Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2003. In der Zeit antworten heutige Philosophen auf die Frage: "Was ist Aufklärung?" Das Schlusswort der Debatte überlasst man aber lieber einem Kardinal. Die taz analysiert die traurige Seelenlage des deutschen Mittelstands. In der NZZ lernt Jochen Hörisch aus dem "Internationalen Germanistenlexikon": Das NS-Regime war ein Regime des Konsenses. Die FAZ liefert einen etwas trüben kulturellen Jahresrückblick.

Zeit, 31.12.2003

Möglicherweise wird die Zeit später noch online gestellt, klicken Sie hier.

So kurz vor Jahresende serviert die Zeit noch reichlich schwere Kost. Bekanntlich jährt sich im nächsten Jahr Kants Todestag zum 200. Mal. Die Zeit hat die Frage "Was ist Aufklärung?", die über einem seiner berühmtesten Texte steht, einer Reihe heutiger Denker gestellt.

Gianni Vattimo definiert das Regime der Medien - und von Figuren wie Silvio Berlusconi - als eine der heutigen Gefahren für die Aufklärung: "Nicht nur im Italien Berlusconis, sondern in immer mehr Ländern der industrialisierten Welt reduziert sich die Demokratie auf eine gewisse verwirrte Freiheit des Gebrauchs der Medien, in denen man alle Minderheiten und Perversionen (die von vielen nach wie vor als solche betrachtet werden) zu Wort kommen lässt, sofern all das nur keine 'praktischen' Auswirkungen auf das Funktionieren der Herrschaftsapparate hat."

Bernard-Henri Levy warnt vor der "Vorstellung, zu wissen genüge, um gut zu sein... Ist an die Ilias zu erinnern und die darin zelebrierten grauenhaftesten kriegerischen Riten? An Dante, der sich an den Qualen seiner Feinde in der Hölle ergötzt? An Dostojewski, der den Antisemitismus predigt? An Solschenizyn? An Celine? An Aragon den Stalinisten? Muss man wirklich all die Fälle anführen, in denen gerade der umgekehrte Lehrsatz in die Tat umgesetzt wurde: jener, bei dem sich hohe Bildung beziehungsweise Kultur und Barbarei reimen?"

Es antworten überdies der iranische Philosoph Karim Modschtahedi, der die Kant-Rezeption in seinem Land vorstellt, Alexander Kluge in wolkig klugen Assoziationen, der ägyptische Philosoph Nasr Hamid Abu Said, der aufklärerischen Traditionen im Islam nachspürt, Francis Fukuyama, der als einziger auf die Herausforderungen des Vernunftbegriffs durch die modernen Naturwissenschaften eingeht und Susan Neiman, die einen politischen Begriff der Aufklärung verficht.

Soll man es aber nicht als Kapitulation erachten, dass die Zeit ausgerechnet einem Kardinal, nämlich Karl Lehmann das Schlusswort lässt, der natürlich Aufklärung über die Aufklärung fordert und seine Schäfchen wieder ins große Tor des rechten Glaubens winkt?

Aufmacher des Literaturteils ist Iris Radischs Besprechung von Zygmunt Haupts Erzählungsband "Ein Ring aus Papier".

SZ, 31.12.2003

Sonja Asal bereitet auf das Kant-Jahr 2004 vor und führt dabei auch in die Mühen der Werkedition. Seit hundert Jahren nämlich wird daran gearbeitet, 2012 soll zumindest "die Grundsanierung" abgeschlossen sein. Alex Rühle amüsiert sich über eine Meldung, nach der das FBI vor Leuten warnt, die Landkarten, Almanache oder Lexika mit sich herumtragen. Joachim Riedl berichtet vom entschlossenen Machtwillen der österreichischen Grünen. Andrian Kreye hat schockierende Bilder auf brasilianischen Zigarettenschachteln gesehen. Ulrich Raulff gratuliert dem Mediävisten Jacques Le Goff (mehr hier) zum Achtzigsten. Ulrich Beck schickt Glückwünsche an den Systemtheoretiker Walter Bühl zum Siebzigsten. Zum Ausklang des Jahres 2003 erinnert Harald Eggebrecht an die drei Musketiere der klassischen Musik (Bild), die alle 1903 geboren wurden: Wladimir Horowitz (mehr), Nathan Milstein (mehr) und den hinreißenden Gregor Piatigorsky (mehr), der die schönste Autobiografie in der klassischen Musik geschrieben hat.

Anke Sterneborg bespricht den Film "Unzertrennlich" von Peter und Bobby Farrelly über ein siamesisches Zwillingspaar. Gemeldet wird der Tod von Hongkong Poplegende Anita Mui.

Zu lesen ist schließlich Robert Gernhardt Gedicht auf das Ende des Generationenvertrags:

"'Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen' -
So krass sah das bereits Herr Gryphius im Barock.
Der alte Mensch von heut geht schmerzlicher am Stock,
Weil niemand dafür sorgt, ihn zeitig auszumerzen.
Träg schleppt er sich dahin. Mit tiefverderbtem Herzen
Lässt er sich durchkuriern. Er hat auf gar nichts Bock,
Als immer nur kassiern..."

FR, 31.12.2003

Harry Nutt sinniert über das prekäre Verhältnis von Chance und Glück, über Sektwerbung und die veränderten Zeichen der Zeit: "Auffällig ist, dass die weithin proklamierte Phase der Reformen weder satisfaktionsfähige Gegenfiguren auf den Plan gerufen, noch eine Kultur der Konsolidierung hervorgebracht hat. Jüngsten Meinungsumfragen zufolge glauben die Bundesbürger nicht an einen wirtschaftlichen Aufschwung für 2004, zumindest an keinen, der ihre Bedürfnisse auch erreicht. Ihre gegen alle Prognosen gerichtete Skepsis gründet sich auf der Erfahrung eines regressiven Rigorismus, der das Spartheater des privaten und öffentlichen Raumes nachhaltig durchdrungen hat."

Weiteres: Martin Zeyn findet in der Kolumne "Time mager" Platz, die neue Fotosammlung der Münchner Pinakothek der Moderne vorzustellen. Glückwünsche gehen heute an Jerome D. Salinger zum Fünfundachtzigsten und an den Mediävisten Jacques Le Goff zum Achtzigsten. Der Historiker und Verleger Ernst Piper erinnert an den 31. Dezember 1933, den Hitler zum "Tag des Abschlusses des Jahres der nationalsozialistischen Revolution" erklärt hatte.

Besprochen werden die Biografien der Dada-Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven und Tilly Wedekind (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 31.12.2003

Die taz geleitet die "verunsicherte Gesellschaft" mit einem fünfseitigen Dossier ins neue Jahr. Der Historiker und Soziologe Paul Nolte (mehr) fragt etwa, wie es im Zuge der Reformen eigentlich um die Mittelschichten steht. "Geht es ihnen materiell schlecht, oder leiden sie eher unter moralischer Auszehrung?" Arnulf Barings Aufruf zu den Barrikaden, stellt Nolte fest, sind sie jedenfalls nicht gefolgt. "Vielleicht wissen sie selber nicht, ob sie unterstützungs-, ob sie hilfsbedürftig sind oder ob sie sich zumuten sollen, Verantwortung und Solidarität zu übernehmen. In den neuen Debatten über Gerechtigkeit und Solidarität, über Eigenverantwortung und Bürgergesellschaft, die im vergangenen Jahr vehement und produktiv geführt worden sind, müssten die Mittelschichten doch eigentlich eine führende Rolle spielen. Oder beschränkt sich ihre Verantwortung darauf, den Einzelhandelsumsatz im Weihnachtsgeschäft wenigstens auf das Niveau des Vorjahres zu bringen?"

Ulrike Winkelmann denkt über den Unterschied zwischen einem subjektiven und objektiven Gefühl der Unsicherheit nach: Es sind "niemals die Flüchtlinge, die morgen in Willkürstaaten abgeschoben werden könnten, die allein erziehenden Mütter auf Sozialhilfe, die Angst haben vor jeder Ausgabe über fünf Euro, die Junkies und Penner, die morgen eines frühzeitigen Todes sterben könnten, die ihre Unsicherheit mitteilen. Es erkundigt sich übrigens auch kaum jemand bei ihnen. Es sind die artikulationsfähigen Mittelschichten, die ihre Unsicherheit ventilieren. Die gesetzten Wahlbürgerinnen und Wahlbürger empören sich über Brillen- und Pillenkosten. Akademikerkinder mit Langzeitstudium und Kurzzeitanstellung schreiben in den Feuilletons darüber, wie es ist, auf einem Arbeitsamt eine Nummer zu ziehen und auch wie eine solche behandelt zu werden."

Weitere Artikel zum Thema befassen sich mit der Trauer der Wohlhabenden, mit dem Versicherungsvertreter, dem explodierenden Widerspruch des Sozialstaats, mit den Mythen des deutschen Unglücks und dem Umgang mit der Zukunftsangst.

Im Feuilleton herrscht Business as usual: Cristina Nord bespricht Michael Hanekes neuen Film "Wolfzeit", Philipp Bühler widmet sich Nigel Coles launiger Komödie "Kalender Girls", und Andreas Busche unterhält sich mit Werbe- und Musikclip-Regisseur Marcus Nispel über sein Spielfilmdebüt, das Remake von "Texas Chainsaw Massacre".

Und wie immer TOM.

FAZ, 31.12.2003

Dirk Schümer berichtet vom Kollaps des italienischen Familien-Multis Parmalat: "Dass die Bilanzabteilung eines der größten Nahrungsproduzenten der Welt ihre Aktiva mit dem Fotokopierer fälschte und am Ende Scheingeschäfte im großen Stil - etwa eine gigantische Lieferung von Milchpulver nach Kuba - fingierte, passt schlecht zum Bild des handfesten Betriebs aus der Emilia, wo ehrliche Bauern ihren Wohlstand mit Parmaschinken und Parmesan zu erwirtschaften pflegen." Sagenhafte 13 Milliarden Euro Defizit befürchten die Sanierer.

Was bleibt? fragt die FAZ-Kulturredaktion zum Jahresende. Nicht viel, liest man die Antworten. Jedenfalls nichts Gutes. Laut Gerhard Stadelmaier kommt der Hauptanteil des Beifalls in den deutschen Theatern inziwschen von hauseigenen Claqueuren. Die Lage der Literatur und des Buchwesens stellt sich bei Hubert Spiegel so dar: "Bei den einen ist der Strang noch locker um den Nacken drapiert, bei anderen zeigen sich erste Würgemale." Und der Denkmalschutz funktioniert laut "bat" heute so: "Schwamm drüber, Abrissbirne drauf."

Weitere Artikel: Gina Thomas stellt uns die "Refusniks" vor, Briten, die die Erhebung in den Ritterstand ablehnten. Hans-Jörg Rother empfiehlt eine Reihe neuer serbischer Filme, die jetzt unter dem Titel "Nach dem Krieg und jenseits von Kusturica" in einzelnen Programmkinos zu sehen sind. Ein "betagter Neffe" Paula Modersohn-Beckers hat der Stadt Dresden einige Werke seiner Tante geschenkt, die jetzt in einer Ausstellung im Albertinum Dresden besichtigt werden können, berichtet Anton Thormüller. Michael Jeismann gratuliert dem Mediävisten Jacques Le Goff zum achtzigsten, Andreas Kilb gratuliert dem Schauspieler Ben Kingsley (mehr) zum sechzigsten Geburtstag.

Auf der Medienseite meldet Karl-Peter Schwarz den Rückzug von Radio Free Europe aus sieben osteuropäischen Ländern. Auf der Stilseite grübelt Jürgen Dollase, was in der Küche "modern" genannt werden kann. Andreas Platthaus stellt eine Ausstellung mit den Goldschmiedearbeiten von Martin-Guillaume Biennais im Louvre vor. Die letzte Seite füllt heute der FAZ-Comiczeichner Volker Reiche.

Besprochen werden der "beispielhafte" schwedische Kinderfilm "Zwei kleine Helden" und Bücher, darunter ein Band über "Genozid im Völkerrecht" und ein Band über "Völkermord in Deutsch-Südwestafrika" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 31.12.2003

Jochen Hörisch (mehr hier und hier) gibt in die CD-Rom des viel besprochenen "Internationalen Germanistenlexikons" das Suchwort "NSDAP-Mirgliedschaft" ein und stößt auf "Auskünfte in hoher Zahl", die ihn zu folgender Einsicht treiben: "Der so provokante wie richtige Satz, dass das NS-Regime eine Konsens-Diktatur war, dass überwiegende Teile der Bevölkerung und eben auch des akademischen und noch überproportional des geisteswissenschaftlich-germanistischen Milieus die Nazis gewollt haben, bewährt sich auch hier."

Weitere Artikel: Andrea Köhler macht sich Sorgen um die Gewichtszunahme amerikanischer Bären, die in der Nähe von Städten den Abfall plündern. Besprochen werden eine Ausstellung des Frühwerks von Max Liebermann in der Kunsthalle Würth, Patrice Chereaus neuer Film "Son frere", und der von Victor Conzemius herausgegebene Band "Schweizer Katholizismus 1933 bis 1945" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).