Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2003. In der taz macht sich Gabriele Goettle ein Bild von Musikergehirnen. In der SZ wendet sich Frank Spilker, der Sänger der Sterne, gegen eine Quote für deutschsprachige Musik. Die FR fragt anlässlich eines Prozesses gegen einen Liedermacher, wie ernst es die Türkei mit den Menschenrechten meint. Die NZZ hat Papous dans la tête.

SZ, 25.08.2003

In der Debatte um eine Quote für deutschsprachige Musik meldet sich mal ein Betroffener zu Wort. Frank Spilker, Sänger der Band Die Sterne, findet sie unsinnig. Sein Vorschlag ist ein Punktesystem, das unbekannte Stücke bevorzugt in den Äther bringt. "Platz eins der aktuellen Charts gäbe null Punkte für die Addition, Platz 100 entsprechend 99 Punkte, und alle einigermaßen neuen Veröffentlichungen, die nicht in den Charts sind, bekämen hundert Punkte. Oldies und nichts sagende Standards könnten mit null bis zwanzig Punkten gewertet werden. Ich gebe zu, dass dieser Vorschlag nicht völlig ausgereift ist, er scheint mir aber richtiger als eine Quotierung von deutschsprachigen Titeln."

Wäre der Kanzler doch nach Pesaro gegangen, deklamiert Carlos Widman, wo das Rossini-Festival mit einem prachtvollen "Comte Ory" endete. "Keine grausigen Tapeten und ungewaschenen Heizkörper beleidigen von der Bühne des Teatro Rossini das Auge des Betrachters, keine Beifalls-Entgleisungen aufgeputschter Massen erschlagen den Duktus der Musik. Da kann der junge Peruaner Juan Diego Florez - schwarzgelockt und längst als neues Tenorwunder ausgerufen - eine wahre Girlande von Spitzentönen glitzern lassen, ohne dass Urschreie aus der Galerie dem delikat und präzise dirigierenden Spanier Jesus Lopez Cobos und dem Orchester des Teatro Comunale aus Bologna die Arbeit versauen würden."

Weiteres: Andrian Kreye beleuchtet Fluch und Segen des amerikanischen Mäzenatentums, also gutes Geld gegen schlechten Einfluss. Adrienne Braun stellt der Kunststadt Stuttgart ein vernichtendes Urteil aus, die Entlassung des Leiters der Städtischen Galerie sei nur der neueste Ausdruck jahrelanger Konzeptlosigkeit. Willi Winkler hofft, dass nicht alle FDP-Wähler so arbeiten wie ihre Partei in Hamburg. "jby" hält den geplanten Abriss Tausender Berliner Wohnungen für eine Nagelbombe. Thomas Steinfeld gratuliert dem Jazz-Saxophonisten Wayne Shorter zum Siebzigsten. Helmut Mauro erinnert sich nur an das Dröhnen der Typhoon Eurofigther, nachdem bei den Salzburger Festspielen Stockhausens 75.Geburtstag mit der Flugshow eines Brausefabrikanten gefeiert wurde. Gemeldet wird die Wiedergeburt des Hartknoch-schen Verlages im Geiste Kantscher Konversation als auch der Namen des ersten Preisträgers des "Gläsernen Drachen": Wolfgang Pregler.

Auf der Medienseite erfährt Christopher Keil von Fernsehfilm-Produzent Nico Hofmann, was man in Deutschland als Nachwuchsfilmer braucht: einen Paten. Haug von Kuenheim stellt in der Serie Große Journalisten Karl Silex vor, der bis 1943 die DAZ führte.

Besprochen werden Thomas Ostermaiers, Armin Petras' und Enrico Stolzenburgs Gemeinschaftsprojekt "Suburban Motel 1-6" von George F. Walker an der Berliner Schaubühne, die Ausstellung der "Flämischen Landschaften" zwischen Bruegel und Rubens in der Essener Villa Hügel, eine Ausstellung im Wiener Architekturzentrum zum Schaden, den fragwürdige Großprojekte einem Stadtbild antun können, das Tanztheater "The H.C. Andersen Project" von Michael Laub in Berlin, der dritte American-Pie-Film "American Wedding", und viele Bücher, darunter Nava Semels filmreifer Roman " Die Braut meines Bruders", der Band zur erfolgreichen "Kinder-Uni" von Ulrich Janssen und Ulla Steuernagel sowie Almudena Grandes' Spanienporträt " Die wechselnden Winde" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 25.08.2003

Die Türkei will nach Europa. Die Justiz lässt sich Zeit. Nicht europakompatibel scheint jedenfalls der Prozess gegen den Liedermacher Ferhat Tunc zu sein, von dem Anja Hotopp aus Dogubeyazit berichtet. Angeblich soll Tunc ein Konzert mit den Worten "Hallo PKKler" eröffnet haben. Wer weiß. Es gibt nämlich keine Mitschnitte. "Eigentlich lautete die Anklage des Staatssicherheitsgerichts auf Unterstützung einer terroristischen oder separatistischen Organisation nach Artikel 169. Mit der Verabschiedung des achten EU-Gesetzesanpassungspakets allerdings wurde der Artikel jüngst abgeschafft. So fehlen nicht nur die Beweise im Verfahren gegen Tunc, es fehlt auch der Paragraph des Gesetzes, auf dem die gesamte Anklage fußt. Kurzerhand wurde die Anklage gegen Tunc umgeschrieben und lautet jetzt: 'Unterstützung einer illegalen Organisation' - nach Artikel 312." Im Oktober wird weiter verhandelt.

Petra Kohse lobt Thomas Ostermaier dafür, dass der für den Saisonauftakt an der Berliner Schaubühne mit "Suburban Motel" Unkonventionelles wagt. Ostermaier teilt sich die Inszenierungsarbeit mit Armin Petras und Enrico Stolzenburg. Und alle suchen den Kontakt zum Zuschauer. "Schnelles, serielles, sich selbst weder schützendes noch das Publikum schonendes Schaufenstertheater über die sozial Schwächsten der westlichen Welt - Straßenglaubwürdigkeit jetzt oder nie! scheint das Projekt zu sein."

Weitere Artikel: Frank Keil zweifelt, ob nach den Schill-out-Feierlichkeiten etwas besser wird in Hamburg. In Times mager verrät Jürgen Roth, wie Journalisten immer so belesen wirken: mit der Digitalen Bibliothek der Philosophie etwa. Gemeldet wird, dass Günter Grass ein Vertriebenen-Mahnmal als "eine europäische, keine nur deutsche Aufgabe" ansieht.

Eine Quote für deutsche Musik im Radio lehnt Stefan Müller auf der Medienseite kategorisch ab. Denn "es geht in Wirklichkeit um Kohle, nicht um Kultur. (...) Gefragt sind mutigere Musikredakteure, die ihre Automaten auch freiwillig mal mit Blumfeld statt Catterfeld füttern."

TAZ, 25.08.2003

Von Gabriele Goettle lesen wir 930 kurzweilige Zeilen über den Neuropsychologen Lutz Jäncke, der Philosophie des Geistes betreibt, einen geltungssüchtigen Papageien hat und Musikerhirne vermisst. " Die Gehirne von Musikern sind hervorragend geeignet, um die Plastizität zu studieren, denn viele der Profis fingen schon in der Kindheit an und üben oft viele Stunden am Tag das ganze Leben lang. Das beeinflusst die Gehirnpartien, die an der Fingerfertigkeit, der Geschicklichkeit der Hand, beteiligt sind. Also wir machen Bilder von Musikergehirnen, messen Hirnstrukturen aus ? Das sind eben die Sachen, die für uns wichtig sind."

Auf der Tagesthemenseite erzählt Matthias Braun, weshalb es keine Zukunft gibt für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern, nicht mal auf Rügen, und schon gar nicht im Casablanca hinter dem verchromten Kinofoyer von Bergen. Dominic Johnson berichtet aus Ruanda, wo die erste freie Wahl die Angst aufkommen lässt, dass das Schlachten wieder losgeht, falls der Tutsi Paul Kagame verlieren sollte.

Auf der Medienseite wird die aktuelle Ost-Begeisterung im Fernsehen diskutiert. Silvia Herbig hat nichts gegen das soziokulturelle Spektakel der DDR-Shows, denn die "bauchpinseln endlich mal den Ossi". Michael Bartsch ist seine Vergangenheit zu wichtig, um sie für eine "Modewelle der Ablenkungsindustrie" verwurstet zu sehen.

Schließlich Tom.

NZZ, 25.08.2003

Marc Zitzmann eröffnet eine Reihe zur französischen Kulturszene mit einem Besuch bei den Machern der französischen Radiosendung "Des papous dans la tete", Francoise Treussard und Bertrand Jerome. Dabei hat ihn nicht Mademoiselle, sondern auch das Konzept der Sendung umgehauen: "eine ureigene Mischung aus Surrealismus, Wortwitz und Phantasie: eine Art Buddelkiste für erwachsene Kinder, die statt mit Sand gefüllt wäre mit all den Wörtern, die im Lexikon stehen, und mit all den Geschichten, die im Bücherschrank zu finden sind - und noch vielen mehr. Ziel des Unternehmens ist es, eine Handvoll Leute zusammenzubringen, die gern (und gut) schreiben, und sie während ein paar Stunden kleine Geschichten verfassen und vortragen zu lassen."

Peter Hassler blickt auf die Geschichte der Maya-Stadt Tikal in Guatemala, von der in großangelegten Grabungsprojekten mehr und mehr freigelegt wird. Andreas Wilink zieht zur Halbzeit der diesjährigen Ruhr-Triennale eine alles in allem ganz positive Zwischenbilanz.

Ludger Lüdkehaus erinnert an den umstrittenen Kinderpsychologen Bruno Bettelheim, der vor hundert Jahren geboren wurde. Besprochen wird Heiner Geobbels Stück "Schwarz auf Weiß" beim Lucern Festival.

FAZ, 25.08.2003

Dietmar Polaczek war in der gleichen Veroneser "Carmen"-Aufgfühhrung wie Bundeskanzler Schröder, aber nicht Silvio Berlusconi. Frank Busch zitiert in seiner Besprechung der Saisoneröffnung an der Berliner Schaubühne mit den "Suburban Motels" des Kanadischen Dramatikers George F. Walker eine Lebensweisheit von Frank Zappa: "Wirklich billig zu sein hat nichts mit einem niedrigen Budget zu tun, obwohl es hilft." Wolfgang Sandner gratuliert dem Jazzmusiker Wayne Shorter zum Siebzigsten. Paul Ingendaay solidarisiert sich in der Leitglosse mit dem Fußballspieler Claude Makelele von Real Madrid, der in den Streik getreten ist, weil er nur 1,2 Millionen Euro im Jahr verdient, während Kollegen wie Beckham und Ronaldo über 6 Millionen einsacken. Gina Thomas beschreibt den Verfall von Tony Blairs einst so virtuosem Spiel mit den Medien. Andreas Platthaus resümiert ein Kolloquium über Karl den Großen in der Berliner Akademie der Künste. In der Reihe "Wir vom Bundesarchiv" stellt Josef Henke das Protokoll jener Mauerschützeneinheit vor, die Peter Fechter erschoss (und es dann in dürren Worten festhielt). Dietmar Brandenburger meldet, dass die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen neu gestaltet werden soll. Heinrich Wefing schildert den kuriosen Fall des tieffrommen Roy Moore, Chief Justice von Alabama, der ein krudes Denkmal mit den zehn Geboten in sein Gericht setzen ließ, von höherer Seite verurteilt wurde, dieses Monument der Verquickung von Staat und Religion wieder fortzuschaffen, sich aber mit Hinweis auf seine Gläubigkeit widersetzt.

Auf der letzten Seite studiert der Germanist Gunther Nickel die Gerichtsakten Werner Krauß' aus der Nachkriegszeit, in der sich der Schauspieler trotz seiner antisemitischen Judendarstellungen in "Jud Süß" und anderswo gegen den Vorwurf des Antisemitismus verwahrte. Nickel kommt zu keinem abschließenden Urteil und behilft sich mit einer Maxime Max Reinhardts: "Wenn man einen Schauspieler braucht, muss man ihn auch vom Galgen schneiden.". Dirk Schümer porträtiert Andreas Mölich-Zebhauser, den Intendanten des Festspielhauses in Baden-Baden, das er als Privatorganisation zum Erfolg brachte. Und Andreas Platthaus fand eine Neusynchronisation eines "Asterix"-Films durch die Komikerpaars Erkan und Stefan mäßig komisch.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Marcel Broodthaers' in Köln, eine Ausstellung über Jan Brueghels Antwerpen in Schwerin und einige Sachbücher, darunter zwei Bücher über den wachsenden Einfluss der Korruption in Deutschland.