Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2003. Die FAZ beschreibt, wie man in einer Theaterinszenierung nicht irgendetwas streicht, "sondern gleich das ganze Stück". Die SZ meint: Wir haben das Problem mit der Einwanderung nicht gelöst, weil wir das Problem mit der Auswanderung nicht bewältigt haben. In der taz beschwert sich der Systemtheoretiker Peter Fuchs über Metaphern, die nicht der Systemtheorie entstammen. Und die NZZ klagt: "Man findet in der welschen Schweiz nur selten ein Cafe, wo eine deutschsprachige Zeitung aufliegt."

SZ, 01.12.2003

Die Historiker Constantin Goschler und Philipp Ther erörtern die jüngste Konjunktur der Vertriebenverbände im Schatten des Opferdiskurses. Der Grundton der Debatte gefällt ihnen gar nicht. "Letztlich ist die Gleichsetzung von deutschen Opfern mit den Opfern der Deutschen ähnlich gewagt wie Martin Hohmanns Versuch, der 'deutschen Tätergesellschaft' ein 'jüdisches Tätervolk' entgegenzuhalten."

Wir haben ein Problem mit der Einwanderung, weil wir unsere Auswanderungsgeschichte verdrängen, vermutet Heribert Prantl im Leitartikel. Hunderttausend sind einmal im Jahr nach Amerika ausgewandert, und Ärger gabe es deswegen auch. "In Chicago heizte eine ultrakonservative politische Partei namens 'Americans Only' den Konflikt an, ihr Kandidat Levy Boone wurde Bürgermeister, erhöhte die Alkoholsteuer um sechshundert Prozent und verbot den Bierausschank am Sonntag. Als fast 200 deutsche Gäste und etliche Wirte wegen Zuwiderhandlung verhaftet und eingesperrt wurden, kam es zum deutschen Aufstand. 'Beer Riots' heißt das in den Archiven. Das klingt lustiger als es war: Die Polizei schoss in die Menge. Aus der Menge wurde zurückgeschossen."

Gnadenlos verreißt C. Bernd Sucher Sebastian Hartmanns Hamburger Inszenierung von Tennessee Williams? "Die Glasmenagerie". "Ganz witzlos ist die Aufführung nicht. Einen Joke gibt's. Nach neunzig Minuten Leistungskurs Grundschule: Freud; Oberstufenkolloquium: Jean Baudrillard und Dirk Baecker; studentischer Demonstrationsübung: zur Ästhetik des Regisseurs Frank Castorf und: Kindler, leicht gemacht: The best of Tennessee Williams."

Weitere Artikel: Julia Encke verschafft sich einen Überblick über die Erfolgsgeschichte des Aidsvirus und etikettiert die Immunschwäche als Epidemie der Armen. "dip" hat munkeln hören, dass bald ein zentrales deutsches Musikexportbüro gegründet werden soll. Fritz Göttler beschreibt den Aufschwung, den Peter Jackson und sein "Herr der Ringe" ins neuseeländische Wellington gebracht haben. Rainer Gansera hat es gefallen auf dem 52. Filmfest Mannheim-Heidelberg: Sowohl der Raoul-Ruiz-Schwerpunkt als auch die Jarmusch-Coolness zweier deutscher Nachwuchstalente haben ihn beeindruckt. "hera" mokiert sich über den Adventskalender der Duden-Redaktion (noch ist da gar nichts), der ein sprachlich einwandfreies Weihnachten zum Ziel hat.

Die gerade abgeschlossene Suche nach dem besten Deutschen kommt auch bei Willi Winkler auf der Medienseite nicht gut weg. "Wir haben genau das staatstragende Fernsehen, das Konrad Adenauer einführen wollte, und aus dem schließlich das ZDF wurde." Kai-Hinrich Renner sorgt sich um die Hamburger Morgenpost, deren Besitzer sich in den Haaren liegen. Christopher Keil grübelt, warum Michael Spreng so plötzlich die Leitung des Maischberger ARD-Talks abgegeben hat. Hingewiesen sei außerdem auf eine Reportage der dritten Seite, in der Michael Bitala die Angst der weißen namibischen Farmer vor einer Landreform schildert.

Besprochen werden Edoardo Pontis Film mit Sophia Loren "Zwischen Fremden", die große "Gothic"-Ausstellung über das Mittelalter im Londoner Victoria and Albert Museum, Guy Joostens und Marc Albrechts mehr als passable Version von Hector Berlioz' "Les Troyens" an der Oper Leipzig, Christiane Pohles ehrliche Inszenierung von Falk Richters "Electronic City" am Schauspiel Zürich, ein Konzert mit einer uneleganten Emmylou Harris in München, die Aufführung von Mahler/Cookes Zehnter unter Michael Gielen auch in München, und Bücher, darunter Ralph Dutlis eindrucksvolle Biographie über Ossip Mandelstam, Christopher Brownings beachtenswerte Studie zur "Entfesselung der 'Endlösung'" sowie "Camping", Thomas Palzers anregende neue Selbstgespräche (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Außerdem bringt die SZ heute ihre letzte Literaturbeilage vor Weihnachten. Aufmacher ist Urlich Raulffs Artikel über Raimond Gaitas Buch "Der Hund des Philosophen".

FR, 01.12.2003

Selbst im Osten ist der Sozialismus inzwischen passe, vermutet Nikolaus Merck. Nicht umsonst werde "Die Geschichte des Kommunismus nacherzählt für Geisteskranke" deshalb zuerst in Berlin und Rostock aufgeführt. Das große Stück über Stalin und Kollegen hat aber auch der 1987 nach Frankreich emigrierte Rumäne Matei Visniec damit nicht geschrieben, findet Merck. Überhaupt: "Etwas Ebenbürtiges zu Ernst Lubitschs unsterblichem 'Sein oder Nichtsein' oder wenigstens Charlie Chaplins 'Der Große Diktator' hat die Trauer über die Leichenberge der Gulags nie hervorgebracht. Kein Chaplin, kein Roberto Benigni, kein Felix Bressart haben je einem von Stalin Ermordeten ihr Gesicht geliehen, kein Woody Allen die Diktatoren von links dem Lachen preisgegeben. Die Weltkomödie über das Grauen von links bleibt einstweilen noch ein uneingelöstes Versprechen."

Weitere Artikel: Keine Angst, keine Filmpolitik: Rüdiger Suchsland besucht das Mannheimer Filmfestival immer wieder gern: "Prinzipiell stimmt die Mischung", denn hier habe sich noch ein Rest an Cinephilie bewahrt, an Entdeckermut und Mainstreamverachtung. Wer war zuerst da, Henne oder Hai, Saatchi oder Hirst, fragt sich Stefan Kaufer in Times mager, anlässlich der Vorbeben rund um den Turner PreisGemeldet wird, dass Walter Jens in Sachen angebliche NS-Mitgliedschaft zurückschlägt und nun Christoph König mangelnde Sorgfalt vorwirft.

Uwe Ebbinghaus macht auf der Medienseite keinen Hehl daraus, wie nebensächlich und erbärmlich er auch das Finale der Suche nach dem besten Deutschen fand. "In China war gerade ein Sack Reis umgefallen, als in einer ZDF-Show namens Unsere Besten Konrad Adenauer zum größten Deutschen aller Zeiten gewählt wurde." Daland Segler berichtet aus Baden-Baden, von der unerhört harmonischen Verleihung des Fernsehfilmpreises der Deutschen Akademie der Bildenden Künste.

Zwei Buchbesprechungen gibt es heute, und zwar "Kalorien, Kautschuk, Karrieren", Susanne Heims Studie über die Zusammenarbeit der Agrarforscher mit dem NS-System sowie "Die Politiker", Hermann Scheers Essay über die politische Klasse.

TAZ, 01.12.2003

Am Anfang ist beileibe nicht das Geld, stellt Peter Fuchs klar. Der Luhmann-Schüler (Die Metapher des Systems) wehrt sich gegen das weitverbreitete "Sprachspiel", die Gesellschaft funktioniere wie ein Unternehmen. "Vielleicht genügt es für den Anfang, seine Armseligkeit zur Kenntnis zu nehmen. Als Wissenschaftler bin ich für Prognosen nicht zuständig, aber dennoch vermute ich, dass in einigen Dekaden des homerischen Gelächters kein Ende sein wird, wenn man sich daran erinnert, dass damals die Leute geglaubt haben, die Gesellschaft sei wie ein Unternehmen eine steigerbare und hierarchisierbare Angelegenheit."

Die taz hat einen kulturell-politischen Schwerpunkt über Aids zusammengestellt. Magdalena Kröner empfiehlt eine Kölner Ausstellung, in der 20 afrikanische Künstler der Geißel ihres Kontinents ein Gesicht geben. Auf der Tagesthemenseite informiert uns der Präsident des Robert-Koch-Instituts Reinhard Kurth im Interview, dass eine Schutzimpfung in weiter Ferne liegt. Nichtsdestotrotz laufen in Südafrika die ersten Tests an, berichtet Martina Schwikowski, mit 36 Freiwilligen.

Weitere Artikel: Bei Aldi gibt es nun auch handsignierte Künstlerdrucke, meldet Brigitte Werneburg konsterniert. Auf der Medienseite unterhält sich Patrik Schwarz mit Peter Gauweiler, im neuen taz-Protokoll-Stil. Thema ist der neue taz-Protokoll-Stil (also die Weigerung der taz, nachträgliche Änderungen zuzulassen). Gauweiler eröffnet furios: "Ja, wir haben jetzt unser Telefongespräch. Wenn das von einem Gerichtsstenografen mit stenografiert würde, würde es möglicherweise blöde klingen."

Schließlich Tom.

NZZ, 01.12.2003

Für die deutsche Sprache ist die welsche Schweiz ein hartes Pflaster, stellt Christophe Büchi in einem ausführlichen Bericht fest: "Wer nach Genf fährt, stellt fest, dass es schwer fällt, eine deutsche Auskunft zu bekommen. Man findet in der welschen Schweiz nur selten ein Cafe, wo eine deutschsprachige Zeitung aufliegt; in welschen Universitäten wagen es Lehrkräfte - mit Ausnahme vielleicht der Juristen und natürlich der Germanisten - kaum, Bücher in deutscher Sprache anders als in homöopathischen Mengen zu verabreichen. Umfragen zeigen, dass die Deutschkenntnisse in der sogenannten Elite im Allgemeinen schlecht bis inexistent sind - wenn man von den Deutschschweizern absieht, die in der welschen Schweiz Führungspositionen einnehmen. Dies ist nicht neu. Aber das Bedenkliche ist, dass sich die Situation eher noch verschlechtert."

Birmingham hat endlich eine Attraktion zu bieten, meldet Hubertus Adam: Das neue Selfridge-Kaufhaus vom Londoner Architektenteam Future Systems: "Die Außenhaut des Gebäudes ist über und über mit leicht konvexen Aluminiumplatten besetzt - insgesamt sollen es 15 000 Stück sein. Die kreisförmigen, matt schimmernden Elemente vollziehen die Wellen und Krümmungen des Bauvolumens nach, und je nach Lichtsituation beginnt das Gebäude zu gleißen, zu strahlen, zu glühen. Peter Hagmann sieht in Graz schon wieder den kulturpolitischen Alltag einziehen - mit all seinem Gezerre und Geklage über leere Kassen. Marc Zitzmann meldet schwere Verwerfungen am Pariser Institut francais d'architecture.

Besprochen werden die "Gauguin"-Schau in Paris, ein Bach-Konzert des russischen Pianisten Grigory Sokolov (mehr hier) in Zürich und das vierte Lyrik-Wochenende in Bern.

FAZ, 01.12.2003

Gerhard Stadelmaier fragt sich, warum Sebastian Hartmann in seiner Inszenierung der "Glasmenagerie " am Hamburger Schauspielhaus nicht irgendetwas gekürzt hat, "sondern gleich das ganze Stück". "Gibt es im Deutschen Schauspielhaus - gut, der Intendant bekommt nicht verlängert und ist womöglich beleidigt und ihm alles wurscht - niemanden mehr, der diese unsinnige, skandalöse Verschwendung von Schauspielern, Material, Zeit, Arbeit, Text und Geld verantwortlich unterbindet?"

Weitere Artikel: Das Gehirn der Hirnforschers Gerhard Roth hat ihn entscheiden lassen, einen Artikel zu schreiben, in dem es jede Willensfreiheit bestreitet und alle Gehirne akademischer und journalistischer Gegner erledigt. Christian Schwägerl fragt sich in der Leitglosse, welcher Sadismus das Publikum des "Nemo"-Films bewegt, nun Clownfische in ihr Aquarium zu stecken - dabei handelt der Film vom Ausbruch aus dem Aquarium! Zitiert wird Adolf Muschg, der Walter Jens verteidigt , und Walter Jens, der dem Herausgeber des Lexikons, das seine NSDAP-Mitgliedschaft nachwies, nachweist, dass er dafür mindestens drei Quellen hätte beibringen müssen - denn sonst sei er kein Wissenschaftler. Josef Oehrlein freut sich über eine Ausstellung mit klassischer afrikanischer Kunst, die das Ethnologische Museum von Berlin in Rio de Janeiro ausrichtet (mehr hier). Zhou Derong erzählt die Geschichte der vor zwei Jahren in den USA gefeierten Dissidentin Gao Zhan, die sich in Wirklichkeit als geschickt aufgebaute Agentin der KP Chinas erwies. Andreas Rosenfelder resümiert eine Mülheimer Tagung über die "Machbarkeit der Welt". Regina Mönch hat einem Berliner Diskussionsabend über Tschetschenien mit Vanessa Redgrave zugehört. Wiebke Hüster gratuliert der Tänzerin Violette Verdy zum siebzigsten.

Auf der letzten Seite besucht Rolf Wörsdörfer ein zur Gedenkstätte umgewidmetes ehemaliges Partisanenlazarett in Slowenien. Wolfgang Sandner wendet sich gegen das Wort "Verwöhnkultur", mit dem Bundeskulturministerin Christina Weiss die deutsche Orchesterlandschaft charakterisierte. Und Erna Lackner porträtiert Wolfgang Lorenz, der die Stadt Graz mit Glück und Geschick zur Kulturstadt des Jahres machte.

Besprochen werden ein Konzert der Band "The Robocop Kraus" in Marburg, und Jon Fosses neues Stück "Schönes" in Dieter Giesings Inszenierung in Bochum und Sachbücher, darunter ein Band von Günter Amendt über "Drogen im Zeitalter der Globalisierung".