Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2004. In der FAZ fordert der Historiker Paul Nolte eine Elite von unten. Die NZZ setzt den Patriarchen auf die Liste der bedrohten Arten. In der FR sagt Heiner Müller ein arabisches Europa voraus. In der taz ärgert sich Wolfgang Lotter von Brand eins über die Halbelite in der deutschen Wirtschaft. In der SZ erklärt Hildegard Hamm-Brücher, warum Bundespräsidenten gewählt werden sollten.

FAZ, 09.01.2004

Der Historiker Paul Nolte spricht sich vehement gegen staatliche Eliteuniversitäten aus und plädiert für eine Elite von unten: "In den letzten Jahren hat es eine Vielzahl von Gründungen im deutschen Hochschulwesen gegeben, teils privat, teils als 'public-private-partnership', die nicht durch Bundesdekret, sondern durch Initiative und Ideen von unten gespeist worden sind. Ob in Hamburg, Bremen, Berlin, Koblenz oder anderswo: den Anspruch auf 'Elite', den diese neuen Hochschulen erheben, müssen auch sie erst noch einlösen und am Markt behaupten. Aber deutlich genug ist inzwischen geworden, dass diese Experimente - wegen böser Studiengebühren und bösen Geldes der Wirtschaft nicht überall in Berlin goutiert - schon in kurzer Zeit viel erfolgreicher waren, als viele ihnen zugetraut hätten." Eine staatliche Eliteuniversität könne nur wollen, wer "jener Vision zentraler politischer Steuerung und Kontrolle der Wissenschaft anhängt, die das Haus Bulmahn schon so oft unter Beweis gestellt hat".

Heinrich Wefing skizziert das Schisma zwischen Vereinigten Staaten und Vereinten Nationen, zwischen Machtpolitik und Moralpolitik: "Im Vorfeld des Irak-Krieges standen sich beide Auffassungen der Politik unversöhnlich gegenüber: eine Politik, die den Frieden will, aber sich vorbehält, den Krieg zu wählen, und eine andere, die den Frieden ausschließlich friedlich herbeiführen will." Diese zwei "globalen Machtformen", so Wefing, sind dabei, "eine neue Spaltung der Welt herbeizuführen. Sie verhalten sich schon heute nicht mehr so zueinander wie etwa der Vatikan zu den Vereinigten Staaten. Vielmehr sind sie echte Konkurrenten, und in ihren Wirkungen sind sie einander ähnlicher, als ihr Selbstverständnis es erwarten lässt. Beide können, mit ihren jeweiligen Mitteln, als Bedrohung der Souveränität von Staaten auftreten. Die Vereinten Nationen erlaubten sich im Irak nach dem Golfkrieg jede mit wirtschaftlichen Mitteln zu erzielende Schwächung der Souveränität des Staatsgebildes, während sie sich im letzten Augenblick, als die Machtpolitik den Ernstfall gekommen sah, zu Verteidigern der Souveränität aufwarfen."

Weitere Artikel: In Italien wurde ein "verschlossener Schrank mit 525 Geheimdienstdokumenten zu Kulturschaffenden des Faschismus" gefunden wurde, erzählt Dirk Schümer. Darin fand sich auch ein Brief von Alberto Moravia, der den Duce bat, ihn von den neuen Rassegesetzen auszunehmen. Edo Reents gratuliert Jimmy Page (homepage) zum Sechzigsten, Michael Althen gratuliert Harun Farocki, der ebenfalls sechzig wird. Fvl schreibt zum Tod der Schriftstellerin Joan Aiken.

Auf der Medienseite behauptet der sächsische Staatsminister Stanislaw Tillich im Interview, es werde 2005 keine Erhöhung der Rundfunkgebühren geben. Auf der letzten Seite erzählt Wigbert Löer die Geschichte des Offiziers Lothar Meinl, Kommandant des Treibstofflagers Libau, der seine Kriegsgefangenen so gut behandelte, dass sie ihn vor den Soldaten der Roten Armee beschützten. Christian Geyer porträtiert den Soziologen Gösta Esping-Andersen, der Anthony Giddens als Vordenker sozialdemokratischer Ideen ablösen soll. Jürg Altwegg empfiehlt noch einmal das von Ulrike Ackermann gegründete Europäische Forum, dessen Existenz wegen Geldmangel gefährdet ist.

Besprochen werden eine Ausstellung des Malers John Currin im Whitney Museum, Nir Bergmanns Film "Broken Wings", die Aufführung der "Weihnachtskomödie" des Dmitri von Rostow in Moskau und die Dickensverfilmung "Nicholas Nickleby".

NZZ, 09.01.2004

Mit den Patriarchen hat es ein Ende, meint Sieglinde Geisel: "Dass der Geschlechterkampf in der Krise steckt, liegt jedoch nicht so sehr am Verblassen des Feminismus, sondern am Verblassen von dessen Gegner. Der Patriarch gehört, zumindest in unseren Breitengraden, auf die Liste der bedrohten Arten. 'Paschas verzweifelt gesucht' - in Ermangelung ausgewachsener Exemplare musste in der Zeitschrift Emma bereits das Teeniewunder Benjamin Lebert für die Rubrik 'Pascha des Monats' herhalten."

Weitere Artikel: Klaus Englert besucht den niederländischen Reichsbaumeister Jo Coenen in Den Haag zum Werkstattgespräch und stellt fest, dass die Blüte der niederländischen Architektur nicht von ungefähr kommt. Besprochen werden eine Ausstellung mit Nibelungenschätzen im Landesmuseum Karlsruhe, eine Ausstellung mit Zeichnungen von Patti Smith in München und ein Mahler-Konzert mit Matthias Goerne, Ingo Metzmacher und dem Tonhalle-Orchester in Zürich.

Auf der Filmseite geht es um en Film "Noi Albinoi" (mehr hier) des Isländers Dagur Kari, um den Film "The Last Samurai" (mehr hier) mit Tom Cruise und um zwei Dokumentarfilme über die Sahara und die Wüste Gobi.

Auf der wöchentlichen Medien- und Informatikseite blickt "ii" auf das Jahr 2003 als das annus horribilis der Schweizer Mediengeschichte zurück. "S. B." erinnert sich an den ersten MacIntosh, der der Öffentlichkeit vor 20 Jahren vorgestellt wurde. Knut Henkel schildert die Lage der Medien in Venezuela. Und Heribert Seifert bespricht ein amerikanisches Buch, in dem sich "eingebettete" Journalisten an ihre Arbeit im Irak-Krieg erinnern - "Embedded - The media at war in Iraq", Guilford (hier eine Website zum Buch).

FR, 09.01.2004

In der FR blickt Heiner Müller zurück auf das Einigungsjahr 1990 und betreibt ein klein wenig Augurenschau. "Es wird künftig vielleicht ein arabisches Europa werden. Für das Ende des soeben vergangenen Jahrtausends wurde übrigens schon von Nostradamus prophezeit, dass der Islam Europa besetzt. Das hätte den Vorteil, dass nicht mehr alle in diesen blöden Anzügen und mit Krawatte herumlaufen, sondern im nordafrikanischen Burnus - das ist viel bequemer. Jeder darf zehn Frauen haben oder zwanzig, so er sich's leisten kann. Dann könnte man sagen: Das Ergebnis der deutschen Einheit war der Harem."

Petra Kohse weist allen Gedenkfeiern zum Trotz auf die begrenzte Aktualität des ostdeutschen Dramatikers hin. "Heute ist einem das weggerutscht. Das Fundamentsucherische wie das lustvolle Räsonnement des Zerfalls. Deutsche Geschichte, überhaupt das Wort 'deutsch', hat nichts Gespenstisches mehr, der Osten ist nicht mehr nur schwarz, der Westen nicht mehr nur multicolor." In Times mager wundert sich ergänzend Matthias Dell über die kühnen Missverständnisse hinsichtlich Müllers Wohnort.

Im restlichen Feuilleton begeistert sich Johannes Wendland für Erich Mendelsohns expressionistisch-funktionalistische Hutfabrik in Luckenwalde (mehr und mehr), deren Erhaltung noch nicht gesichert ist. Und noch eine Meldung für Perlentaucher-Leser, die noch Zeit übrig haben: Das Filmfestival in Venedig sucht einen neuen Leiter. Auf der Medienseite fragt sich Oliver Gehrs, ob n-tv die richtige Strategie hat. Dazu druckt die FR eine Agenturmeldung mit Reaktionen auf den KEF-Vorschlag zur Gebührenerhöhung.

Besprechungen widmen sich einer diskursiven Schau zum Thema Stadt im Hamburger Kunstverein und Diamanda Galas' manchmal etwas zu pathetischem Album "Defixiones. Will And Testament".

TAZ, 09.01.2004

Wolfgang Lotter, Redakteur bei Brand eins, fordert in unserer "Mittelmaßrepublik mit Führungsfilz" einen offenen Diskurs über die Elite, weil alles andere einer verborgenen Halb-Elite in die Hände spielt, die alles lenkt, die aber niemand kontrolliert. "Diese Seilschaften, die in Wirtschaft und Politik die Strippen ziehen, haben jedes Interesse daran, dass der Leistungsbegriff, das Wort Elite, im öffentlichen Raum nicht fällt. Dies käme einer Enttarnung ihrer eigenen Rolle gleich, einer beschämenden Enthüllung des Mittelmaßes, das nach wie vor energisch alle Kursabweichler plattmacht. Die Diktatur der Kumpanei - wir sind alle gleich, und was uns nicht passt, machen wir passend." In die gleiche Kerbe schlägt Nico Pethes in der zweiten taz, wo er ausführlich begründet, warum Elite-Unis vielleicht nichts ändern, aber auch nicht schaden.

Als Kommentar getarnt findet sich Stefan Reineckes nettes fiktives Interview aus Zitatschnipseln von Heiner Müller. taz: "Herr Müller, für zwei Sätze von Ihnen zum 11. September würde ich glatt mein taz-Abo verschenken." Trinkt Korn. taz: "Beneiden Sie Shakespeare?" Müller: "Shakespeare lebte unter günstigeren Arbeitsbedingungen als ich."

Weitere Artikel: Anlässlich eines Berliner Symposiums zum Einfluss der Medien auf das Theater zeigt Margareth Obexer, wie bei Frank Castorfs Bühnen-Filmbildern neue Erzählformen entstehen. Interessant auch Michael Brauns kleiner Tagesthemen-Schwerpunkt zu den eigenartigen Zügen der italienischen Wirtschaft. In einem Interview stellt der Ökonom Paolo Leon (mehr) die sechs großen Familien vor, die alles in der Hand haben, außerdem wird anhand des Parmalat-Skandals (mehr) der "capitalismo familiare" erklärt sowie die Rolle der Deutschen Bank erwähnt.

Besprochen werden Alben der malischen Sängerinnen Rokia Traore und Oumou Sangare.

Schließlich TOM.

SZ, 09.01.2004

"Anmerkungen zur demokratiepolitischen Bedeutung deutscher Bundespräsidenten" nennt Hildegard Hamm-Brücher (mehr) trocken ihren Artikel, in dem sie sich für ein größeres Gewicht des ersten Amtes der Republik einsetzt. "Das lässt sich weniger durch Verfassungsartikel garantieren, als durch die Stärkung der Unabhängigkeit der Amtsinhaber erreichen. Dazu könnte entweder ein parteienproporzübergreifendes Auswahlverfahren (ähnlich wie zum Beispiel bei Verfassungsrichtern) beitragen, und/oder durch die Einführung der Volkswahl des Präsidenten, wie in aller Welt üblich - in jedem Fall aber für nur eine einmalige, dann aber siebenjährige Amtszeit."

Leichter, aber auch melancholischer liest sich auf der dritten Seite Alexander Kisslers Reportage über das winzige Heidelberger Zimmertheater, das vor dem Aus steht. "Wer die Trauer verstehen will, der muss sich ins Foyer dieses schon beim ersten Betreten seltsam vertrauten Theaters setzen, muss Platz nehmen in einem der glutroten oder dunkelgrünen Ledersessel, muss über den roten Teppich zur Bar schlendern, ein Glas Sekt bestellen und seine Blicke über die nachtblauen Wände schweifen lassen..."

Weitere Artikel: Andrian Kreye diskutiert George Bushs Vorschläge zur amerikanischen Einwanderungspolitik und einer Generalmanestie für illegale Immigranten. Alexander Kissler mokiert sich über die Debattierlust des Kanzlers hinsichtlich des Stammzellengesetzes. Jürgen Otten porträtiert Marin Alsop (mehr), Chefdirigentin des Bournemouth Symphony Orchestra und eine der wenigen Maestras der Welt. Die kulturelle Wiederbelebung von Erich Mendelsohns Hutfabrik in Luckenwalde (mehr) sehnt Falk Jäger dringend herbei. "midt" glossiert die angesagten Trends 2004 wie "going local" oder "espresso sex". Und Ijoma Mangold kann den Führungswechsel bei Rowohlt Berlin zwar nicht verstehen, hofft aber das Beste.

"Menschenflüsterer" nennt Titus Arnu den TV-Pastor Jürgen Fliege halb ehrfürchtig, halb kopfschüttelnd in seinem Porträt auf der Medienseite. Senta Krasser berichtet, dass Deutsche-Welle-TV nun deutsche Popmusik vermarkten will. Ulf Brychcy befasst sich mit den Empfehlungen der KEF zur Gebührenerhöhung.

Besprochen werden eine Retrospektive des großen und "wirklich heroischen" Eskapisten Gerhard Altenbourg in Düsseldorf, Nir Bergmans herzzerreißender Familienfilm "Broken Wings", und Bücher, darunter Nadine Gordimers wenig überzeugender Kurzgeschichtenband "Beute und andere Erzählungen", Carsten Goehrkes umfassende russische Alltagsgeschichte sowie zwei Bücher englischer Historiker über die Geschichte der Albigenser und der spanischen Inquisition (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).