Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.01.2004. Die SZ fragt, inwieweit Polen, Russland und die Ukraine eigentlich Demokratien sind. In der Welt polemisiert Hans-Christoph Buch gegen die Evangelische Kirche in Deutschland. Die FR gräbt in Neapolis und findet einen antiken Handelshafen. Die taz begrüßt den Verzicht der Kunst-Werke auf Staatsknete für die RAF-Schau. Die NZZ porträtiert David Adjaye, den Shooting Star der Londoner Architekturszene.

SZ, 14.01.2004

Anderthalb Jahrzehnte nach dem Beginn des osteuropäischen Völkerfrühlings der Jahre 1989 bis 1991 stellt Thomas Urban die Frage, inwieweit Polen, Russland und die Ukraine eigentlich Demokratien sind. Alle drei Länder werden von Postkommunisten regiert, die versuchen, die Medien zu kontrollieren und den Staat und seine Ressourcen als ihr Eigentum betrachten, so Urban. "Heute schweißt die Akteure ihre gemeinsame Vergangenheit zusammen, ihre politische Sozialisierung, ein indoktrinierter Korps-Geist. Es verbindet also weniger eine politische Vision als ein Gemeinschaftsgefühl und das Ziel, Besitzstände zu verteidigen. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass die derzeitigen Führungen in Moskau, Kiew und Warschau eine Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit ablehnen. Vom Baltikum abgesehen gab es in keiner ehemaligen Sowjetrepublik den Versuch einer systematischen Aufarbeitung. Die Geheimdienstarchive sind weitgehend verschlossen, die Dienste selbst funktionieren weiter, zum großen Teil mit demselben Personal."

Auch die italienische Regierung versteht es, Kritiker zum Schweigen zu bringen: Sie verklagt sie einfach, berichtet Henning Klüver. Neueste Opfer sind Dario Fo und Franca Rame, die Marcello Dell'Utri, Senator, langjähriger Vertrauter von Berlusconi und in der Forza Italia für die Kulturpolitik verantwortlich, wegen einiger Passagen in ihrem Theaterstücks "L?anomalo bicefalo" auf eine Million Euro Schmerzensgeld verklagt hat. "Hintergrund sind mögliche Beziehungen von Dell'Utri zur Mafia; in Palermo ist eine gerichtliche Untersuchung gegen ihn anhängig."

Wo residiert der Geist, der nein sagen kann? Im Gehirn, wie Naturwissenschaftler behaupten, wo er - da sind die Hirnzellen vor - gerade nicht nein sagen kann? Reinhard Brandt, emeritierter Professor der Philosophie in Marburg (mehr), glaubt es nicht: "Wer je im Gehirn eine Verneinung auffindet, dem verpfände ich alle Synapsen, die an dieser Zeile beteiligt sind (beim Milliardenaufkommen wird das ja zu verkraften sein). So lange eine Urteils- oder Erkenntnisbildung und besonders eine Verneinung nicht entdeckt wurden, lässt sich der Geist nicht auf noch so dynamische und demokratisch vernetzte Prozesse des Gehirns zurückführen. Sie bieten notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für den Geist, der Nein sagen kann und mit seinem ersten Nein ins Dasein sprang."

Weitere Artikel: In den Niederlanden streitet man seit Jahrzehnten darüber, ob und wie das Thema Sklaverei bewältigen werden soll, berichtet Siggi Weidemann. Gerade rechtzeitig zum Unesco-Jahr der Sklaverei wurde jetzt das neu gegründete "Niederländische Institut für Sklavereivergangenheit und -erbe" (Ninsee) eröffnet. Es dokumentiert "jene von verschiedenen Kulturen und Ethnien bestimmte Geschichte Hollands, auf die das Land so stolz ist, die ihren Ursprung aber in der Kolonialzeit hat". Christiane Schlötzer beschreibt die neuesten Kampagnen in Athen und London für die Rückgabe der "Elgin Marbles" vom British Museum an die Akropolis. Andrian Kreye erzählt, wie der brasilianische Präsident Lula da Silva in Rio versucht, den Wildwuchs der Elendsviertel zu beschränken. "Jetzt ist auch die vorletzte Bastion im französischen Verlagswesen gefallen", klagt Johannes Willms: Das Verlagskonsortium La Martiniere hat den traditionsreichen literarischen Verlag Le Seuil gekauft. Letzter unabhängiger Literaturverlag in Frankreich ist Gallimard.

Alexander Kissler erklärt, wie die Kulturstiftung der Länder Jugendliche für Kultur begeistern will: mit einem Buch und der Initiative "Kinder zum Olymp". Thomas Steinfeld gibt zu, bei John Griesemers Roman "Rausch" nur bis Seite 160 gekommen zu sein. Marcus Jauer meldet die Eroberung von Kino und Fernsehen durch das Videospiel. Gerwin Zohlen stellt die Hefte 166/167 der Zeitschrift Arch+ vor, die Off-Architektur in Deutschland präsentieren. G. K. schreibt zum Tod des österreichischen Kulturorganisators Otto Breicha.

Besprochen werden Rudolf Thomes Film "Rot und Blau", eine Ausstellung im südniederländischen Breda, die angeblich verschollene Werke van Goghs zeigt (mehr hier), und Bücher, darunter Ian G. Barbours Studie "Wissenschaft und Glaube" und ein Buch über Benvenuto Cellini (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 14.01.2004

Hans-Christoph Buch (mehr hier) reitet eine geharnischte Attacke gegen die Evangelische Kirche in Deutschland, deren Gutmenschentum er so wenig verträgt wie ihre Anbiederung bei den Kommunisten in den achtziger Jahren: Und "aus Angst, irgendwo anzuecken, scheint Entspannung um jeden Preis noch immer die Devise evangelischer Kirchenführer zu sein, wo es um die Herausforderung durch aggressive Fundamentalismen geht: Die gegenwärtige Verfolgung und Ermordung von Christen in Pakistan, Indien und Indonesien, ja sogar in China und Vietnam wird von ihnen ähnlich kleingeredet oder relativiert wie einst Menschenrechtsverletzungen in Staaten des Warschauer Pakts. Und zu den Terroranschlägen des 11. September fiel ihnen nichts Besseres ein als die nachträgliche Entschuldigung für das Unrecht der Kreuzzüge, gekoppelt mit der Einladung zum ökumenischen Dialog, der einem Monolog ähnelt, denn islamische Fundamentalisten verweigern sich jedem über Floskeln hinausgehenden Gespräch."

FR, 14.01.2004

Bei den Grabungsarbeiten für die Untergrundbahn lernt Neapel eine Menge über sich selbst, berichtet Gabriella Vitiello. Jetzt stieß man auf den antiken Handelshafen der Stadt Neapolis und fand unter anderem "mit Kork verschlossene Amphoren, rote Schüsseln aus Karthago, Parfumflakons aus dem Orient, einen Kamm, Schuhsohlen, Nadeln zum Flicken der Fischernetze, Harken zum Sammeln von Muscheln, unzählige Pfähle zum Vertäuen der Schiffe, Holzstege und ein neun Meter langes Boot, denn in dem nassen Boden blieb auch das organische Material erhalten."

Weitere Artikel: Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Lüdemann will die Forderung nach Elite-Universitäten nicht unterstützen und kritisiert die Statistiken, mit denen die Befürworter argumentieren. In Times Mager freut sich Peter Michalzik, dass die Stadt Frankfurt den Choreografen William Forsythe nun doch halten will, indem sie einem Kooperationsvertrag mit den Ländern Hessen und Sachsen und der Stadt Dresden beitritt. (Siehe dazu auch einen Artikel im Lokalteil der FR.)

Besprochen werden Maxim Gorkis "Sommergäste", inszeniert von Jürgen Gosch am Düsseldorfer Schauspielhaus ("Nach einem etwas schlappen Beginn entwickelt das Ensemble einen treffend garstigen Humor, eine Gnadenlosigkeit den eigenen Rollen gegenüber", freut sich Stefan Keim), Marc Günthers Inszenierung von Schillers "Don Carlos" am Kölner Schauspiel und Arbeiten von Fiona Tan in der Berliner Akademie der Künste.

Auf der Standpunkte-Seite unterbreitet Gregor Reichelt vom DAAD einen Kompromissvorschlag im Streit um das geplante "Zentrum gegen Vertreibungen".

TAZ, 14.01.2004

Brigitte Werneburg begrüßt die Entscheidung der Kunst-Werke, für ihre geplante RAF-Ausstellung auf "Staatsknete" zu verzichten: "Nun also geht es ohne politpädagogisches Begleitprogramm. Nun qualifiziert sich die Tauglichkeit des Konzepts am ausgearbeiteten Gegenstand selbst, an der Ausstellung. Nun also wird es Kritik geben, aber keine Vorverurteilung."

Weitere Artikel: Dorothea Marcus porträtiert die zur Zeit begehrteste Theaterintendantin Deutschlands, Amelie Niermeyer. Anne Kraume war dabei, als 1.000 Berliner Schüler mit dem "Wunder von Bern" Nachhilfe in Nachkriegsgeschichte erhielten.

Schließlich Tom.

NZZ, 14.01.2004

Hubertus Adam hat David Adjaye besucht, den Shootingstar der Londoner Architekturszene. Der in Dar es Salaam geborene Sohn eines ghanesischen Diplomaten befindet sich auf dem besten Weg zum internationalen Durchbruch. Er mischt bereits im Stadtbild New Yorks, Oslos und Bostons mit. Der Gründer von Adjaye/Associates "gilt als Hoffnungsträger, als erfolgreichster Beweis dafür, dass in London eine Architektur jenseits des etablierten Hightech der Platzhirsche Norman Foster, Richard Rogers oder Nicholas Grimshaw denkbar ist", schreibt Adam über diese "Ikone des multikulturellen, erfolgreichen London".

Weitere Artikel: Claus Stephani begibt sich auf die kulturgeschichtlichen Spuren der Karpatendeutschen in der Slowakei, und Joachim Güntner hofft jetzt, nachdem die Kunst-Werke auf Staatsgelder verzichtet hat, auf eine interessante RAF-Ausstellung. Besprochen werden zwei Bücher, eine russisch-schweizerische Ehe in Briefen von Karin Huser und "Halbschwimmer", das Erzähldebüt der in Leipzig geborenen Katja Oskamp (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 14.01.2004

Joseph Croitoru begrüßt die Entscheidung des Kindler Verlags, das unter Fälschungsverdacht stehende Buch über den Mossad einer unter dem Pseudonym Nina Zamart schreibenden Autorin zurückzuziehen. Wilfried Wiegand erinnert an den Fotografen Cecil Beaton, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Regina Mönch freut sich, dass der Berliner Admiralspalast entgegen den Plänen des Finanzsenators nun doch nicht abgerissen wird. Gerhard Koch meldet in der Leitglosse die Wiederkehr eines parsifalesken Knabenkults und führt Filme wie der "Herr der Ringe" und "Das Wunder von Bern" als Beispiele an. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf plädiert dafür, die Zustände an heutigen Universitäten zu bessern, bevor man Unis für die Elite einführt. Eckhard Leuschner feiert die "ökologisch vorbildliche Außensanierung des Passauer Doms".

Auf der Medienseite stellt Heike Hupertz die Website americancandidate.com vor, auf der für eine Superstar-Casting-Show Präsidentschaftskandidaten für die USA gesucht werden (die europäische Surfer übrigens nicht ansehen dürfen). Auf der Stilseite gratuliert Dieter Bartetzko den Schlagersängers Francoise Hardy und Thomas Fritsch zum Sechzigsten. Auf der letzten Seite schreibt Bettina Erche über eine Ausstellung von Frühwerken van Goghs, deren Echtheit umstritten ist, in Breda. Wolfgang Sandner verteidigt den Komponisten Casimir von Paszthory, dessen Oper über den Altarschnitzer Riemenschneider aus dem Jahr 1942 in Würzburg aufgeführt werden soll - entgegen den Behauptungen der SZ sei Paszthory kein Nazi gewesen. Und Michael Jeismann sagt dem Zivildienstleistenden an und für sich leise Servus.

Besprochen werden eine Ausstellung über Kunst und Mode in der Kunsthalle Nürnberg und der Film "Der Einsatz" mit Al Pacino.