Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2003. Die FAZ analysiert die bittere Reizung des Bertelsmannkonzerns. In der NZZ feiert Alexander Kluge das Trägheitsmoment des Guten. Die FR beschreibt die out-of-body experience von Peter Eisenmans Holocaust-Mahnmal. In der taz erklärt Stuart Piggott, warum große Weine nicht nur im Bordeaux produziert werden können. Die SZ war bei der Gerichtsverhandlung über Alban Nikolai Herbsts Roman "Meere".

FAZ, 25.10.2003

Gerhard Stadelmaier charakterisiert in einem seiner berühmten, höchstens zwanzigzeiligen Kurzverrisse Sebastian Nüblings Basler "Lear"-Inszenierung: "Ringelpiez, Purzelbaum, Nacktrennen, Frühstücksfolter, Augenausbeißen, Beziehungskistenwerfen, Schlüpferschnellwechsel und Blutspucken feiern. Und auch nie zu Shakespeare vordringen."

Hannes Hintermeier analysiert die Marktmacht des Bertelsmannkonzerns, der von Verlag bis Vertrieb und Club alle Glieder der Verwertungskette in der Hand hat. Und er zitiert den Hanser-Chef Michael Krüger, der immer gern auf Bertelsmann schimpft: "'In dieses System werden nun die großen Knödel eingespeist', beschreibt Krüger die Vermarktung von Prominenten wie Bohlen, Küblböck oder Becker. Eine 'bittere Reizung' diagnostiziert Krüger jetzt schon, die sich zu einem 'Mörderkampf' zwischen Weltbild und Bertelsmann auswachsen könne. Andere Medienkonzerne hätten das Nachsehen, weil sie zu lange verkannt hätten, welche Macht Bertelsmann mit dem geschlossenen Kreislauf akkumuliert habe."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg berichtet in seiner französischen Zeitschriftenschau, dass der Niedergang Frankkreichs das große Thema der Saison ist und zitiert einen schönen Satz von Pascal Bruckner zum Thema: "Nie ist das Leben angenehmer als in einem Land im Niedergang, wenn die gebremste Vitalität mit der süßen Pflege seiner Traditionen kompensiert wird." Thomas Meinecke, ein bekannter Autor des Suhrkamp Verlags, kritisiert die jüngste Berichterstattung über seinen Verlag und die Gedenkfeier, die er bei der Buchmesse für Siegfried Unseld ausrichten ließ, sowie die Polemiken gegen Unselds Witwe Ulla Berkewicz, die das Haus seit jüngstem leitet. Edo Reents meditiert in der Leitglosse über die Tatsache, dass eine Rockband die Decke der Siegerland-Halle so gut wie einstürzen ließ - und zwar nur durch Lärm. Jordan Mejias meldet, dass die New Yorker Philharmoniker nun doch nicht in die Carnegie Hall zurückziehen. Oliver Tolmein glaubt, dass der Fall der Terri Schiavo, die in Florida nach einem Gerichtsbeschluss trotz ihres Wachkomas weiter künstlich ernährt wird, auch für die Praxis in Deutschland lehrreich sein könnte. A. H. meldet, dass der Palais de Tokyo in Paris erweitert werden soll. Andreas Rossmann meldet, dass in Düsseldorf eine Robert-und-Clara-Schumann-Gedenkstätte eingerichtet wurde.

In den Überresten von Bilder und Zeiten schreibt Gina Thomas zum hundertsten Geburtstag von Evelyn Waugh. Und Mark R. Cohen, Professor für Nahost-Studien und jüdische Geschichte an der Princeton University nimmt den Mythos der konfessionellen Toleranz im mittelalterlichen muslimisch beherrschten Spanien unter die Lupe.

Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Intendant Jobst Plog von der ARD, der eine Gebührenerhöhrung fordert: Schließlich "subventionieren (wir) etliche Kulturbereiche." (Und wenn die ARD auf die Kultur verzichtet, könnten wir uns dann auch die Erhöhung sparen?) Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um das Violinkonzert von Erkki-Sven Tüür mit Isabelle van Keulen, um eine CD des unermüdlichen Elvis Costello, um Neueinspielungen des Komponisten Ernö Dohnanyi, um die brasilianische Popmusikerin Marisa Monte und um eine Jazzplatte mit Emmanuel Pahud, dem Soloflötisten der Berliner Philharmoniker.

Besprochen werden der Director's Cut von "Alien", eine Ausstellung mit Werken aus der Sammlung Heinrich Vetter in der Mannheimer Kunsthalle, das Cello-Fest der Kronberg Academy, Robert Carsens und Jeffrey Tates Kölner Aufführung der "Götterdämmerung"

In der Frankfurter Anthologie stellt Ruth Klüger ein Gedicht von Erich Fried vor - "Zu Holze":

"Zu viele Worte
In Einfalt oder durch Zufall
kommt einer bald zu Fall
oder geht den Holzweg
von Schöpfung und Geburt
zur erschöpften Gebärde
von den Faltern der Kindheit
zu Falten der alten Erde und der alternden Stirne..."

NZZ, 25.10.2003

Joachim Güntner resümiert die Argument pro und kontra im deutschen Kopftuchstreit und kommt zu einem differenzierten Schluss: "Toleranz, einst ein Pflichtartikel im intellektuellen Sortiment, muss wieder geprüft und - vor allem - begründet werden." Auch in Frankreich ist der Kopftuchstreit wieder aufgeflammt, dort aber betrifft er die Schülerinnen, berichtet Marc Zitzmann.

Besprochen werden eine Retrospektive von Georgia O'Keeffe im Kunsthaus Zürich, Shakespeares "König Lear" am Theater Basel, Verdis Oper "Giovanna d'Arco" in Biel und Richard Wagners "Götterdämmerung" in Köln.

Morgen erhält Alexander Kluge den Büchner-Preis. Im Gespräch mit Andrea Köhler, veröffentlicht in Literatur und Kunst, begründet er seinen Glauben an das Gute im Menschen. Er glaube "nicht an sein Bestreben, gut zu sein, sondern an das Trägheitsmoment des Guten, das sozusagen in den Schätzen unserer Vorgeschichte steckt... Stellen wir uns vor, Hitler wäre ermordet worden. Oder nehmen Sie an, in der frühen Zeit des Krieges wären hier Schweizer Journalisten unterwegs gewesen, die weitersagen, was geschieht. Sie haben eine Öffentlichkeit, Sie haben möglicherweise noch den Einfluss Europas auf die Bevölkerung, und Sie können nicht einfach mehr behaupten, die Mehrheit wäre willig gewesen, das Böse vorsätzlich zu tun, mindestens nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Das heißt, sich auf der Höhe des Bösen zu bewegen, überfordert die Menschen."

Weitere Artikel in der Feuilletonbeilage: Holger Gumprecht schreibt zum hunderststen Geburtstag von Evelyn Waugh. Thomas David stellt den britischen Autor Graham Swift und seinen neuen Roman "Das helle Licht des Tages" vor. Gernot Böhme setzt sich mit Gottfried Benns Gedicht "Nur zwei Dinge" auseinander. Bernhard Dotzler bespricht den letzten Band der Stuttgarter Benn-Ausgabe. Besprochen wird auch ein Buch über die Reisebeshreibungen Annemarie Schwarzenbachs und Nicolas Bouviers nach Afghanistan (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 25.10.2003

Alexander Kluy war dabei, als der Architekt Peter Eisenman das von ihm entworfene Holocaust-Mahnmal erläuterte. "Schlingen der Erinnerung will er hier auslegen. Die Stelen, im Abstand von 95 Zentimeter voneinander aufgestellt, sollen abweisend sein. Besucher könne nur hintereinander, ein jeder für sich allein hindurchgehen. Teilweise überragt von den bis zu fünf Meter hohen, leicht geneigten Stelen, soll die Orientierung des Besuchers fundamental gestört werden. Verstörung als Sinnestäuschung, als Nachempfinden völligen Verlassenseins, als 'out-of-body experience', wie es Eisenman nennt. 'An diesem Ort wird es kein 'es war' geben, sondern ein 'es ist'."

Weitere Artikel: Georg-Friedrich Kühn sieht in der Neuen Musik und dem neuem Musiktheater die Waisenkinder der Berliner Festwochen, begeistert sich aber über das russische "Pokrovsky Ensemble". Renee Zucker feiert ihr eigenes 25-jähriges Bob-Dylan-Bühnen-Jubiläum. Außerdem wird gemeldet, dass Alban Nikolai Herbsts Roman "Meere" auf Beschluss des Berliner Landgerichtes auch weiterhin gerichtlich verboten bleibt und dass Kulturstaatsministerin Christina Weiss davor warnt, die geplante Stiftung für die drei Berliner Opern platzen zu lassen.

Auf der Medienseite lobt Markus Brauck das neue Magazin Dummy als "Traum für Journalisten" ohne "Zielgruppenforschung". Alexander von Streit war auf den Münchner Medientagen: "Mit Euphorie will niemand in Verbindung gebracht werden. Auch wenn keiner mehr das Wort Medienkrise hören kann." Jens Holst freut sich über den bislang teuersten RTL-Film "Held der Gladiatoren", denn der hat nicht nur Muskelschmalz zu bieten, auch wenn die Lächerlichkeit manchmal nicht aufzuhalten ist ("Ich werde dich hinrichten lassen, Sklave"). Schließlich ist Harald Keller begeistert von David E. Kellers Kleinstadtserie "Picket Fences".

Besprochen werden die Andrea-Fraser-Werkschau im Hamburger Kunstverein, Sebastian Nüblings König Lear am Theater Basel, mit Silvia Fenz in der Rolle des alten Königs, und Mariss Jansons' brillantes Münchner Eröffnungskonzert als Chefdirigent der br-Symphoniker.

TAZ, 25.10.2003

Burkhard Brunn erklärt, was der Gang über den Menschen aussagt, und wie wichtig dabei die sonst so verschmähten Füße sind: "Solange sie wie kleine Leibnizkekse aussehen, werden sie mit Küsschen bedeckt, bald aber als die vom Kopf am weitesten entfernten (Extremitäten!) und dazu untersten Körperteile in die Schuhe gestopft und dort vergessen, bis sie zu riechen beginnen".

Weitere Artikel: Alexander Haas befürchtet, dass der neue Bonner Intendant Klaus Weise seine Energie vor dieser braven Kulisse verpufft, nachdem er in Oberhausen die "Wiedergeburt einer Stadt aus dem Geiste des Theaters" vollbracht hat. Dirk Knipphals zeichnet ein bewunderndes Porträt von Alexander Kluge, dem diesjährigen Preisträger des Büchner-Preises, und nennt ihn einen "Jäger und Sammler des Staunens". Daniel Bax porträtiert die Sängerin Souad Massi und ihre arabisch-andalusischen Chansons. Detlef Kuhlbrodt versucht die Programme seines Fernsehers zu ordnen.

Auf der Medienseite: Für hohe Ambitionen braucht man keinen Verlag - Arno Frank stellt das neue Magazin "Dummy" vor und lobt es für seine "Lust an der großen, akribisch recherchierten Geschichte". Besprochen wird Eric Tills Event-Film "Luther", mit dem weichen Luther Joseph Fiennes.

Das taz-mag widmet sich heute ganz dem Wein: Hier erklärt Stuart Piggott, warum große Weine überall auf unserem Planeten produziert werden können - und nicht nur im Bordeaux.

Und schließlich TOM.

SZ, 25.10.2003

Ralf Berhorst hat die Gerichtsverhandlung beobachtet, die zum Verbot von Alban Nikolai Herbsts Roman "Meere" führte: "Die juristische Strategie des Verlags zielte vor allem darauf, die 'Wiedererkennbarkeit' der Klägerin in der Romanfigur Irene Adhanari zu bestreiten. Ausführlich wurden daher physiognomische Kennzeichen wie 'Oberlippenflaum', 'ägyptischer Blick', 'zurückgekämmtes schwarzes Haar' traktiert. Bereits in der laufenden Verhandlung deutete die Richterin an, was der spätere Urteilsspruch bestätigte: Das Gericht sieht in Herbsts Protagonistin keine 'Kunstfigur', sondern die 'Wiedergabe eines realen Abbildes'."

Weitere Artikel: Thomas Urban skizziert die trostlose Situation der russischen Intelligenzija in Zeiten der "Demokratur". Reinhard J. Brembeck schaut sich auf den Berliner Festspielen um und scheint zufrieden. Wolfgang Schreiber freut sich über Mariss Jansons, den "freundlich unbeugsamen" neuen Chefdirigenten der br-Symphoniker. Annette Lettau gratuliert der Neuen Pinakothek zum 150. Geburtstag. "Zig" kann über den vermeintlichen Skandal um den niederbayerischen Amphitheater-Fund nur den Kopf schütteln. Alexander Kissler berichtet von den schwierigen UN-Klon-Verhandlungen. Susan Vahabzadeh erklärt, wie Raubkopien und Filmpreise zusammenhängen. Und in der SZ-Serie "Briefe aus dem 20. Jahrhundert" schreibt Gertrud Simmel an Stefan George über die Frauenfrage und das "protestantische Erblaster".

Auf der Medienseite beschreibt Hans Leyendecker anlässlich der Kontroverse um den jüngsten Panorama-Bericht, wie sehr die verdeckte Recherche einer juristischen Gratwanderung gleicht.

In der SZ am Wochenende will Star-Architekt Frank Gehry lieber über Dummheit als über Bauten sprechen. Thomas Hürlimann sinniert über seine "pädagogische Provinz". Thomas Kistner reist an den Amazonas und macht sich Sorgen um die CIA. und Peter Bäldle nimmt die Spezies der Moderedakteurin in Augenschein.

Besprochen werden Norbert Wiedmers Film "Bruno Ganz/Behind me", Shakespeares "King Lear" in der Basler Inszenierung von Sebastian Nübling, die deutsche Erstaufführung von Roland Schimmelpfennigs "Für eine bessere Welt" in der Münchner Inszenierung von Florian Boesch, und Bücher - Ulla Lenzens Indien-Roman "Schwester und Bruder", Francois Julliens Essay "Vom Wesen des Nackten", Ror Wolfs Prosa-Ausschweifungen "Zwei oder drei Jahre später", ein ideologie-kritischer Sammelband zur Arbeitskultur und Lucien Clergues fotografische Poesie.