Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2003. In der SZ meditiert Georg Klein über den Fall Michael Jackson. In der Berliner Zeitung erklärt Eric Hobsbawm, warum der Kommunismus indirekt gut war. In der taz beruhigt der Philosoph Charles Taylor: Anfälle spastischen Patriotismus' gehen in den USA auch schnell wieder vorüber. Die FR findet Peaches viel unheimlicher als Marilyn Manson. Die FAZ stellt (wie die meisten anderen Zeitungen auch) die Entwürfe für das Mahnmal am Ground Zero vor.

SZ, 21.11.2003

Einen nüchternen Blick wirft der Schriftsteller Georg Klein (mehr hier) auf den Fall Michael Jackson: "Dort, wo inbrünstig und ohne Unterlass an Kapital, an Kapitalvermehrung und an heroisch freibeuterische Akte des Kapitalerwerbs geglaubt werden soll, muss auch regelmäßig in großem Maßstab Kapital vernichtet werden. Pop ist nicht allein eine Industrie mit ihren zwangsläufigen Krisen, Pop ist auch die große symbolische Verschwendungsorgie des Kapitalismus, in der die reichen Länder die überschüssigen Energien ihrer Jugend, die Libido wie die Phantasie ihrer Kinder, verbrennen." Oder anders gesagt: "Damit den Olymp des Pop die rechte mittlere Menge von Göttern und Heroen bevölkert, muss dort oben regelmäßig von der Klippe gesprungen werden."

Weitere Artikel im heute randvollen Feuilleton: Am Mittwoch wurden die acht Entwürfe für die Gedenkstätte von Ground Zero (mehr hier) vorgestellt, Jörg Häntzschel konnte keiner überzeugen. Kein Wunder, offenbarten sich doch "in den hochkomplexen Entwürfen dieselben Myriaden von Fallen, die man in Deutschland seit der Endlosdebatte um das Holocaust-Denkmal zu fürchten gelernt hat. Derselbe Autor meldet heftige Reaktionen auf ein Urteil des obersten Gerichts von Massachusetts, das entschieden hatte, dass das Verbot von Homo-Ehen gegen die Verfassung verstoße, weil es "Bürger zweiter Klasse" schaffe. Oliver Fuchs fürchtet, bei John Cales als Konzert getarnten Intelligenztest durchgefallen zu sein. Für Reinhard J. Brembeck hat sich der Übervirtuose Arcadi Volodos beim Konzert in München als "eleganter Elegiker" entpuppt. Manfred Schwarz feiert das Pablo-Picasso-Museum in Malaga, das nach Jahren "zäher Ignoranz und umständlicher Untätigkeit" endlich eröffnet wurde.

Susan Vahabzadeh mahnt die Laptop-Cineasten: "In der Realität sind Filme im Internet überwiegend Raubkopien, und dass die Ladezeiten immer kürzer werden, ist kein Segen, sondern ein Fluch." Alexander Kissler sieht nach der Entscheidung des Europäischen Parlament zur Embryonenforschung Europa gespalten und die Hüllen des politischen Anstands fallen. Lothar Müller hat beim emphatisch "Ostwärts" betitelten Berliner Abend mit Andrzej Stasiuk, Juri Andruchowytsch, und Jachym Topol erfahren, dass diese Generation für eine Romantisierung des Ostens nur müdes Abwinken übrig hat. Ralf Hertel sammelt immer konkrete Plagiatsvorwürfe gegen Bestseller-Autor Eric-Emmanuel Schmitt. In der Randglosse freut sich "midt" über neuen Aufschwung für die eigentlich im Niedergang begriffene Kulturtechnik des Häkelns.

"Siegen kann schließlich jeder", tröstet Michael Jürgs auf der Medienseite den Aufsichtsratschef von Bertelsmann, Gerd Schulte-Hillen, der im Streit über das Musikgeschäft den Konzern verlässt.

Besprochen werden Dimiter Gotscheffs entlarvende Inszenierung von Bernard-Marie Koltes' "Kampf des Negers und der Hunde", Jim Simpsons 9/11-Film "The Guys", Stefan Hunsteins Aufführung von Vladimir Sorokins "Ein Monat in Dachau" im Münchner Haus der Kunst, die Ausstellung "Beutekunst unter Napoleon" in Mainz und Bücher, darunter Wolfgang Flachs Essay "Die Regierung der Freiheit", Jacques Roubauds Roman "fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle" sowie ein Sammelband zum Protestantismus (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 21.11.2003

Der Philosoph Charles Taylor (mehr hier) rät im Interview mit Robert Misik zur Gelassenheit beim Blick auf die USA und George Bush: "Bisweilen geraten die Amerikaner in eine Art spastischen Patriotismus, der von Hysterie und Panik bestimmt ist. Erinnern wir uns nur an die Zeit des McCarthyismus. Heute sind wir in einer besseren Lage als zu McCarthys Zeiten, heute gibt es mehr und vernehmbarere dissidente Stimmen. Alle Erfahrung zeigt, dass solcher Wahnsinn in den USA regelmäßig ausbricht - aber auch recht schnell wieder vorbeigeht."

Im mageren Feuilleton staunt Tobias Rapp darüber, wie Kylie Minogue "die Oberflächenproduktion zu einer seltenen Perfektion" getrieben hat. Susanne Messmer verdankt Konrad Heidkamps Buch "Sophisticated Ladies" einen neuen Blick auf "junge Frauen über 50".

Und noch TOM.

FR, 21.11.2003

Kalt gelassen hat Frank Keil das Hamburger Konzert von Marilyn Manson: bombastische Bilder, soldatische Märsche, Frauen in Strapsen - das übliche halt. Gott sei Dank trat noch jemand auf: "Wie anders und erfrischend merkwürdig der Auftritt von Peaches als Support. Die derzeit in Berlin lebende Kanadierin bot eine kompakte Show, die das überwiegend männliche Publikum ratlos zurückließ. Zwar bediente auch sie zunächst die Standards des Obszönen, spreizte die Beine, schob sich den Mikrofonständer zwischen diese, zog sich fortlaufend an und aus. Doch wurde schnell deutlich, dass hier die Frau als souveräne Popgröße auf männliche Begehrlichkeiten antwortet, wenn sie unablässig 'Shake your tits' rief, während ihre Songs nicht von der Stelle kamen und sich dem üblichen Format von Aufladung und Endladung verweigerten."

Seyla Benhabib, Professorin für Politische Wissenschaft und Philosophie in Yale und als sephardische Jüdin in Istanbul aufgewachsen, erinnert an "ein harmonisches und friedfertiges Zusammenleben von Juden und Muslimen, das nicht auf das mittelalterliche Spanien beschränkt war, sondern sich über die ganze alte Levante von Alexandria über Beirut und Saloniki bis nach Istanbul erstreckte und vom 15. Jahrhundert bis in die Zeit meiner eigenen unbeschwerten Kindheit auf den liebenswürdigen bunten Straßen und Plätzen Istanbuls reichte." Genau das also, was ein islamischer Fundamentalismus am meisten zu fürchten scheint.

Weitere Artikel: Ulrich Clewing war bei einem Auftritt von Eric J. Hobsbawm in Berlin. Robert Kaltenbrunner berichtet ausführlich vom zunehmenden Interesse der Wissenschaft für den Städtebau zur Zeit Stalins. Besprochen wird die Aufführung von Bernard-Marie Koltes Stück "Der Kampf des Negers und der Hunde" an der Berliner Volksbühne.

Berliner Zeitung, 21.11.2003

In einem Interview erzählt der britische Historiker und letzte Marxist Eric Hobsbawm (mehr hier), wie er als britischer Offizier Reinhart Koselleck im Umerziehungskurs 1947 beibrachte, dass nichts so sehr den Verstand schärft wie eine Niederlage. Bei ihm selbst äußert sich das so: "Mit dem Kommunismus ist es aus. An eine Zukunft dieser Bewegung glaube ich nicht - einschließlich der spezifischen Organisationsform der leninistischen Führungspartei, die eine unglaublich erfolgreiche gesellschaftliche Erfindung war. Leute wie ich, die ihr Leben untersuchen, sagen sich: wir glaubten, wir wären die Hauptstraße entlanggegangen, es hat sich herausgestellt, es war eine Sackgasse. Allerdings eine, die die Geschichte des 20. Jahrhundert grundlegend beeinflusst hat. Meiner Ansicht nach indirekt zum Guten, weil es nach dem Krieg dem Kapitalismus ermöglicht hat, eine sozial gerechtere und eine zeitlang auch wirtschaftlich äußerst günstige Entwicklung zu nehmen."

NZZ, 21.11.2003

In der Reihe "Schauplatz Rumänien" erinnert Markus Bauer an das Pogrom in der ostrumänischen Stadt Jassy, bei dem 1941 in wenigen Tagen Tausende von Juden von deutschen und rumänischen Milizen ermordet worden. Bei der Feierstunde auf dem Friedhof von Jassy zur Erinnerung an das Pogrom sprach der Abgesandte des rumänischen Kulturministers Razvan Theodorescu "blumenreich von der rumänischen Mentalität und ihren kulturellen Vorzügen und umgeht wortgewaltig die Frage, warum sein Minister wenige Wochen vorher behauptet habe, dass es keinen rumänischen Holocaust gegeben habe. Auch Staatspräsident Ion Iliescu ließ später in Israel missverständliche Äußerungen verlauten, nach denen die Rumänen nicht am Holocaust beteiligt gewesen seien. Über die entsprechende Empörung in Rumänien und auf internationaler Ebene wird an diesem Sommertag in Jassy nicht gesprochen, sondern die Freundschaft und Verbundenheit mit der jüdischen Gemeinde betont."

Weitere Artikel: Mit 60 Briefen hat der Guardian George W. Bush in London begrüßt, berichtet Angela Schader. Auf der Filmseite meldet che. die Wiedereröffnung des Kino Kunstmuseums Bern. Besprochen werden die Ausstellung Edouard Manet im Prado, der "Wolfsjunge" am Theater Basel, die Ausstellung "Orwell Observed" im Newsroom des Guardian and Observer Archive and Visitor Centre in London und Filme, darunter "Kukuschka" von Aleksandr Rogoschkin, "Findet Nemo" und Anna Luifs digitales Teenagerexperiment "Little Girl Blue".

Auf der Medien- und Informatikseite skizziert Martin Hitz, wie Kamera-Mobiltelefone künftig den Journalismus verändern werden: "Augenzeugen von Katastrophen, Verbrechen und Großanlässen werden künftig ihre unmittelbaren Eindrücke auf dem Handy festhalten und die geschossenen Bilder in Sekundenschnelle in alle Welt übermitteln können. Von Bürger-Journalisten und 'Citizen Reporters' ist in diesem Zusammenhang die Rede. Erste zaghafte Versuche in diese Richtung können bereits beobachtet werden."

Weitere Artikel: "Das Web ist reif für www.frederic-rüdisüli.ch", freut sich seth. Ab März nämlich sind - zumindest in der Schweiz - Umlaute und Akzente in Domain-Namen erlaubt. H. Sf. zieht eine ermutigende Botschaft aus dem eher tristen Skandal um Martin Hohmann. Vorgestellt wird eine - "mit Genehmigung der Rechtsdienste der Universität Bern unter restriktiven Regeln durchgeführte" - empirische Studie der Universität Bern, in der untersucht wird, wie effizient das Herunterladen von Filmtiteln bei Kaaza ist. Ergebnis: Nur sieben Prozent der heruntergeladenen Filme waren mit der Qualität von Videokassetten oder DVD vergleichbar. Na, dann kann die Industrie doch beruhigt sein. ras. kündigt den Uno-Gipfel zur Informationsgesellschaft an, der vom 10. bis 12. Dezember in Genf stattfinden wird. Detlef Borchers kommt enttäuscht von der US-Computermesse Comdex zurück. gsz. berichtet von einer israelischen Firma, die das Mooresche Gesetz um glatte 15 Jahre übersprungen hat: ein Computerprozessor von Lenslet soll rund tausendmal schneller sein als die heute im PC-Markt gebräuchlichen Prozessoren.

Schließlich gratuliert Bor. einem Wunderkind des Computerzeitalters zum 20. Geburtstag: der c't. Wir auch!

FAZ, 21.11.2003

Jordan Mejias betrachtet die jüngst vorgestellten Entwürfe für ein Mahnmal am Ground Zero, die allesamt von jungen New Yorker Künstlern stammen, und kommt zu einer Erkenntnis über das Gelände selbst: "Die Entwürfe für die Gedenkstätte haben jedoch abermals bekräftigt, dass der Brennpunkt des ganzen Gebietes, mag es nun auch am Rande immer mehr von den Vorstellungen der Investoren geprägt werden, ein Ort der Erinnerung ist. Ground Zero bleibt nicht leer, aber der Blick von dort wird zurück in die Vergangenheit schweifen. Für Amerika ist das, in dieser Intensität und Dimension, eine neue Erfahrung." Wir verlinken nochmals auf das große Dossier der New York Times zu den Entwürfen.

Weitere Artikel: Dirk Schümer schildert Auseinandersetzungen zwischen dem niederländischen Königshaus, das sich harschen Satiren ausgesetzt sieht, und der Presse des Landes. Richard Kämmerlings resümiert ein Berliner Kolloquium über den "Mitteleuropa"-Begriff, an dem Schriftsteller wie Juri Andruchowytsch, Andrzej Stasiuk und Olga Tokarczuk teilnahmen. Andreas Rosenfelder porträtiert den Bielefelder Bibliothekar und Historiker Johannes Rogalla von Bieberstein, dessen Buch "'Jüdischer Bolschewismus' - Mythos und Realität" den CDU-Abgeordneten Martin Hohmann zu seiner fatalen Rede inspirierte. "igl" findet in der Leitglosse auch nach fünf Jahren kein gutes Haar an der Rechtschreibreform. Thomas Wagner gratuliert dem Kunstvermittler und Museumsdirektor Kasper König zum Sechzigsten. Michael Gassmann klärt uns über das Wesen des "boethianischen Gesangs" auf - ein Theoriekonstrukt esoterisch inspirierter Musikwissenschaftler, die den gregorianischen Choral 1.500 Jahre nach seiner Entstehung noch mal von Grund auf reformieren wollen.

Auf der Medienseite erzählt Jürg Altwegg, wie rabiat die französische Kulturindustrie gegen Raubkopisten im Internet vorgeht. Der Sportfunktionär Helmut Digel fordert eine Verständigung zwischen Sport und Fernsehen. Und Michael Hanfeld erklärt, warum Gerd Schulte-Hillen den Aufsichtsrat von Bertelsmann verlassen muss: Unter anderem scheint es in dem Haus eine Kontroverse über die Fusion der Musiksparten von Bertelsmann und Sony zu geben.

Auf der letzten Seite schildert Joseph Hanimann neue Protestaktionen der "intermittents du spectacle" in Frankreich. Und Dirk Schümer schreibt über die allerneueste Exhumierung Petrarcas.

Besprochen werden eine Ausstellung über das Steppengold der Skythen in Frankfurt, Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Koltes' "Kampf des Negers und der Hunde" in der Berliner Volksbühne ("ideologisch sauber, theatralisch ein Reinfall", meint Irene Bazinger), Ragnar Bragasons Episodenfilm "Fiasko", ein Konzert der arg pilzköpfigen, aber offensichtlich genialen Rockband "Kings of Leon", Bellinis "Puritaner" an der Deutschen Oper Berlin (bei der es sich nach Eleonore Bünings Auskunft um ein recht kopfloses Institut zu handeln scheint), Paul Hills' Film "The Poet", Schumanns selten aufgeführte Oper "Genoveva" in Heidelberg, ein Auftritt der Band Travis in Frankfurt und Sachbücher, darunter ein doppelbändiges Werk Eugen Drewermanns über das Johannes-Evangelium.