunst der Sophie Calle. Gina Thomas erzählt neueste Episoden aus dem Streit zwischen der griechischen Regierung und dem British Museum um die Elgin Marbles (der Krieg wird auch im Internet geführt, zum Beispiel hier und hier und hier). Christian Geyer mokiert sich in der Leitglosse über die Hochglanzprosa mancher an den Kant-Feierlichkeiten dieses Jahres beteiligter Professoren. Katja Gelinsky vermutet in einem Hintergrundartikel, dass das Thema der Religion den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf entscheiden wird. Günter Paul findet George W. Bushs Weltraumpläne trotz ihrer markigen Verkündung recht vage. Der Gesangskundler Jürgen Kesting schreibt zum siebzigsten Geburtstag der Mezzosopranistin Marilyn Horne eine große Würdigung. Jordan Mejias berichtet über neueste Retuschen an Michael Arads Entwurf für das Mahnmal am Ground Zero.

Auf der letzten Seite berichtet Joseph Hanimann über die vielfältigen Aktivitäten der "Ville de Lille", die in diesem Jahr Kulturhauptstadt ist. Andreas Rossmann meldet, dass die "Domplombe", die Teile des Kölner Doms nach einem Bombenschaden des Zweiten Weltkriegs bis heute absichert, entfernt und dass der Schaden spurlos beseitigt werden soll. Und Edo Reents porträtiert den Rolling Stone-Gründer Jann S. Wenner, der in die Rock'n'Roll-Hall of Fame in Cleveland aufgenommen wird.

Auf der Medienseite ruft uns Michael Hanfeld beschwörend zu: "Wie es mit der RTL-Dschungelshow weitergeht, entscheiden wir" (zum Beispiel indem wir sie gar nicht ignorieren). In der Reihe über Stimmen schreibt der Rundfunkproduzent Walter Filz über Maschinenstimmen. Und Jürg Altwegg meldet, dass die Chefredaktion der Schweizer Kulturzeitschrift Du geschlossen zurücktritt.

Besprochen werden James Ivorys Filmkomödie "Eine Affäre aus Paris" und einige Neuerscheinungen aus der akademischen Welt.