Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2003. In der FR erklärt Istvan Eörsi, warum Osteuropa nicht Kerneuropa ist. In der FAZ geht sich Jeffrey Eugenides einen Schwarzen russischen Terrier kaufen. Die SZ setzt ihre Diskussion über Quoten für deutschsprachige Musik fort und leidet außerdem mit Peter Stein. In der taz rappen die Beginner über die Gesundheitsreform. Die NZZ besucht Massimiliano Fuksas in seiner Werkstatt.

SZ, 11.08.2003

Als "Sonntagsredner-Bigotterie" geißelt ein kampflustiger Karl Bruckmaier die Debatte um eine Quote für deutschsprachige Popmusik im Radio. "So wie bei den Franzosen halt. So elegant und erfolgreich und grande-nation-mäßig. Hauptsache nicht englischsprachig. Also: nicht amerikanisch. Am liebsten. Weil, es geht ja um den Standort. Vermutlich auch um Arbeitsplätze. Und es geht ums Prinzip. Um das Prinzip, dass genau jene, die seit Mediengedenken an der Gestaltungsfreiheit der Rundfunkanstalten Anstoß nehmen, die seit zwei Jahrzehnten die Demontage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, mal versteckt, mal offen propagieren und praktizieren, jetzt auch noch das Recht haben, ins Sommerloch hinein lautstarke Sonntagsreden zu halten."

Irena Leina leidet in ihrem Probenreport mit Peter Stein, der gerade versucht, Tschechows "Die Möwe" parallel mit einem englischen und einem russischen Ensemble einzustudieren."Vorerst hat sich noch niemand erschossen." In der Lektüre inbegriffen ist auch ein kleiner Vergleich der Schauspielerkulturen. "Russische Schauspieler wollen auch heute noch, im Innersten erregt, ganz genau wissen, ob Trigorin Nina wirklich liebt oder bloß der Verlockung erliegt, ein letztes Mal von einem jungen Herzen Besitz zu ergreifen. Ob die Provinzdiva Arkadina ihren Sohn, den Pechvogel Kostja, liebt oder ihn, als Klotz am Bein, hasst. Die englischen Schauspieler mit ihrer ausgefeilten Bewegungs- und Sprechtechnik interessieren sich für andere Dinge: neben wem sie stehen, über welche Schulter sie schauen sollen. Sie treffen ihre Figur mit schöner Zielsicherheit, ohne sichtbare Einfühlung."

Weitere Artikel: Lothar Müller empfiehlt den Freiberuflern, doch mal klar zu stellen, wie sie sich vom Gewerbe unterscheiden, wenn sie keine Gewerbesteuer zahlen wollen. Henning Klüver weiß, wie sich Berlusconi die ungebrochene Herrschaft über die Stammtische sichert: mit einer obszönen Dauerrhetorik, hinter der die Wahrheit verschwindet. Tim B. Müller kennt die Gründe, weshalb das Adorno-Archiv sich so verschlossen gibt: "das Archiv, der Mäzen, die Stadt". in Frankfurt Fritz Göttler huldigt dem naiven Charme des Filmfestivals von Locarno und der lobenswerten Vorliebe für die unverbrauchten Talente des Kinos. "RJB" sieht den Rückgang bei den Plattenverkäufen kulturoptimistisch: die Leute gehen einfach öfter ins Konzert. Kristina Maidt-Zinke grübelt, ob der Umzug des Siedler Verlags nach München ihm nicht seine preußische Seele raubt. Susan Vahabzadeh schreibt zum Tod des französischen Regisseurs Jacques Deray. C. Bernd Sucher lässt uns in seiner Salzburg-Kolumne an hitzigen Kaffeehausdiskussionen um einen Spar-Figaro teilhaben. Susanne Leeb plädiert nach einer Tagung zur Kunst in der DDR dafür, Ost und West noch stärker in Beziehung zu setzen als bisher.

Auf der Medienseite erläutert Stefan Fischer, wie die Fernsehsender seit 40 Jahren den Zuschauer erforschen. Hans-Jürgen Jakobs würdigt in der Reihe Große Journalisten den eitlen Meister-Aphoristiker Johannes Gross.

Besprochen werden Antonio Latellas Reanimation von Pier Paolo Pasolinis "Der Schweinestall" bei den Salzburger Festspielen, und Bücher, darunter Colum McCanns gelungene Nurejew-Biografie "Der Tänzer", Pedro Juan Gutierrez' neuer und langweiliger Kuba-Roman "Der König von Havanna" sowie Jerzy Szackis Studie "Der Liberalismus nach dem Ende des Kommunismus" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 11.08.2003

Eva Clausen entdeckt erste Anzeichen dafür, dass in Italien endlich mal die zeitgenössische Architektur zum Zuge kommen könnte, und zwar in der römischen Werkstatt des italienisch-litauischen "Meisterarchitekten" Massimiliano Fuksas: "Trotz seiner rigoros schwarzen Kleidung ist Fuksas ein Weltverbesserer. Als solcher fängt er im Kleinen an, um in die Weite zu schweifen. Ein Blick auf sein jüngstes Projekt, das neue Kongresszentrum in EUR, genügt, um seine Gratwanderung, seine Ab- und Ausschweifungen nachzuvollziehen: Die 'Wolke' ist eine Skulptur. Transparent, schimmernd, federleicht schwebt sie durch den Raum. In dem luftigen Gebilde sollen Konferenzen und Tagungen stattfinden? 'Es gibt keine Wohn-, Büro- oder Stadtbaukunst mehr. Das sind veraltete Konzepte. Architektur ist heute alles: Kunst, Landschaftsgestaltung, Soziologie, Informatik. Ein Kaleidoskop, ein Schmelztiegel. Ziel ist es, neuen Lebensraum zu schaffen. Die Welt ist winzig geworden, von bedrohlicher Enge. Wir müssen neue Perspektiven öffnen. Das bedeutet, raus aus der Schneckenhausideologie. Deshalb renne ich gegen Mauern an, und notfalls renne ich sie auch ein.'"

Weiteres: Der Schriftsteller Peter Stamm blickt zurück in die stolze Vergangenheit des Stahlwerks Monteforno im Tessiner Bodio. In seinen besten Zeiten wurden hier pro Tag "fünfzig Eisenbahnwagen Schrott" angeliefert und "tausend Tonnen Armierungsstahl" wieder abtransportiert. Uwe Neumärker lässt seinen Blick durch die "wegen ihrer Schönheit geradezu legendäre" Rominter Heide im ehemaligen Ostpreußen schweifen (hier Bilder), wo Kaiser Wilhelm II. ebenso gern zur Jagd ging wie Hermann Göring. Lilo Weber stellt die Londoner Organisation Acme vor, die versucht, britischen Künstlern erschwingliche Wohnungen - und Ateliers - im East End zu beschaffen, meist in leerstehenden Gebäuden des Greater London Council. "Die Künstler verpflichteten sich, die Gebäude selbst herzurichten, dafür eine Miete von 3 Pfund die Woche zu zahlen und sie für den Abbruch wieder zurückzugeben."

Besprochen werden die Uraufführung von George Gruntz' Jazzoper "The Magic of a Flute" beim Menuhin Festival in Gstaad.

FR, 11.08.2003

Der ungarische Schriftsteller und Dramatiker Istvan Eörsi (mehr) versucht zu erklären, warum Osteuropa so tief verwurzelte Vasalleninstinkte gegenüber Amerika hegt. Die späte Entwicklung des Bürgertums könnte ein Grund sein, erklärt er. "Am klarsten durchschaute der Emigrant Gombrowicz die selbsttäuschende Natur des polnischen Nationalismus: 'Es ist nicht wahr, dass Grojec mehr sei als ein entsetzliches Provinzloch, in dem eure graue Existenz sich einst fristete', schrieb er 1953 in Argentinien in sein Tagebuch. Statt uns mit dieser unserer nachteiligen Lage auseinander zu setzen und soviel wie möglich davon abzuarbeiten, jammern wir, und das ist es, weshalb Habermas uns nicht zu Kerneuropa zählt. Die Polen hatten sich noch in den 80er Jahren heldenhaft einer Ordnungsmacht widersetzt und ein polnischer Ideologe lobt jetzt, siehe da, Amerika, als 'einzige Ordnungsmacht'. Als sei die Fähigkeit, Ordnung zu schaffen, kein vordringliches zivilisatorisches und humanistisches Ziel."

Weiteres: Christian Thomas prangert mit apokalyptischem Furor die rot-grüne Entmündigungspolitik der Kommunen an. Daniel Kothenschulte genießt die große Retrospektive des Jazzfilms in Locarno. "Kein Solo ohne würdige Großaufnahme, die ganze Bildsprache eine Botin des geliebten und gelebten Selbstverständnisses aus Künstlerindividualität und Kellerluft." Christoph Schröder schreibt einen Nachruf auf den griechischen Schriftsteller Antonis Samarakis. Gerhard Midding würdigt den verstorbenen französischen Regisseur Jacques Deray. Michael Köhler bemerkt in Times mager, dass sich die Verehrer von Pokemons, Superstars und literarischen Salons recht ähnlich sind. Meldungen besagen, dass der Kanzler in Locarno vorbeigeschaut hat und dass der Siedler Verlag von Berlin nach München umziehen will.

Auf der Medienseite untersucht Jens Holst den Landser, das blutige Pendant zu den Arztromanen und Heft der Soldatenschicksale.

TAZ, 11.08.2003

Heute wenig, dafür unterhaltsam: Die als letzte Hoffnung des deutschen Hip Hop (mehr) angekündigten Beginner plaudern auf der Tagesthemenseite trotzdem frei von der Leber weg über Bildzeitungsgläubigkeit und Gesundheitspolitik. "Das ist jetzt ein bisschen doof, aber man könnte reimen: Yo, hier ist Eizi Eiz, ich bin dummdreist enorm, und deshalb hassen mich alle mehr als Ulla für die Gesundheitsreform. Heißt die überhaupt Ulla?"

Außerdem: Magdalena Kröner schwärmt von den Fahrten mit dem Geruchstester ihres Vertrauens, in die Provinz, um an der an der fragilen Grenze zwischen Natur und Kunst nach Beanstandungen zu suchen. Britta Scholze untersucht in einer neuen Folge von Teddy der Inkommensurable (zur Serie) ausführlich, welche Rolle die Tiere in Adornos Werk inne haben: "in ihnen vermummt sich für ihn die Utopie".

Auf der Medienseite schlägt Silvia Helbig Alarm: die Fernsehnachrichten werden immer unpolitischer, eher Tour de France als Krieg im Kongo.

Eine einsame Besprechung widmet sich einer Ausstellung über das fotografische Werk des vornehmlich als bildenden Künstler bekannten Marcel Broodthaers in Köln.

Schließlich Tom.

FAZ, 11.08.2003

Jeffrey Eugenides (mehr hier), Autor des gefeierten Romans "Middlesex", schreibt einen locker-flockigen Sommertext über die heißen Tage in Berlin, wo er lebt, über die Tour de France und über seinen Wunsch, sich einen schwarzen russischen Terrier (SRT) zuzulegen, der sich, wie er hofft, recht malerisch auf künftigen Porträts des Autors ausmachen wird: "Und so korrespondiere ich nun, wenn ich nicht gerade im Fernsehen die Tour verfolge, mit einer gewissen Frau Pirvo Vikäparta, die Schwarze Russische Terriers im finnischen Eura züchtet. Ich lerne die Besonderheiten dieser Rasse, wie sie während des Zweiten Weltkriegs aus einer Mischung zwanzig verschiedener Rassen entstand, darunter der Riesenschnauzer, der Airedale und der Neufundländer. Ich lade mir Videos von SRT-Fanatikern aus Wladiwostok herunter, in denen die Blackies, statt herumzutollen, wie ich es erwarte, auf dick wattierte Gestalten gehetzt werden, die durch einen verschneiten Wald flüchten. Mir kommt der Gedanke, daß der Schwarze Russische Terrier vielleicht doch kein so toller Familienhund ist..."

Auf Seite 1 setzt das FAZ-Feuilleton seine schonungslose Erkundung männlichen Machtverfalls fort. Es könnte an den Genen liegen. Der Genetiker Steve Jones, Autor des demnächst auf deutsch erscheinenden Buchs "Y", analysiert heute zumindest schon mal die Schwächen des Y-Chromosoms, die dem Mann - der jetzt schon "einen hohen Preis für seine Hoden" bezahlen muss - alles in allem eine ungewisse Zukunft bescheren: "In weniger als zehn Millionen Jahren mag die männliche Genmaschinerie eine ganz neue Richtung einschlagen und das, was wir heute Mann nennen, sich grundlegend ändern."

Weitere Artikel: In einer Meldung erfahren wir, dass Random House den eng mit Berlin verbundenen Siedler Verlag nun in die Münchner Zentrale abberuft. Dietmar Polaczek schildert, wie die von Korruptionsskandalen verfolgte Berlusconi-Regierung in den Medien des Ministerpräsidenten mit Korruptionsvorwürfen gegen Politiker antwortet, die nicht dem Clan des Moguls angehören. Eleonore Büning gratuliert dem Komponisten und Lehrer Krzysztof Meyer zum Sechzigsten.

Auf der letzten Seite schildert der Historiker Bogdan Musial, der einst als Kritiker der Wehrmachtsausstellung bekannt wurde, das Ausmaß der Desertionen in der Roten Armee nach Hitlers Einmarsch in Russland. Dietmar Dath erinnert an Joshua Abraham Norton, der sich im 19. Jahrhundert zum Kaiser Amerikas ausrief. Und Zhou Derong schildert die Hitzewelle in China und stellt bange Fragen über den chinesisischen Automarkt, der jährlich um40 bis 50 Prozent wächst. Auf der Medienseite porträtiert Michael Seewald den Produzenten Helmut Ringelmann, dem das ZDF die meisten seiner Krimis verdankt.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung über Kaiser Ferdinand I. in Wien, einer Ausstellung über die geschichte der Druckgrafik in Italien in Passau, dem Lincoln Center Festival, einer Ausstellung über den Architekten Ludwig Persius in Babelsberg bei Berlin und einigen Sachbüchern (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).