Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2003. In der SZ erklärt uns Nina Bernstein von der NYT, dass Amerika nur auf Kerle steht. In der taz erinnert der Historiker Peter Steinbach daran, dass es auch heute noch Vertreibungen gibt. Die NZZ porträtiert den irakischen Dichter Sargon Boulus. Die FR besucht Casanovas Grab in Duchcov.

SZ, 10.10.2003

"Für Amerika ist Frankreich eine Frau, Deutschland aber ist ein Kerl", erklärt Nina Bernstein von der New York Times mit nicht ganz nachvollziehbarer Logik, warum die Amerikaner die Franzosen so wenig leiden können: "Die Franzosen selbst stellen La belle France als barbusige 'Marianne' auf den Barrikaden dar. Sie exportieren Haute Couture, Kosmetik, gutes Essen - alles Dinge, die man traditionell mit den Freuden einer Dame verbindet, wenn nicht gar mit denen ihres Boudoirs. Deutschland hingegen ist das 'Vaterland'. Die Pickelhaube ist in die schnittigen Insignien von Mercedes und BMW umfunktioniert worden. Und Deutschland exportiert große Maschinen und starkes Bier - Produkte, die man klar mit Männlichkeit verbindet."

Weiteres: Tobias Kniebe hat erlebt, wie Quentin Tarrantino seinen Film "Kill Bill" verteidigt: "Ein großer Bär. Ein Bär allerdings, den sie mit verbotenen Dingen gefüttert haben. Seine Feinmotorik hat ihren eigenen Willen. Er rollt die Augen, lacht schrill, knüpft gedankenschnelle Assoziationsketten, und redet - längst heiser, aber trotzdem ohne Punkt und Komma. Kampfbereit, provozierend, aber genauso bereit zum Schwärmen." Andrienne Braun berichtet, wie Klaus Zehelein es endlich geschafft hat, in Stuttgart sein Forum Neues Musiktheater durchzusetzen, das heute mit der Uraufführung von Andreas Breitscheids Musiktheater "Im Spiegel wohnen" seinen Spielbetrieb aufnimmt. Thomas Lehr gratuliert Claude Simon (mehr hier) zum Neunzigsten und zur "unbestechlichen, geradezu unerbittlichen, hyperrealistischen Brillanz und Präzision" seiner Prosa. Fritz Göttler schreibt zum Tode des Medienkritikers und Moralisten Neil Postman (mehr hier).

Besprochen werden eine Sigmar-Polke-Schau in London, Christiane Pohles Inszenierung von Jon Fosses "Da kommt noch wer" für die Münchner Kammerspiele, Roger Michells Film "Die Mutter", Xavier Le Roys Choreografie-Projekt "Extensions" bei den Berliner Festspielen, mit dem Le Roys nicht weniger erreicht habe, "als die Regeln des Spiels im Kollektiv neu erfunden zu haben".

Und Bücher, darunter Schriften von Mark Rowlands und Giorgio Agamben über die Befreiung der Tiere und die Dressur der Menschen, Haruki Murakamis Erzählungen "Nach dem Beben", Johannes Burkhardts Geschichte des " Reformationsjahrhunderts" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 10.10.2003

Monika Carbe porträtiert den irakische Dichter Sargon Boulus. Als junger Mann wanderte er zwei Monate durch die Wüste nach Beirut, um den libanesischen Autor Yusuf al-Khal zu treffen. 1969 reiste er nach Amerika. "Hier wagte er sich an das schwierige Unterfangen, Texte der Protestlyriker ins Arabische zu übertragen. In den Gedichten Allen Ginsbergs fand er den wilden, unbändigen Rhythmus seiner eigenen frühen Versuche wieder. Ginsbergs 'Howl', das Wüten eines Dichters in Trance, galt als undenkbar in der Sprache des Korans. Mit seiner Übertragung sprengte Sargon Boulus die Grenzen der Poetik des Arabischen und gab Ginsbergs Strom der Assoziationen in einem Duktus wieder, der vermutlich noch provozierender wirkte als im amerikanischen Original." (Einige Gedichte auf Englisch von Boulus finden Sie hier, ein Interview mit Boulus hier)

Weitere Artikel: Joachim Güntner berichtet von der Frankfurter Buchmesse. Alexandra Stäheli schreibt zum Tod des Medienkritikers Neil Postman. Elisabeth Schwind war bei zwei Tagungen über Adorno und die Musik. Besprochen wird eine Doppelausstellung in Lugano und Mendrisio über die Architektur des Klassizismus in St. Petersburg.

Auf der Filmseite spricht der Regisseur Roger Michell über die sechzigjährige Frau, die sich in seinem Film "The Mother" in den Geliebten ihrer Tochter verliebt. "Für mich sieht die Reise so aus: Er geht mit ihr ins Bett und will sie befriedigen, aufgrund seiner eigenen Großzügigkeit, seiner Sanftmut und Sorge um diese einsame alte Frau, mit der niemand sprechen will außer ihm. Er weiß, dass ihre ganze Familie nichts mit ihr zu tun haben will. Diese spirituelle Großzügigkeit rechne ich ihm hoch an. Dann wird sie süchtig danach; sie ist mehr an Sex interessiert als ihre eigene Tochter. Sie kann dem Penis dieses Mannes nicht widerstehen, obschon sie weiß, dass ihre Tochter gleichzeitig auch mit ihm rummacht." Weiteres: Alexandra Stäheli porträtiert Arnold Schwarzenegger als "Mann fürs Gründliche". Besprochen werden der Film "The League of Extraordinary Gentlemen" und eine Ausstellung über Akira Kurosawa im Deutschen Filmmuseum Frankfurt.

Auf der Medien- und Informatikseite stellt "ber." die neue arabischsprachige Jugendzeitschrift Hi vor. Produziert wird sie von den Medienbeauftragten des amerikanischen Außenministeriums, die so ihren Einfluss auf die arabische Welt erweitern möchten. Sehr geschickt stellt man sich dabei nicht an: "Hi stellt die USA als Traumland dar, die arabischen Länder selbst kommen nicht vor. Das einzig Arabische in Hi sind glückliche arabische Einwanderer." Weitere Artikel: Auch nach ihren Blattreformen sieht H. Sf. nicht viel Zukunft für die Frankfurter Rundschau und die taz. Und S. B. fragt nach der jüngsten Computerpanne bei der Post: Ist Microsoft-Software ein Sicherheitsrisiko?

FR, 10.10.2003

"Duchcov ist ein kleiner und trotz aller Melancholie des Verfalls bemerkenswert hübscher Gedächtnisort auf der Landkarte der Weltliteratur", erzählt Thomas Medicus aus der tschechischen Provinz. "In Dux hat Giacomo Casanova, aus Venedig auf Lebenszeit verbannt, seine letzten dreizehn Jahre als Bibliothekar des Grafen Waldstein verbracht. Dort hat er seine berühmte Lebensgeschichte verfasst, die Histoire de ma vie, ein nicht bloß erotisches Werk, wie viele meinen, sondern vor allem eine brillante Sittengeschichte des vorrevolutionären 18. Jahrhunderts. In den Wohnräumen, die Casanova im Schloss bezogen hatte, ist er 1798 gestorben. In einem Park, der früher ein Friedhof war, liegt er an unbekannter Stelle begraben."

Weiteres: Israels früherer Botschafter in Deutschland, Avi Primor, spricht mit Gisela Hagemann über sein neues Buch "Terror als Vorwand" und die Lage im Nahen Osten: "Ich gehe davon aus, dass nur die israelische Bevölkerung und die palästinensische Bevölkerung es zu einer Wende in der Nahost-Politik bringen können. Ich vertraue den Spitzenpolitikern beider Seiten überhaupt nicht." In Times Mager überliefert uns Hans-Helmut Kohl das schöne Zitat von Frankreich Premier Jean-Pierre Raffarin: "Die französischen Intellektuellen sind wie der Korken in der Champagner-Flasche, der von oben über die Qualität des Champagners urteilt. Aber der Korken muss raus, damit man den Champagner kosten kann." Hella Faust schreibt zu Claude Simons (mehr hier) neunzigstem Geburtstag.

Besprochen werden die Duisburger Uraufführung von Mauricio Kagels "TheaterKonzert" und die Tournee der Band Fink.

TAZ, 10.10.2003

Der Historiker Peter Steinbach (mehr hier) findet auch eine europäische Perspektive auf die Vertreibung noch zu eng gefasst: "Wie aber wäre es, wenn man die deutsche Vertreibungsgeschichte einbettete in die Versuche der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts, ethnisch homogene Gesellschaften zu schaffen, die Perspektiven des Klassenkonfliktes mit dem 'Kampf der Rassen' verbanden, tief beeinflusst durch die außenpolitischen und militärischen Interessen der großen Mächte. Wenn versucht würde, die Vertreibungsgeschichte in weltgeschichtliche Kontexte zu rücken, mit der Europäisierung der Welt, mit Imperialismus und Kolonialismus zu verknüpfen. Dann würde sich zeigen, dass auch der europäische Rahmen der Vertreibungen zu eng gewählt ist. Und vielleicht dämmerte dann, dass die Geschichte der Vertreibungen nicht beendet ist. Vor unseren Augen finden heftigste ethnische Konflikte in Afrika statt. Bürgerkriege, Flucht, Vertreibungen, Enteignungen und Massenmorde sind die Folge."

Till Briegleb lobt die "Strategie des sanften Terrors", mit der Intendant Ulrich Khuon Hamburgs Thalia-Theater zu einer der interessantesten Bühnen Deutschlands gemacht hat. Harald Fricke widmet sich "Zwischen den Rillen" dem Theorierap von Chicks On Speed und Erase Errata. Gerrit Bartels berichtet von der größtenteils sehr schönen Gedenkfeier für Siegfried Unseld in der Frankfurter Paulskirche. Daniel Bax schreibt den Nachruf auf den Medienkritiker Neil Postman ("Wir amüsieren uns zu Tode"). Stefan Kaufer kann sich seine Freude darüber nicht verkneifen, dass der amerikanische Extrem-Performer David Blaine mit seinem Hunger-Spektakel bei den Londonern auf Granit gebissen hat. Besprochen wird Matthias Hartmanns Bochumer Uraufführung von Falk Richters "Electronic City".

Und schließlich Tom.

FAZ, 10.10.2003

Erna Lackner erinnert Peter Cooks biomorphes Kunsthaus in Graz an aufgetaute Tiefkühlkost: "Auf der Verpackung eine Attraktion, aber dann schal." Weitere Artikel: Jakob Strobel Y Serra stellt uns den russischen James Bond Fandorin und die nächsten Pläne seines Schöpfers Boris Akunin vor. Oliver Tolmein berichtet über einen kontroversen Fall von Sterbehilfe und Sterbewille in den USA. "hhm" verurteilt die streithanselige Mode des Buchstoppens. "igl", "jom" und "vw" liefern Buchmesse-Skizzen aus der Paulskirche, vom Wissenschaftsbuchmarkt und Muhammad Ali. Joseph Hanimann gratuliert dem in Madagaskar geborenen Schriftsteller Claude Simon (mehr) zum Neunzigsten. Christian Geyer schreibt den Nachruf auf Neil Postman.

Das Haus des Malers B. C. Koekkoek in Kleve hat sich Andreas Rossmann für die letzte Seite angesehen. Patrick Bahners nutzt einen Vortrag über den Schöpfer der Berliner Verkehrsgesellschaft, Ernst Reuter, um Finanzsenator Sarrazin an die soziale Tradition des Hauses zu erinnern. Gerhard Stadelmaier weiß schließlich, welches Ende der Streit um die Aufführung von Rehbergs U-Boot-Drama "Wölfe" in Erlangen genommen hat: "Das lächerlichste. Also ein pädagogisches."

Auf der Medienseite dämpft Petra Kolonko allzu große Erwartungen bezüglich der Pressefreiheit in China. Jürg Altwegg berichtet, wie Brüssel die französischen Fernsehwerbeverbote für Bücher und Verlage beseitigt hat. Andreas Rosenfelder plädiert für ein zentrales Rundfunkarchiv von alexandrinischen Ausmaßen.

Besprochen werden ein hochnotpeinlicher Theaterabend in den Münchner Kammerspielen mit Stücken von Sigarew und Fosse, Roger Michells Film "Die Mutter" und Bücher, darunter Barbara Gowdys neuer Liebesroman "Die Romantiker", Sarbans Horrorroman "Hörnerschall" sowie Robert Tiemans wunderbare "Disney Treasures" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).