Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2003. Loriot wird heute achtzig. In der FAZ gratuliert F. W. Bernstein, in der Welt Martin Mosebach, und alle anderen schreiben auch sehr schön. In der FAZ analysiert Alain Finkielkraut den Antisemistismus der Globalisierungsgegner. In der SZ huldigt Hannelore Schlaffer der schamhaft schönen Stadt Stuttgart. Die FR fragt sich, wie Martin Hohmanns Äußerungen von unseren ach so wachsamen Medien wochenlang ignoriert werden konnten.

FAZ, 12.11.2003

Heute beginnt in Paris das Europäische Sozialforum, bei dem sich die in Frankreich unter dem seltsamen Etikett der "Altermondialisten" laufenden Globalisierungsgegner treffen. Sie haben unter anderem den Genfer Islamisten Tariq Ramadan eingeladen, der "die jüdischen Intellektuellen" für die Probleme der Weltlage mitverantwortlich macht. In einem Interview mit Jürg Altwegg analysiert Alain Finkielkraut den neuen Antisemitismus von links. "Es ist den Altermondialisten gelungen, den kritischen Diskurs über die Globalisierung zu monopolisieren. Ich halte das für die große Katastrophe unserer Zeit. Sie akzeptieren einen Antisemitismus, von dem sie glauben, dass er die neuen Verdammten dieser Erde verteidigt. (...) Sie sind die ersten, die laut protestieren, wenn es um Antisemitismus geht, der von der neofaschistischen Rechten kommt. Der rechtsextreme Antisemitismus, der rassistische Antisemitismus hat in Europa keine Zukunft. (...) Gefährlich ist der Antisemitismus der Wachsamen, der Antifaschisten. Er hat, so fürchte ich, bei den Globalisierungsgegnern eine große Zukunft vor sich. Sie haben den Judenstern durch das Gleichheitszeichen zwischen Hakenkreuz und Davidsstern ersetzt." (Hier der von Finkielkraut angesprochene Text Ramadans über die "jüdischen Intellektuellen", hier ein Interview mit dem "Muslim Martin Luther" aus Salon.)

F. W. Bernstein von der Frankfurter Schule gratuliert Loriot zum Achtzigsten - und erinnert sich, wie er Loriot schon einmal gratulierte: "Ich durfte einen Beitrag liefern zu einer Geburtstagsfestschrift für Loriot. Es war zu seinem Sechzigsten. Später, an einem Nachmittag, wir hatten Freunde zu Gast, Telefon: 'Hier v. Bülow; spreche ich mit Herrn Bernstein?' Loriot bedankte sich für meinen Geburtstagsgruß, meine Aufregung löste er in kollegiale Plauderei. 'Wer hat angerufen?' fragten die Freunde. 'Loriot', sagte ich. 'So, so! Natürlich! Loriot! Wer sonst wird dich am hellen Nachmittag anrufen.' Keine Chance, bei der Wahrheit zu bleiben."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube glossiert die Meldung, dass der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone eine Auszeichnung des Scientific American erhalten, weil er nachwies, dass man den Autofahrern fünf Pfund für das Befahren der Innenstadt abknöpfen kann, ohne die Gesellschaft zum Einsturz zu bringen. Patrick Bahners liest Martin Hohmanns Verstoßung als "Lehrstück über Grundwerte". Rene Aguigah resümiert einen von einer Initiative namens DemoPunK ("Verein zur Förderung demokratischer Politik und Kultur") organisierten Frankfurter Kongress über das weitere Potenzial des Kommunismus. Kerstin Holm meldet, dass die Räume der Soros-Stiftung "Open society" in Moskau verwüstet wurden. Wolfgang Sandner gratuliert dem Saxofonisten Charlie Mariano zum Achtzigsten. Ulrich Olshausen bilanziert das Berliner Jazzfest. Ilona Lehnart fürchtet, dass die Nofretete aus dem Ägyptischen Museum in Berlin zeitweise wird umziehen müssen, um Platz für die jüngst gestiftete Surrealisten-Sammlung von Dieter Scharf zu schaffen.

Auf der letzten Seite annonciert Hubert Spiegel ein Literaturmuseum der Moderne, das in in der Schiller-Stadt Marbach eröffnet werden soll. Martin Thoemmes berichtet von einem ökumenischen Gottesdienst zur Erinnerung an drei katholische und einen evangelischen Geistlichen, die vor sechzig Jahren in Lübeck hingerichtet wurden. Und Dieter Bartetzko erinnert an Walther von der Vogelweide, über den eine einzige verbürgte Urkunde existiert - die heute vor achthundert Jahren erstellt wurde.

Auf der Medienseite gibt Michael Hanfeld zu bedenken, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen in ihrem Übermut die von drei Bundesländern angedrohte Reform selbst selber zuzuschreiben haben. Und Jürg Altwegg analysiert die Hassliebe zwischen den Schweizer Medien und dem siegreichen Rechtspopulisten Christoph Blocher.

Besprochen werden ein Konzert der kanadischen Country-Sängerin Suzie Ungerleider, alias Oh Susanna, Catherine Hardwickes Debütfilm "Thirteen", John Crankos Choreografie des "Eugen Onegin", getanzt vom Ballett der Berliner Staatsoper und zwei Inszenierungen des "Titus Andronicus" in Paris.

FR, 12.11.2003

Burkhard Müller-Ullrich ist froh, dass der Martin Hohmann jetzt, nachdem der Skandal bekannt wurde, so schnell aus seinem Amt entfernt wurde. Warum aber, fragt er sich, hat es so lange gedauert, bis er bekannt wurde? Hohmanns skandalöse Äußerungen brauchten "fast einen Monat, um im Zeitalter der globalen Massenkommunikation ihren Weg vom Biertisch eines Vereinslokals im Raum Fulda bis zu den Redaktionsräumen des Hessischen Rundfunks in Frankfurt zu nehmen. Das heißt, ein deutscher Bundestagsabgeordneter kann in aller Öffentlichkeit monströse Dinge sagen ... und einen Monat lang passiert gar nichts."

Weitere Artikel: Tim Gorbauch berichtet vom Berliner JazzFest. Steffen Richter hat beim Literatur-Wettbewerb Open Mike ein "qualitativ hochwertiges Wettlesen" gehört. Hans-Jürgen Linke gratuliert Charlie Mariano, "Jazzveteran und Vater der Weltmusik", zum Achtzigsten. In Times Mager verkündet Adam Olschewski: Grips ist geil. Georg Diez grübelt über die Wiederkehr des Wunders (Lengede, Bern). Gemeldet wird schließlich, dass der Ernst-Toller-Preis 2004 an Juli Zeh verliehen wird.

Besprochen werden der Dokumentarfilm über Jacques Derrida, eine Ausstellung der für den Turner-Preis nominierten Brüder Chapman in der Saatchi Galerie und Bücher, darunter Raphael Urweiders Gedichtband "Das Gegenteil von Fleisch" und Oleg Postnows Roman "Angst" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 12.11.2003

Die taz stand heute morgen noch nicht im Netz, wir fassen deshalb unverlinkt zusammen: 
Sabine Leucht hat beim Münchner Theaterfestival Spielart entdeckt, dass "der einsame Mensch" neben den "omnipräsenten technischen Bildern" wieder wichtig wird. "Wenn ein Künstler wie Johan Lorbeer im 'Proletarischen Wandbild' waagerecht aus einer Wand ragt oder bei Katarzyna Kozyras Installation 'The Rite of Spring' betagte Nackte die Geschlechter tauschen, fragt man allenfalls nach dem Wie."

Jan Brandt erzählt die Geschichte des polnischen Künstlers Bruno Schulz, der im ukrainischen Drohobycz von SS-Offizieren gezwungen wurde, Fresken für deren Villen anzufertigen. Im Jahr 2001 hatten Mitarbeiter der Gedenkstätte Jad Vashem in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Fresken abgelöst und nach Jerusalem geschafft. Christian Semler dankt dem Historiker Ulrich Herbeck, der einiges Material gegen den "antisemitischen Obskurantismus" a la Hohmann zutage gefördert hat.

Schließlich Tom.

NZZ, 12.11.2003

Franz Haas stellt einen Fall von "Nymphchenliteratur" vor: Die 17-jährige Melissa P. hat in Italien bereits mehr als eine halbe Million Exemplare ihres erotischen Tagebuchs "Hundert Bürstenstriche vor dem Schlafengehen" verkauft. Das wundert unseren Kritiker sehr, der die "verschwitzten Phantasien, die mehr nach einem gewieften Manager riechen als nach einem sizilianischen Backfisch", nicht genossen hat.

Weitere Artikel: "Was hat Harry Potter James Bond voraus?", fragt sich Roman Bucheli angesichts des neuerschienenen fünften Bandes und gibt gleich die Antwort: Mit Potter könne der Leser älter werden. Besprochen werden Leander Haussmanns Verfilmung des "Kultbuchs" "Herr Lehmann" (hier), bei der es "so manchen bierseligen Durchhänger" zu beschauen gibt, die zweigeteilte Bernhard-Luginbühl-Schau im Kunstmuseum Bern und im Tinguely-Museum Basel, wo sich der Künstler mit seinen Großplastiken zu "musealer Salonfähigkeit zähmen" musste, die Ausstellung Sam Taylor-Woods in der Bawag Foundation in Wien, und Bücher, darunter der dreizehnte Band der kritischen Gesamtausgabe der Werke Jacob Burckhardts, der 45 Vortragstexte aus den Jahren 1870-1892 widergibt (hier) und Arnold Stadlers Roman "Eines Tages, vielleicht auch nachts" (hier) (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 12.11.2003

Der Schriftsteller Martin Mosebach singt ein Geburtstagsständchen zum Achtzigsten von Victor von Bülow alias Loriot: "Wer ein Staatswesen nach seinen Satiren beurteilen wollte, müsste bei Betrachtung der Loriot-Cartoons und beim Anhören von Loriot-Dialogen zu dem Schluss kommen, die Bundesrepublik sei von Anmut und liebenswürdiger Absurdität, von Poesie also, erfüllt gewesen. Sanfte Intelligenz und behagliche Selbstverspottung hätten zu den Gnadengaben ihrer Bewohner gehört. Loriot ist ein deutsches Wunder. "

SZ, 12.11.2003

Die Germanistin Hannelore Schlaffer huldigt einer "schamhaften Schönen", der Kulturstadt Stuttgart, die nur Unwissende - oder die Stuttgarter selbst - für biedere Provinz halten könnten: "Die Verbindung eines bürgerlichen Liberalismus mit dem württembergischen Pietismus charakterisiert bis heute die Einstellung des Publikums zur Kunst. Aus einem inzwischen vielleicht unzeitgemäßen Respekt vor dem künstlerischen Werk heraus verpflichtet es sich, seine Darstellung, und sei sie noch so gewagt, ohne Vorurteil zur Kenntnis zu nehmen. Das Gemütliche und Gewohnte langweilt die Stuttgarter; den radikalen Bruch mit der Konvention hingegen akzeptieren sie, sofern er mit Anstrengung betrieben wird und von Ernst getragen ist. Avantgardistische Inszenierungen vertreiben hier nicht das Publikum, sondern ziehen es an. Die Begeisterungsfähigkeit aber wird vom Pflichtgefühl regiert, das sich vom bloßen Experiment und seinem spektakulären Auftritt nicht täuschen lässt."

Weitere Artikel: Wolf Lepenies sieht die amerikanische Strategie der erzwungenen Demokratie im Irak scheitern. Lothar Müller wünscht sich statt Abwehrzauber gegen die historischen Thesen eines Martin Hohmann bessere Bücher. Hans Leyendecker empört sich darüber, dass "die Linke" vor der Kunstsammlung des "Steuerflüchtlings" Friedrich Christian Flick in die Knie geht: "Ein Enkel wäscht den Namen Flick rein und Sozialdemokraten klatschen artig Beifall." Nach einer deutsch-tschechischen Konferenz zur Vertreibung steigt in Christian Jostmann der Verdacht auf, dass das Thema zu heikel ist, als dass sich die große Politik darum kümmern dürfte. Julian Nida-Rümelin beklagt die mathematische Ignoranz der Deutschen, an der nun auch praktikable Steuerreformen zu scheitern drohen. Ralf Dombrowski hat beim Jazzfest Berlin bemerkt, dass der Trend zur Trendlosigkeit geht. Kristina Maidt-Zinke war beim Spatenstich für das Literaturmuseum der Moderne in Marbach.

Außerdem zu lesen ist ein Auszug aus Franziska Sperr Romanbiografie über die wilde Gräfin Franziska zu Reventlow.

Auf der Medienseite berichtet Hans-Jürgen Jakobs vom Ende der Talkshows bei N-TV: "Der Grüne Salon" und "Talk in Berlin" werden zum Ende des Jahres abgeschaltet, Sandra Maischberg bleibt erstmal.

Besprochen werden Peter Brooks Inszenierung des Briefwechsels zwischen Tschechow und Olga Knipper in Paris, eine Schau mit Patti-Smith-Porträts in der Münchner Pinakothek der Moderne, Andrew Davis' Film "Das Geheimnis von Green Lake" und Bücher, darunter Philip Roths Roman "Der menschliche Makel" als Hörbuch und und Loriots Kleiner Opernführer (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).