Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2003. In der NZZ fragt Ulrich Beck nach Identitäten im Zeitalter der Mediengesellschaft. Die FAZ stellt klar: Es ist in Russland fast unmöglich, nicht korrupt zu sein. Die FR gibt Auskunft über die Subtilität des arabischen Verlagswesens. Die taz fragt: Quo vadis, Kommunismus? Nach Aufkunft der SZ erfreuen sich die Dead White Males unverhoffter Vitalität.

NZZ, 10.11.2003

Der Soziologe Ulrich Beck macht sich im Zuge der UN-Weltkonferenz zu Informationsgesellschaften (WSIS) in Genf in einem ganzseitigen Artikel Gedanken über Identitäten im Zeitalter der Globalisierung: "Wir können uns nicht damit zufriedengeben, Milliarden von Ratlosen nur die Wahl zwischen einem übertriebenen Beharren auf ihrer Identität (Fundamentalismus) und der Preisgabe ihrer Identität (sozusagen kulturellem Selbstmord) zu lassen - darauf aber läuft das vorherrschende Verständnis von Identität hinaus. Wenn die Zeitgenossen nicht dazu ermutigt werden, die Buntheit der Traditionsfäden zu erkennen und zu bejahen, die in ihre eigene Identität eingewoben sind, wenn sie nicht schätzen lernen, wie weit die verschiedenen Kulturen - im Essen, Musikhören, Fussball... - längst zum integralen Bestandteil ihres eigenen Lebens geworden sind, dann sind wir auf dem besten Wege, das Gefühl der Heimatvertriebenheit zu universalisieren - mit allen dann 'natürlichen' Hass- und Gewaltausbrüchen."

Weitere Artikel: In der Serie "Kulturszene Frankreich" stellt Marc Zitzmann diesmal einen  Verleger vor: Paul Otchakovsky-Laurens, Leiter des P.O.L.-Verlags: "Es interessiert mich nicht", erklärt Otchakovsky-Laurens, "Bücher zu veröffentlichen, die einem bekannten Schema entsprechen. Was mich in erster Linie anspricht, ist die Neuheit der Form und der Sprache. Kann ich die Sprache eines Textes 'hören', bin ich auch gewillt, ihn zu veröffentlichen - egal, ob es sich dabei um sogenannte Avantgarde handelt, um einen scheinbar klassischen Kriminalroman oder um eine auf den ersten Blick traditionelle Erzählung." Und Sieglinde Geisel spürt dem Bedeutungswandel des Begriffs "Dissidenz" nach.

Besprochen werden Mozarts Oper "Lucio Silla" in Luzern und die Ausstellung "The Asymptote Experience" im Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam, die dem in New York praktizierendem Architektenteam Asymptote, deren Gründer Rezesent Hubertus Adams uns als "die führenden Theoretiker und Protagonisten des digitalen Entwerfens" vorstellt.

SZ, 10.11.2003

Der konservative US-Publizist Charles Murray erstellt gerne Listen. Über Sozialhilfe, Ungleichheit, den geringen Intelligenzquotienten seiner schwarzen Mitbürger oder - in seinem neuen Werk - kulturelle Weltbestleistungen. Europa kommt erstaunlicherweise gut weg, bemerkt Ulrich Raulff im Aufmacher. "Insgesamt geht die wissenschaftliche Höchstleistung der Menschheit zu 97 Prozent auf Europäer und Nordamerikaner zurück. Frauen bringen es über alle Listen hinweg auf einen Gesamtanteil von 2 Prozent, was Murray mit historischen und rechtlichen Hindernissen, aber auch mit dem Leistungsdruck der Männer, die ihre Gebärunfähigkeit zu kompensieren suchen, in Verbindung bringt. In summa: So lebendig haben die Dead White Males lange nicht mehr ausgesehen."

Weitere Artikel: Louise Brown stellt den töpfernden Transvestiten Grayson Perry vor, der in diesem Jahr für den Turner-Preis nominiert wurde. Thomas Urban weiß, warum eine in Polen zum Verkauf stehende Kirche nun doch kein Bordell werden wird. Christopher Keil fragt sich, warum die "Autobiografie" von Boris Becker so betulich ernst ist ("Er ist doch ein Held"). Eine kleine Einführung in die Binnenstruktur des Hausmusik-Labels gibt Jörg Schallenberg anlässlich des alljährlichen Hausfestivals.

Tobias Rüther scheint sich auf der großen Harry-Potter-Nacht im Filmpark Babelsberg gelangweilt zu haben. Etwas aufgeregter fragt sich Roswitha Budeus-Budde, ob Potter die Jugend gefährdet. Stefan Koldehoff ärgert sich nur ein wenig, dass Berlin den Zuschlag für die Surrealismus-Sammlung des Hamburger Kunstsammlers Dieter Scharf erhalten hat. Eine Meldung informiert über den andauernden Streit um die Beteiligung der Degussa am Bau des Holocaust-Mahnmals in Berlin, worüber "ff" in seinem Kommentar nicht nur den Kopf schütteln kann.

Auf der Medienseite spottet Willi Winkler über die ZDF-Besten-Suche, während haho sich leicht genervt zu Thomas Gottschalk im Reichstag äußert. Christiane Kohl porträtiert die italienische ARD-Korrespondentin Franca Magnani (mehr).

Besprochen werden eine Ausstellung zu Lyonel Feiningers bisher vernachlässigten Karikaturen und Cartoons in Hamburg, Stefan Tolz' Film "Am Rande der Zeit" von den Männerwelten des Kaukasus, Amy Ziering Kofmans und Kirby Dicks amerikanischer Filmessay "Derrida" zur französischen Dekonstruktion, die Uraufführung von Igor Bauersimas zähem Kannibalen-Diskurs-Stück "69" in Düsseldorf, ein atmosphärisch beglückender Konzertabend mit dem br-Symphonieorchester unter Udo Zimmermann, und Bücher, darunter Jürgen Theobaldys gut geschriebener Genre-Roman "Trilogie der nächsten Ziele", Simone Dietz' differenzierte Untersuchung der "Kunst des Lügens" sowie das wichtigste Russland-Buch der vergangenen Jahre, Alexander Jakowlews Autobiografie "Die Abgründe meines Jahrhunderts" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 10.11.2003

Auf einer der drei großen Buchmessen im Libanon ist Andrea Nüsse im Parkhaus der Bürgerkriegsruine des Holiday Inn herumgeschlendert und notiert Interessantes über den schwierigen Handel mit Büchern im arabischen Raum. "Der libanesische Verleger Bashar Chebaro, der Kochbücher von Gräfe und Unzer, medizinische Ratgeber und die gesamte Literatur von Microsoft übersetzt, hat sich daran gewöhnt, von vielen Werken zwei Versionen zu drucken. In Saudi-Arabien verkauft er 50 Prozent seiner Ware. Er muss Rücksicht nehmen, aus der amerikanischen Medizin-Ratgeberserie Mayo Clinic müssen schon einmal Zeichnungen von Frauenbrüsten getilgt werden."

Michael Rüsenberg tummelt sich auf der Europe Jazz Odyssey in Köln und genießt die Instrumental-Artisten, auch aus Norwegen. Petra Kohse nutzt Times Mager, um eine emanzipatorisch-lebensfrohe Kleiderkaufszene zu schildern. Eine Meldung wert ist die Zuversicht der Kulturstaatsministerin Christina Weiss bezüglich der Abstimmung zum Filmförderungsgesetz und die Kritik des NRW-Musikrates an den Sparplänen im Haushaltsentwurf der Landesregierung.

Auf der Medienseite stellt Uwe Ebbinghaus für die Suche nach dem besten Deutschen im ZDF die Formel auf: " Guido Knopp mal Bild-Zeitung geteilt durch den angenommenen Intelligenzquotienten der Zuschauer". Lasse Ole Hempel dagegen kündigt eine neue Imagekampagne von Arte an.

Besprochen werden die Uraufführung von Igor Bauersimas Krimi "69" im Düsseldorfer Schauspielhaus und Bücher, nämlich der Bericht "Palästina" von Norman G. Finkelstein, Bücher zu Programm und Karriere von Jutta Limbach sowie ein Sammelband mit Positionsbestimmungen der aktuellen feministischen Theorie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 10.11.2003

Kommunismus, quo vadis?, fragten sich besorgte Fachmänner und -frauen auf einem Kongress in Frankfurt. Recht gelassen schildert Tobias Rapp die offensichtliche Orientierungslosigkeit der Debattierenden, und freut sich über den "wunderbaren Kessel Linkes, der zwar von einigen Fragen durchzogen wurde - radikale Demokratie oder Kommunismus?, wie stehts eigentlich mit dem Verhältnis von Kultur und Politik?, was geht gerade so in Identitätsphilosophie und Postkolonialismus?, sollten wir nicht irgendwas tun? -, aber auf den ersten Blick etwas leicht Beliebiges hatte. Man nehme einen provokanten Begriff, lade alle möglichen Leute ein und lasse sie was dazu erzählen."

Der rote Faden für gleich drei Ressorts aber ist das Thema Migration: Der Grüne und Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir (Porträt) äußert sich auf der Tagesthemenseite gegenüber Stefan Reinecke nicht nur zu den pikanten "Letzter Ali"-Äußerungen (Hintergrund) des CDU-Bundestagskollegen Henry Nitzsche, sondern auch zu Einwanderung und Integration überhaupt. " Es stimmt aber auch, dass die Migranten in Deutschland es nicht geschafft haben, eine Generation von Führungspersönlichkeiten hervorzubringen".

Migrationsexperte Rainer Ohlinger erklärt Edith Kresta im Feuilleton kurz, warum Deutschland ein Migrationsmuseum braucht. Politikprofessor Christoph Butterwegge ergänzt im Gespräch mit Sebastian Sedlmayr, warum die Migration in den Medien so schlecht wegkommt. Und Detlef Kuhlbrodt verrät, wie man als Raucher die störenden Gesundheitshinweise umgehen kann (etwa so).

Auf der Medienseite hat sich Silvia Helbig bei den nominierten, aber reisefaulen Seed zum MTV-Movie-Awards-Gucken in Berlin-Friedrichshain eingeladen. In seiner Kolumne fragt sich Christoph Schultheis, wie viel hinterlistiges Product-Placement im ZDF eigentlich noch Platz hat.

Schließlich Tom.

FAZ, 10.11.2003

Die Oligarchen mögen durch Korruption zu ihrem Reichtum gelangt sein, schreibt Kerstin Holm in einem Stimmungsbericht aus Russland nach der Verhaftung des Ölmilliardärs Chodorkowski - allerdings hätten sie auch gar nicht anders vorgehen können: "Man kann gelegentlich von Geschäftsleuten hören, dass die minuziöse Erfüllung aller Vorschriften russischen Behörden oft nicht die erwartete Freude bereitet, sondern zu besonders aggressiven Kontrollen führen kann. Denn so gibt man den Staatsdienern zu verstehen, sie sollten sich auf Verwaltungsaufgaben beschränken und sich mit ihren Bezügen begnügen. Der Beamte fühlt sich dadurch herabgesetzt. In seinen Augen ist der Begüterte zum Aderlass verpflichtet."

Weitere Artikel: Christian Schwägerl zitiert in der Leitglosse einen Artikel aus dem Journal de Montreal, wonach die Raelianer-Sekte sich kürzlich darüber amüsierte, wie sie die Weltöffentlichkeit mit der Meldung, sie hätten ein Kind geklont, für ihre Zwecke einspannte. Jürgen Kaube berichtet über die Verleihung der Balzan-Preise - unter anderem an Eric Hobsbawm - im Parlament von Bern. Oliver Jungen gratuliert dem Historiker Heinz Duchhardt zum Sechzigsten.

Auf der letzten Seite erinnert Martin Thoemmes an drei katholische und einen evangelischen Geistlichen, die sich in Lübeck den Nazis widersetzt und vor sechzig Jahren hingerichtet wurden. Niklas Bender schreibt ein Profil des französischen Autors Philippe Besson (Homepage), auf dessen Roman "Son frere", der neueste Film von Patrice Chereau beruht. Jürgen Kaube zitiert neueste Forschungsergebnisse, wonach die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft) in der Nazizeit viel prächtiger blühte, als sie nach dem Krieg zugab.

Auf der Medienseite unterhält sich Majid Sattar mit dem Ha'aretz-Verleger Amos Schocken. Und Ulrich Friese meldet, dass der Independent in dem Tabloid-Format wesentlich besser ankommt als zuvor.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Künstlergruppe "Macchioli", die im Anschluss an die französische Malerei die italienische Malerei des 19. Jahrhunderts erneuern wollte, in Padua, Raymond Depardons Reisefilm über die Sahara "Vom Westen unberührt", das Stück "69" von Igor Bauersima in Düsseldorf, eine Ausstellung mit Originalzeichnungen der "Peanuts" im Troisdorfer Bilderbuchmuseum, das "Stuttgarter Hutzelmännchen" von Eduard Mörike in der Bühnenfassung von Felix Huby in Stuttgart, Fromental Halevys Oper "La juive" in New York und einige Sachbücher, darunter Orlando Figes' russische Kulturgeschichte "Nataschas Tanz".