Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2003. In der SZ sucht Gustav Seibt ein Mietshaus in Berlin. Die taz beschreibt, wie der amerikanische Philosoph Michael Walzer das Imperium mit Antonio Gramsci erklärt. Die NZZ stellt osteuropäische Autoren in Amerika vor. Die FR trauert um den Abschied des Choreografen William Forsythe von Frankfurt. Die FAZ begutachtet den neuen Kreationsautomaten von Craig Venter.

SZ, 15.11.2003

In der Wochenendbeilage berichtet Gustav Seibt, wie er sich in Berlin nach einem Mietshaus umgesehen hat, das ein Freund vom Starnberger See vielleicht kaufen könnte. Heraus kommt nicht weniger als eine großartige Typenkunde der Westberliner Gesellschaft: "Die Leute zeigen gar nicht ungern ihre Wohnungen; sie reden viel dabei; sie nutzen die Gelegenheit, auf Reparaturbedarf hinzuweisen, auf kleine Schäden, schon um drohenden Mieterhöhungen vorzubeugen. Aber meist bleibt das Jammern behaglich, wie immer in Berlin. 'Wie jehtet?', fragt der Verwalter. 'Es muss', lautet die Antwort, und eine Katze flieht durch den Flur." Wen Seibt so alles kennenlernt, muss man nachlesen, hier schon mal Harry P.: "Erste Treppe rechts: Harry P. und seine Frau Senta. Das ergraute Rentner-Ehepaar lebt seit mehr als zwanzig Jahren in dieser Wohnung. 'Ick weeß nich, wat Se hier zu suchen haben', knurrt er. 'Ick muss Sie nich rinlassen, wa?! Sie wissen ja: Jrundjesetz Artikel 7. Meen home is meen castle. Aber kieken Se nur.'"

Weitere Artikel: Im Interview äußert sich Salomon Korn zur jüngsten Verwerfung in der Mahnmal-Debatte. Julia Encke hat Literatur zu Degesch und Degussa gesichtet. Eine tour d'horizon durchs neueste deutsche Geschichtsbewusstsein unternimmt Christopher Schmidt und kommt am Kino-Wunder von Bern wie dem Fernseh-Wunder von Lengede vorbei, lässt den Traum vom Stadtschloss nicht rechts liegen und hat auch für die "besten Deutschen" des Guido Knopp ein Ohr. Deutsch, sehr deutsch geht es derzeit auch in Tübingen zu, berichtet Ralf Hertel, der sich die dortige Modelleisenbahn-Ausstellung angesehen hat: "Wäre Gott ein Deutscher, dann hätte er die Welt sicherlich so erschaffen wie sie uns in Form der Miniaturlandschaften in H0-Größe entgegentritt: überschaubar und technisch auf dem neuesten Stand." In Hohmanns Heimat Fulda hat sich sich Detlef Essinger umgehört und stellt fest: die Menschen mögen hier schwarz sein, schwärzer geht's nicht - aber braun sind sie nicht. Holger Liebs war mit Architekten Rem Kohlhaas unterwegs in der niederländischen Botschaft, mit der er "Berlin endgültig ins 21. Jahrhundert katapultiert hat."

Die Schriftstellerin Dagmar Leupold liefert ein kleines Feuilleton zum "o" - das den Torschrei der Fußballfans in aller Welt prägt. In der Reihe "Briefe aus dem 20. Jahrhunderts" kommentiert heute Walter Erhart, was Wolfgang Koeppen im Jahre 1980 an Siegfried Unseld schrieb. Eine Studie zur Filmpiraterie in Deutschland stellt Susan Vahabzadeh vor, während Jens Bisky uns erklärt, was der Börsenverein in seinem Gutachten zum Thema Urheberrecht zu sagen hat.. Allerhand Wissenswertes zum Thema Friedhöfe hat Alexander Kissler zum Volkstrauertag zusammengetragen. Vom Beginn der letzten Saison für William Forsythes Frankfurter Ballettkompanie berichtet enthusiastisch Eva-Elisabeth Fischer. Kristina Maidt-Zinke hat in München die konzertante Aufführung von Modest Mussorgskys "Salammbo"-Torso gehört. Reinhard J. Brembeck würdigt den Gambisten und Meistermusiker Jordi Savall, der eine Ehrenurkunde der deutschen Schallplattenkritik verliehen bekommt. Besprochen werden ein wieder entdeckter Kriminalroman von Arnold Bennett und ein Buch übers Nichtrauchenlernen. (Mehr in der Bücherschau des Tages.)

Viel Lesenswertes neben dem Seibt-Artikel in einer randvollen: SZ am Wochenende: Martin Mosebach (mehrerzählt von seiner Reise durch Indien. Kai Strittmatter war in einer außergewöhnlichen Fabrik in Peking: "798. Eine Fabrik im Norden Pekings. Ein Tag im Oktober 2003. In einer der Baracken montieren Arbeiter gerade Karussells zusammen, mit Maschinen der 'VEB-Bohrmaschinen-Fabrik Engelsdorf'. Im Yan-Club bauen ein paar Rapper DJ-Pult und Verstärker für ein Konzert auf." Nikolaus Piper meint , dass die Bürger und Politiker am überkomplizierten Steuersystem hängen wie der Abhängige an der Nadel, ganz egal, was sie behaupten. Dabei wäre das Ende der Sucht wirklich eine feine Sache: "Das Kieler Weltwirtschaftsinstitut hat ausgerechnet, dass sich alle Finanzhilfen und Steuervergünstigungen in Deutschland auf 155,6 Milliarden Euro summieren. Würden sie auf einen Schlag abgeschafft, könnte der Eingangssteuersatz von 21 auf 7,7 Prozent sinken, der Spitzensatz von 51,2 auf 18,8 Prozent." Rainer Stephan macht sich, ganz anderes Thema, Gedanken zur Darstellungskunst von Opernsängern und - sängerinnen, genauer gesagt: deren Fehlen. Zu den Folgen der Wirtschaftskrise draußen im Lande recherchiert Jina Khayyer. Naja, nicht ganz weit draußen: Sie war bei Chanel, Jil Sander & Co in München zu Besuch.

TAZ, 15.11.2003

Der liberale amerikanische Philosoph Michael Walzer macht sich, wie Robert Misik referiert, Gedanken um das amerikanische Imperium: "Wie kann von einem Imperium gesprochen werden, fragt nun der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer im linksliberalen Intelligenzblatt Dissent, wenn mit den USA alliierte Regierungen - wie die der Türkei - den Imperatoren die kalte Schulter zeigen, 'wenn die ganze Welt gegen uns' ist und wenn selbst die Aussichten im Irak 'nicht besonders gut sind, und das nach einem durchschlagenden Sieg in einem ,imperialen' Krieg'?" Beschreibungen der Lage entnimmt Walzer erstaunlicherweise vor allem den Schriften des kommunistischen Theoretikers Antonio Gramsci. "Da gilt plötzlich ebenso, dass der Hegemon umso mächtiger sein wird, je verborgener seine zentrale Rolle ist, je belastbarer die Fäden und Transmissionsriemen, mit deren Hilfe er den Konsens der Geführten organisiert." Der Artikel von Walzer findet sich im übrigen im Netz.

Außerdem: Griechenland hat gerade seinen eigenen Antisemitismus-Skandal. Was es zu bedeuten hat, dass das Nationaldenkmal Mikis Theodorakis sich einschlägig geäußert hat: darüber klärt Niels Kadritzke auf. Oliver Ruf hört Notsignale aus Zürich und gibt sie mit Engagement weiter: Das Robert-Walser-Archiv steht ausgerechnet zum 125. Geburtstag des Dichters vor dem finanziellen Aus. Die "Pinkfloydisierung" von Radiohead schreitet voran, berichtet Arno Frank vom Besuch des jüngsten Konzerts - und beruhigt sogleich: Und sie grooven doch. In einer großen Besprechung schwärmt Oliver Pfohlmann von Karl Corinos monumentaler Robert-Musil-Biografie. Dazu, sowie zu Besprechungen u.a. eines Buches über das Boxen im amerikanischen Getto, die Elendsanalyse von FAS-Redakteuren aus dem Berliner Getto, neuen Büchern von Peter Handke und Gert Maaks Privatgeschichte der Niederlande im 20. Jahrhundert, mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.

Als Aufmacher des tazmag hat Ulrike Winkelmann ein großes Dossier zum Thema Gesundheitssystem zusammengestellt, das sich den Problemen zur Abwechslung einmal tatsächlich von der Seite der Gesundheit aus nähert - und nicht der Krankheit: "Gesund ist, wer noch nicht ausreichend untersucht wurde. Gesund ist, wer gar nicht darüber nachdenkt." Von Kunstsammlern, die lieber nicht so genau wissen wollen, woher ihre Bilder stammen, erzählt Henning Bleyl. Aus Bamako - der Hauptstadt von Mali - berichtet Sandra von Edig: dort findet gerade die afrikanische Fotobiennale statt. (Mehr hier)

Und Arno Frank interviewt die Sängerin Sophie Ellis-Bextor: "Ich bin heute sehr attraktiv, stimmts? Ich war gestern in Paris und habe mich dort komplett neu eingekleidet. Die Ohrringe [lange silberne Klimperdinger] habe ich aus dem Supermarkt. Die Schuhe [weiße gelackte High Heels] sind von Chanel aus den Galeries Lafayette, ebenso die weiße Strumpfhose - das gehört zu meinen Luxussachen. Das Kleid [sehr kurz, dunkelblau mit weißem Kragen und weißen Manschetten] habe ich aus einem Secondhandshop, deshalb sieht man hier (zupft am Ärmel) noch einen Brandfleck von einer Zigarette."

Schließlich Tom.

NZZ, 15.11.2003

"So amerikanisch hat man den Osten, so östlich Amerika selten gesehen", feiert Andreas Breitenstein im Aufmacher der Beilage Literatur und Kunst zwei Schriftsteller, deren Namen man sich unbedingt merken sollte: Gary Shteyngart ("Handbuch für den russischen Debütanten") und Aleksandar Hemon ("Nowhere Man"). Beide sind jung in die USA eingewandert, der eine aus Russland, der andere aus Bosnien. "Gemeinsam ist ihnen die Stunde der Wiedergeburt, das Öffnen der Augen und das Zögern vor der Sprache. Der Schriftsteller im Exil blickt der Zukunft entgegen durch die 'beschlagene Windschutzscheibe der Erinnerung'. Es ist die Fremdheit vor sich selbst, die seinen Eigensinn ausmacht. Ohne sie ist er nichts."

Der iranische Schriftsteller Faraj Sarkohi zeigt in einem lesenswerten Überblick zu neuerer iranischer Literatur, wie sich Frauen mehr und mehr Anerkennung als Autorinnen erkämpfen und sich dabei auch nicht scheuen, das im Persischen verpönte Personalpronomen "ich" zu benutzen.

Weitere Artikel: Urs Gösken führt uns in die Kunst der islamischen Kalligraphie und ihre religöse Bedeutung ein: "Das Göttliche an Gottes Botschaft liegt nach islamischer Auffassung ebenso in deren Inhalt wie in deren Form oder, anders ausgedrückt: Im Hinblick auf Gottes Botschaft erweist sich die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt überhaupt als gegenstandslos." Oliver Ruf erinnert an Hugo Ball und das Cabaret Voltaire.

Im Feuilleton: Im Gespräch mit Paul Jandl fürchtet der Wiener Schriftsteller Robert Schindel (mehr hier) zwar nicht, dass der Antisemitismus stärker wird, aber, "dass er sich freimütiger äußert: Die Tabuisierung ist durchlöchert." Uwe Justus Wenzel fürchtet mit den jüngsten Vorstößen in Deutschland, den Embryonenschutz zu lockern, eine Relativierung der Menschenwürde.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Serge Brignoni in der Villa dei Cedri in Bellinzona, eine weitere Ausstellung zu Meister Eckhart in Erfurt und Bücher, darunter Briefe Nikolai Gogol, Iwan Bunins Novelle "Ein unbekannter Freund" und ein Nachschlagewerk zu Oskar Kokoschka (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 15.11.2003

Melancholie in Frankfurt am Main, das seiner Zukunft als ehemaliger Ballett-Weltstadt entgegensieht. William Forsythe und sein Ensemble beginnen die letzte Saison mit einem vierteiligen Abend, Sylvia Staude war dabei. Vor dem Theater Proteste, im Theater Trauer: "Der Applaus brandet an diesem Abend lange ins Dunkel. Als Licht wird, haben die Tänzer bereits Jacken, Mäntel, Schals angezogen. Richard Siegal dankt im Namen des Balletts für die jahrelange Unterstützung und sagt: Wir lieben euch. Und während das Publikum noch mit seiner Rührung kämpft, steigt das Ensemble schnell hinunter in den Zuschauerraum, um noch ein paar Flugblätter zu verteilen."

Weitere Artikel: Als möglichen Abschied von "deutschen Reinheitsgeboten" interpretiert Christian Schlüter die Entscheidung in Sachen Holocaust-Mahnmal und Degussa. Ein liebevolles Porträt des liebevollen Musiksammlers und Bear-Family-Labelbetreibers Richard Weize hat Udo Feist anlässlich der Verleihung des Preises der deutschen Schallplattenkritik verfasst. Marina Meister war auf Paris Photo unterwegs - der "führenden Fotomesse weltweit". Mit reichlicher Verspätung, weiß Jens E. Sennewald zu berichten, hat man gerade in Paris die Künstlerin Valie Export entdeckt: der Begeisterung tut es keinen Abbruch. (Website der Ausstellung). Christoph Schröder würdigt die russische Journalistin Anna Politowskaja, die die Hermann-Kesten-Medaille verliehen bekommt.

Und zum Schluss noch ein saftiger Metaphernkuchen, den laut einer kurzen Meldung unser kulturbeflissener Bundespräsident zusammengerührt hat: "'Die Finanzierung von Theater und Oper ist eine öffentliche Aufgabe und das muss so bleiben, Theater muss sein!', betonte Rau. Kultur sei 'nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig'. Wer das nicht verstehe, 'bekommt am Ende die falschen Backwaren.'"

FAZ, 15.11.2003

Mit dem Einschluss der Degussa und dem Ausschluss von Martin Hohmann, hat Deutschland eine denkwürdige Woche hinter sich gebracht, glaubt Patrick Bahners. Von Wolfgang Thierse sieht er nahezu totalitäres Gedankengut verbreitet, weil dieser nicht die Bundesrepublik, sondern die deutsche Gesellschaft zum Bauherren des Mahnmals erklärte und damit angeblich die Volksgemeinschaft wiederbelebte. Noch schlimmer findet er aber, dass Hohmann die Einzigartigkeit des Holocausts nicht in Abrede stellen durfte.

Weitere Artikel: Mit seiner Bakteriophage PhiX174 hat Craig Venter zwar noch nicht wirklich Leben geschaffen, nur einen Virus, stellt Christian Schwägerl klar, doch wenn sei Verfahren, Gen-Bausteine aneinander zu reihen, funktioniert, dann hat er immerhin den Prototyp eines Kreationsautomaten geschaffen. Andreas Platthaus spottet über den "Konvent für Deutschland", in dem alte Schlachtrösser wie Roman Herzog, Peter Glotz und Jutta Limbach die Zukunft Deutschlands entwerfen sollen. Robert von Lucius feiert die Rückkehr von Albrecht Dürers "Johannes"-Gemälde nach Bremen. In den Augen von Wiebke Hüster hat Choreograf William Forsythe der Stadt Frankfurt noch einmal gezeigt, was sie an ihm verlieren wird: Jemanden, der die Zeit still stehen lassen konnte - und zwar in der Luft. Eduard Beaucamp gratuliert dem Kunstkritiker Peter Gorsen zum siebzigsten Geburtstag.

Till von Rahden erinnert an den 30 Juli 1959, als Verfassungsrichterin Erna Scheffler lächelte: An dem Tag entmachtete das Gericht - mit seinem Urteil zum väterlichen Stichentscheid - den Patriarchen. Werner Spies befasst sich mit Max Ernsts großem Bild der Erinnerung "Vox Angelica".

Besprochen werden Van Morrisons "triumphales" Konzert in Hamburg, ein Swing-Abend mit Max Greger, Paul Kuhn und Hogo Strasser, die zusammen immerhin 233 Jahre auf die Bühne gebracht haben, eine Ausstellung von Lois und Franziska Weinberger im Kunstverein Hannover, neue Platten von Al Green und Oi Va Voi, eine Londoner Band, die Klezmer mit House, ungarischen, usbekischen, armenischen und jemenitischen Elementen verbindet, und Bücher, darunter Jachym Zopols Roman "Nachtarbeit", John Garris' Fotografien amerikanischer Landschaften und das Hörbuch des Jahres: "Klaus Kinski spricht Werke der Weltliteratur" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).