Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2003. Die SZ liest in den Knochen Petrarcas. Die NZZ berichtet über neueste Tendenzen im israelischen HipHop. Die FR widmet sich dem heißen Herbst der Popladies. Die taz schämt sich über ihre RAF-Aufmacher. Die FAZ beklagt die Zwangsentsorgung Alleinstehender.

Zeit, 20.11.2003

Mit Unbehagen hat Peter Kümmel die Aufführung von Hans Rehbergs NS-Durchhaltestück "Die Wölfe" in Erlangen verfolgt: "Die Wesen auf der Bühne werden vom Regisseur gesehen durch den Schleier der Rührung: Wie schade, dass diese da in so einem Stück und dieser Vergangenheit eingeschlossen sind. Wir wollen versuchen, sie herauszuholen."

Weiteres: In einem ganzseitigen Beitrag pocht der Moralphilosoph Robert Spaemann ("Grenzen") auf die Menschenwürde eines in-vitro erzeugten Embryos. Christian Staas setzt die Zeit-Debatte um die deutsche Selbstversöhnung mit einem Blick auf die einschlägigen Internetforen fort. In einem wahrhaft quälenden Prozess ist Schriftsteller Andreas Maier zu der Erkenntnis gelangt, dass die Castor-Behälter gar nicht im Salzstock von Gorleben gelagert werden, sondern überirdisch, in einer Kühlhalle. Susanne Messmer porträtiert die Sängerin Pink als "monströse Pubertandin im Reich der Perfekten". Claudia Hersatt annonciert die Versteigerung von Objekten aus der Wiener Werkstätte in New York und Wien.

Besprochen werden der Pixar-Film "Findet Nemo", in dem Andreas Busche einen submarinen Bildungsroman über schwimmende Vorstadtbewohner erkennen will, Thomas Heises Dokumentarfilm "Vaterland" und eine Ausstellung in der Galerie Hete Hünermann, die die Künstlerhelden des Rheinlands ehrt.

Im Aufmacher des Literaturteils feiert Martin Warnke Werner Hofmanns große Groya-Monografie: "Noch nie ist die deutende Sprache diesen eigentlich unbeschreiblichen Bilderwelten und den ihnen zugrunde liegenden Angst- und Schreckenserfahrungen so nahe gekommen."

SZ, 20.11.2003

"Wir treten ein ins zweite Zeitalter der Reliquien: Knochen entfalten, jenseits der symbolischen Pietät, auf einmal wieder eine magische Wirksamkeit kraft ihrer materialen Gegenwart", verkündet Burkhard Müller. Bei Padua haben Wissenschaftler die Gebeine Francesco Petrarcas aus seinem Grab geholt, um mit Hilfe eines Computers sein Gesicht zu rekonstruieren. Bei Knochenuntersuchungen wird es in Zukunft jedoch nicht bleiben, glaubt Müller: "Eine Ente war es, als vor einigen Jahren gemeldet wurde, es sei gelungen, die Stimme Goethes von der Innenwandung einer Vase abzuspielen wie von einer Wachsrolle: Während Goethe sprach, sei das Wasser verdunstet und habe dabei, von den Luftvibrationen zitternd, kleinste Kalkspuren in bestimmtem Muster hinterlassen. Aber es war noch eine Ente - in zehn Jahren kann es eintreffen. Ich jedenfalls würde alle Vasen aus Goethes Umgebung sorgfältig aufheben und nicht spülen."

Sonja Zekri erkundet das neue Billigsexland, Tschechien, "das jeden Wunsch erfüllt: auch den nach Verkehr mit Kindern. Zu erkennen an den Hemdchen im Fenster ... Hier trifft der reiche Westen auf den verarmten Osten, hier begegnen sich ein absoluter Konsumanspruch und ein totales Angebot, preisbewusste Freier und Frauen aus der Slowakei oder Bulgarien, die auf ihrem Weg ins Paradies an den Klippen des Wohlstandsgefälles gestrandet sind, vielleicht in irgendeinem Motorrest an der E 49 Richtung Karlsbad, wo die Elendsbebauung der Nonstop-Hotels nur durch Gartenzwerg-Stände unterbrochen wird. Clubs und Zwerge, Clubs und Zwerge. Kilometerlang."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel beobachtet, wie der amerikanischen Regierung die Bildregie im Irak entgleitet: "Nachdem sich der gewonnene Krieg in einen verlorenen Frieden und dann wieder in einen Krieg verwandelt hat, dessen Ausgang ungewisser denn je erscheint, sickern seine Wahrheiten allmählich aus den medialen Kanälen, die das Pentagon so sorgfältig ausgeschachtet hat." Jens Bisky informiert über das "Konzept zur temporären kulturellen Nutzung des Palastes der Republik" des Vereins "Zwischenpalastnutzung", der zu Beginn des kommenden Jahres die asbestsanierte Ruine für 1.000 Tage zu einem urbanen Labor machen will. Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler haben sich mit Günter Rohrbach über die neugegründete Deutsche Filmakademie unterhalten, deren erster Präsident er (neben Senta Berger) seit September ist.

"egge" berichtet von der "1. Paternosterlesung der Welt" in Leipzigs Neuem Rathaus und in der Industrie- und Handelskammer Chemnitz. Kristina Maidt-Zinke gratuliert Nadine Gordimer zum achtzigsten Geburtstag. "zri" stellt Wischnjas neues Album "Viagra für Putin" vor (mehr hier, behauptet zumindest "zri."). Heute startet Hugh Grants neuer Film "Tatsächlich Liebe" und Susan Vahabzadeh hat sich Gedanken gemacht, wer dieser Mann eigentlich ist, der immer sich selber spielt: "Vielleicht gibt es gar keinen Hugh Grant, nur eine Figur, die sich Richard Curtis und Nick Hornby ausgedacht haben und als lebensgroßes Hologramm auf Reisen schicken."

Besprochen werden Richard Curtis' Regiedebüt "Tatsächlich Liebe", die vom Münchner Werkstattkino und dem Kölner Filmclub 813 zusammengestellte Filmreihe "Jugend in der DDR", eine Otto-Weidle-Werkschau des Münchner Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne und Bücher, darunter ein Band mit Erzählungen von Zygmund Haupt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 20.11.2003

Elke Buhr hat den heißen Herbst der Pop-Ladies von Britney Spears über Missy Elliot bis Beyonce Knowles beobachtet: "Es geht um Sex, und mit der Wahl der Waffen ist man nicht mehr zimperlich ... Die Zuckungen, die Beyonce in ihrem Video hinlegt, sind echter Softporno, nur teurer produziert ... 'Come on Britney, I've got something to show you', ruft Madonna in der Single 'Me Against the Music', wo sie als Gaststar auftritt, dem Nachwuchstörtchen zu: Die große Mutter des Pop schlüpft noch einmal in die Rolle der Sex-Expertin. Für Britney und ihre Fans aber ist die Schonzeit vorbei. Statt mit dem Teddy vor dem Spiegel müssen sie jetzt wie für echte Männer stöhnen. Selbst die süßen Sugababes sind neuerdings auf Sexbombe gestylt: So steuert die Popkultur rasant auf das Ende der Kindheit zu."

Thomas Medicus stellt die Berliner Initiative Zwischenpalastnutzung vor: "Ganz im Sinne der zukunftsorientierten Berliner Zwischenkriegsmoderne verlangen die Initiatoren nicht weniger als das Neue, das Experiment, den Aufbruch. In der Palastruine sehen sie für ihr transitorisches Vorhaben den geeigneten symbolischen Ort. 1000 Tage lang, so das Konzept, soll mit 1000 Gästen und 1000 Ideen der Palastruine wie dem gesamten Areal des Schlossplatzes die Öde ausgetrieben werden."

Weitere Artikel: Hilmar Hoffmann verabschiedet Peter Iden als FR-Redakteur. Klaus Kreimeier gratuliert Nadinde Gordimer zum achtzigsten Geburtstag. In der Kolumne Times Mager begibt sich Christoph Schröder heute in die Untiefen des deutschen Fußballs. Das heutige FR-Minidrama "die Zwei-Cent-Frage" hat Ulrike Syha (mehr hier) geschrieben. In der FR-Plus unterhält sich heute unter anderem Don DeLillo über eingetretene Prophezeiungen und das wahre Gesicht Amerikas.

Besprochen werden das Regiedebüt des Drehbuchautors Richard Curtis "Tatsächlich Liebe", Andrew Stantons Animationsfilm "Findet Nemo", Werner Schweizers Dokumentarfilm "Von Werra" und Bücher, darunter Horst Afheldts "Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 20.11.2003

Nachdem die taz erst selbst über Baaders Sex in Stammheim auf der Titelseite berichtet hat, stellt Stefan Reinecke jetzt auf der Meinungsseite fest, dass die Linke die Geschichte der RAF, "die mal ihre war", schon lange ad acta gelegt hat. "Heute scheint nur noch das Schamhaar auf dem Resopaltisch in der Stammheimer Anwaltzelle zu interessieren. In einer bizarren Schleife ist man damit wieder bei dem Schlüssellochblick angekommen, den die Boulevardmedien in den 70ern inszenierten ... In dem Hass, mit dem die yellow press die RAF in den 70ern betrachtete, steckte die geheime Sehnsucht nach dem Anderen, nach der Entgrenzung. Die Regenbogenpresse-Inszenierung der RAF bediente den bigotten Empörungsblick des Kleinbürgertums: moralisch erschüttert - und geil." Wenn die taz die RAF nun selbst auf diesem Niveau verhandele, "vergisst sie ihre eigene Geschichte".

Weitere Artikel: Arno Frank sieht rechtzeitig zu Michael Jacksons neuem "Best-of-Album" unter den Augen der Welt die Trümmer einer Popikone regnen. Judith Luig schreibt über die israelisch-palästinensisch-jordanische Koproduktion des Kinderfernsehen "Sesamstraße".

Besprochen werden Christina Paulhofers Inszenierung von Joanna Laurens Stück "Fünf Goldringe" am Staatstheater Hannover, der Animationsfilm "Findet Nemo"Christoph Schlingensiefs Film "Freakstars 3000" ("eine glückliche Koppelung von Behinderung, Pop, Stilwillen und ein bisschen Sehnsucht nach Eigensinn", findet Martin Zeyn) und die Sigmar-Polke-Retrospektive "The History of Everything" in der Tate-Gallery in London.

Schließlich TOM.

NZZ, 20.11.2003

Wer wissen möchte, wie die Realität in Israel aussieht, muß seine Ohren spitzen, verrät Hartwig Vens: "Im Jahr 2003 zeigt sich die israelische Hip-Hop-Szene in bester Form: Sie ist groß, vielfältig und attraktiv - eine Erfolgsgeschichte in einem zerrütteten Land. Aus dem blühenden, inzwischen völlig unüberschaubaren Underground stoßen immer neue Formationen nach, die nicht nur von Politik und Leid reden, sondern sprühen vor Wortwitz, Prahlerei und Humor." Hip-Hop sei ganz eindeutig auch in Israel das "Sprachrohr der sozial Benachteiligten, eine Gruppe, die in Israel rapide wachse". Gerappt werde allerdings nicht allein auf hebräisch: "In mancherlei Hinsicht hat Hip-Hop für die arabischen Rapper jene Bedeutung, die er ursprünglich auch für die Afroamerikaner hatte: die Möglichkeit, Wut und Frustration über eine von Diskriminierung, Gewalt und Verelendung geprägte Alltagswelt auszudrücken." Ein "Nahostkonflikt auf Hip-Hop-Ebene", hat Vens von dem arabischen Rapper Richie Shabi erfahren, findet allerdings nicht statt.

Claudia Schwartz schwärmt von Rem Koolhaas' viel diskutiertem Neubau der niederländischen Botschaft in Berlin: "Koolhaas hat einen Schauplatz der diplomatischen Vermittlung geschaffen, wie er im Bilderbuch steht, voller Überraschungen, mit grossen Gesten und kleinen Rückziehern, mit einem Gefühl für den Rhythmus zwischen wagemutigem Antrag und Zurückhaltung." Gleichzeitig findet sie, dass es der Berliner Neuen Nationalgalerie mit ihrer Show "Content" nicht gelungen sei, Koolhaas' Werk verständlich zu machen.

Weitere Artikel: Die nun von Paul McCartney lancierte Neufassung des Albums "Let It Be - Naked" kann Eric Facon nicht begeistern: Es bleibt "der Schwachpunkt einer glänzenden Karriere", findet er, und ein "Dokument der Auflösung der berühmtesten Rockband aller Zeiten". Aldo Keel schreibt zur Eröffnung des nordatlantischen Forums in Kopenhagen. Den Auftakt des Lucerne Festival - Piano hat Rolf Urs Ringger genossen. Besprochen werden die neuen Erzählungen von Nadine Gordimer und die deutschsprachige Neuauflage von Roger Martin du Gards "Die Thibaults" (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 20.11.2003

"Opferfamilien sehnten sich danach den Untergrund zu berühren, auf dem einst das World Trade Center stand. Feuerwehrleute wollten eine Liste mit den Namen ihrer Kumpel sehen. Künstler träumten von einer Offenbarung." So beginnt Glen Collins' New York Times-Artikel über die Ausstellung von Entwürfen zu einem Mahnmal. Die Times hat hierzu ein ganzes Dossier zusammengestellt - Sie finden es hier.
Stichwörter: New York, World Trade Center

FAZ, 20.11.2003

Der Rechtsanwalt Hans-Joachim Widmann beklagt in einem (teilweise recht bizarren) Artikel, dass immer mehr alleinstehende oder von ihren Verwandten verlassene Verstorbene vom Staat zwangsentsorgt werden: "Manchmal verschwinden auf diese Weise auch nur scheinbar Alleinstehende, deren Nachlass nicht unbeträchtlich ist und die sogar nahe Angehörige haben. Die Polizei vermochte bei dem plötzlich Verstorbenen Angehörige nicht festzustellen, und der Sohn, der drei Wochen später seinen Vater anzurufen versucht, erfährt, dass dieser verstorben, die Wohnung inzwischen zwangsgeräumt und die Urne zwangsbeigesetzt ist." Widmann ist Autor eines Buchs über den "Bestattungsvertrag".

Weitere Artikel: Jürgen Kaube zeigt sich im Aufmacher skeptisch, dass sozialdemokratische Träume von einer größeren Gleichheit durch Bildungsreform realisiert werden können - sie scheitern an den demographischen Gegebenheiten hierzulande. Dirk Schümer zitiert in der Leitglosse aus den jüngst veröffentlichten Liebesliedern Silvio Berlusconis: "Wenn du erwachst, bin ich noch hier, um dich zu atmen, dich zu verehren, von dir zu leben." Dirk Schümer schreibt über das von Richtern eingefordert Recht der Schwulen auf Ehe in Massachusetts. Robert von Lucius gratuliert Nadine Gordimer zum Achtzigsten. Joseph Croitoru liest israelische und palästinensische Zeitungen, die sich mit der Mauer und der Siedlungspolitik auseinandersetzen. In der Serie "Wir vom Bundesarchiv" stellt Hartmut Weber einen Brief vor, mit dem Helmut Kohl dem Bundespräsidenten Weizsäcker bestätigte, dass "Einigkeit und Rechung und Freiheit" deutsche Nationalhymne bleiben solle.

Auf der letzten Seite schwärmt Julia Spinola von den "Römerbad Musiktagen" in Badenweiler: "halb ohne Subventionen florierendes Festival für neue Kammermusik, halb Salon - in jedem Falle etwas, was es eigentlich gar nicht mehr geben kann". Alexander Kosenina schildert den ewigen und gerade wieder aufflammenden Streit um eine angemessene kritische Büchner-Gesamtausgabe (ausgetragen wird er unter anderem hier und hier). Und Gina Thomas meldet, dass Archive über die frühen Jahre der Politikerin Margaret Thatcher in Cambridge zugänglich gemacht werden. (Auch im Netz werden Dokumente veröffentlicht).

Auf der Kinoseite wird aus dem vierten Band der Schriften Frieda Grafes ein Briefwechsel der Kritikerin mit dem Regisseur Josef von Sternberg nachgedruckt. Und Michael Althen zeigt sich ergriffen von dem Buch, das Nadine Trintignant über den gewaltsamen Tod ihrer Tochter schrieb und das in Frankreich prächtig läuft.

Auf der Medienseite stellt Stefan Piasecki das arabische Ego-Shooter-Videospiel "Special Force" vor, das den siegreichen Kampf der Araber gegen die Israelis zum Gegenstand hat ("Schüsse peitschen durch die Tafelberge westlich des kleinen Ortes Tallousa im Südlibanon, die schwach vom bläulichen Mondschein erhellt werden") Und Kerstin Holm sieht sich die russische Realityshow "Golod" an, die noch brutaler ist als "Big Brother".

Die FAZ meldet auf den Wirtschaftsseiten auch schon den überraschenden Rausschmiss des Bertelsmann-Aufsichtsrats Gerd Schulte-Hillen.

Besprochen werden eine große Manet-Ausstellung im Prado, wo der Maler erstmals mit seinen Vorbildern Velazquez, Goya und Ribera konfrontiert wird (für Paul Ingendaay grenzt diese Ausstellung schlicht "ans Wunderbare"), Philip Taylors Choreographie "4" (mit sage und schreibe 24 Tänzern) am Münchner Gärtnerplatz, "Tatsächlich . . . Liebe", ein Episoden-Film von Richard Curtis, eine Ausstellung über "Expressionismus und Wahnsinn" in Schloss Gottorf, der sowjetische Satireroman "Die zwölf Stühle" als Musical im Moskauer Palast der Jugend.