Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.07.2003. Die FAZ erzählt die Geschichte der Fotografin Zahra Kazemi, die von den Schergen eines Teheraner Staatsanwalts zu Tode geprügelt wurde. Die FR wittert in der Diskussion um das "Zentrum gegen Vertreibung" den "Geist von 1950".  Die SZ greift in die Debatte ein: deutsches Geschichtsbewusstsein ja, aber braucht es ein ein Mahnmal? Die taz begleitet Herbert Marcuse auf seinem letzten Weg zum Dorotheenstädtischen Friedhof. Die NZZ kritisiert die Methoden der streikenden Bühnenarbeiter in Frankreich.

FAZ, 18.07.2003

Ahmad Taheri erzählt auf der Medienseite die Geschichte der Fotografin Zahra Kazemi (Foto) einer Kanadierin iranischer Herkunft, die im Juni während der Studentenproteste im Iran fotografierte. Während eines Sitzstreiks vor dem Ewin-Gefängnis "wurde sie von ein paar bärtigen Männern in Zivilkleidung festgenommen. Die Männer, wie sich später herausstellte, gehörten nicht zum offiziellen Geheimdienst, sondern waren die Schergen des Teheraner Staatsanwaltes Said Mortazawi. Mortazawi hat einen pathologischen Hass auf Journalisten... Der Journalistenhasser ließ Frau Kazemi mehrere Tage in einem unbekannten Gefängnis festhalten. Er warf der Journalistin Spionage für 'westliche Mächte' vor. Nach den üblichen 'Verhören' wurde die Fotografin dem offiziellen Geheimdienst Vavak übergeben. Es ging ihr so schlecht, dass sie sofort in das Teheraner Krankenhaus Baqiatullah eingeliefert wurde. Dort starb sie am 11. Juli im Koma... Selbst der Gerichtsmediziner zeigte Mut und sprach vom 'Tod durch Schädelbruch'."

Weitere Artikel: Thomas Wagner würdigt in einer großen Besprechung den Maler Richard Hamilton, dem im Museum Ludwig eine große Retrospektive gewidmet ist ("Pop oder nicht Pop, das ist die Frage - wieder einmal.") Markus Reiter stellt in der Reihe über die Goethe-Institute dieser Welt, das Brüsseler Institut vor. "fld" kommentiert den für die Stadt Köln misslichen Umzug der Popkomm nach Berlin. Ilona Lehnart berichtet über den Austritt Sachsen-Anhalts aus der Stiftung Kulturfonds - das Land zieht seine Gelder ab, um eine eigene Kulturstiftung zu gründen. Der Theologe Klaus Berger macht in der ökumenischen Diskussion eine neue Gruppe aus, die überhaupt gar keine Wiedervereinigung der Kirchen mehr will. Ulrich Olshausen schreibt zum Tod der Salsa-Sängerin Celia Cruz. Kerstin Holm gratuliert dem russischen Lyriker Jewgeni Jewtuschenko ("Der Wolfspass") zum Siebzigsten. Dietmar Polaczek kommentiert die Abberufung des Leiters des italienischen Kulturinstituts in Berlin, Ugo Perone, durch Silvio Berlusconi.

Auf der Medienseite schreibt Sandra Kegel den Nachruf auf Hans Abich, den großen alten Mann des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland. In einer Meldung erfahren wir, dass die Frankfurter Rundschau weitere 130 Stellen streichen wird. Auf der letzten Seite versucht Dietmar Dath, uns in einer Art Erzählung mit "John H. Conways Welt der surrealen Zahlen" bekannt zu machen. Oliver Tolmein wendet sich gegen Gerichtsurteile, die es ablehnen, Intersexuelle in Geburtsurkunden als solche zu bezeichnen, weil dies zu Rechtsunsicherheit führe. Und Andreas Rossmann porträtiert den Übersetzer Bernhard Robben, einen Spezialisten für irische Literatur, der jüngst den Übersetzerpreis der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen erhalten hat.

Besprochen werden der Thriller FearDot.com und eine Ausstellung über die Münchner Jahre des Historikers Franz Schnabel im Bayerischen Hauptstaatsarchiv.

TAZ, 18.07.2003

Herbert Marcuse bekommt ein Ehrengrab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. Sein Sohn Peter Marcuse erzählt Christian Semler und Stefan Reinecke, wie es dazu kam: "Ein Student hat mich vor Jahren gefragt, wo mein Vater eigentlich begraben ist. Ich habe gesagt: Ich glaube, die Urne steht in einem Bestattungsinstitut in New Haven. Die nächste Frage war, ob sie dort ewig stehen soll. So kamen wir auf die Idee, etwas zu suchen, was besser zu meinen Vater passt... Wir hätten ihn auch in San Diego oder in New York bestatten können. Aber auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof sind Leute beerdigt, die zu meinem Vater passen."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels und Max Hägler erkennen den Grund für den Umzug der Popkomm nach Berlin in ihrer "zunehmenden Orientierungs- und Bedeutungslosigkeit". Max Dax widmet sich in einem ausführlichen Porträt dem Elektronik-Musiker Stefan Betke alias Pole, der den Beweis angetreten ist, dass Musik eine Farbe hat. Tobias Rapp befürchtet, dass Daniel Libeskind beim Streit um die Bebeuauung von Ground Zero eine Niederlage zu viel einstecken musste. Daniel Bax verabschiedet die kubanische Salsa-Sängerin Celia Cruz. Christina Haberlik berichtet, dass die Firma Vitra Design auf ihrem Werksgelände eine Tankstelle des "Pioniers des industriellen Bauens", Jean Prouve, rekonstruiert. Jenni Zylka findet die "Verbohlung des Daniel Küblböck" gar nicht lustig.

Auf der Medienseite schildern Arno Frank und Steffen Grimberg, wie sich - ihren Informationen zufolge - die Frankfurter Rundschau aus ihrer Krise herauszustemmen versucht: Geplant ist eine tägliche achtseitige Beilage nach dem Vorbild des Supplements G2 der britischen Zeitung The Guardian. Arbeitstitel: FRplus. Vorgesehen sind offenbar wie bei dem mittlerweile von verschiedenen britischen Blättern verfolgten Konzept monothematische tägliche Beilagen. Das Ziel scheint klar: Einerseits hätte die ausgedünnte Belegschaft mehr Zeit, große Geschichten zu recherchieren und entsprechend ins Blatt zu bringen. Andererseits versprechen sich die FRplus-Strategen von ihrem ehrgeizigen Projekt entzückte Anzeigenkunden."

Und schließlich Tom.

FR, 18.07.2003

K. Erik Franzen ist die Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibung nicht ganz geheuer. Er spürt den Geist von 1950, "Der bis in die Gegenwart ritualisierte Rückgriff auf (die Charta der Heimatvertriebenen) veranschaulicht den Unwillen der Zentrums-Initiatoren, sich in der Gegenwart und für die Zukunft mit Fragen eigener Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen: nun sind die anderen an der Reihe, ihren Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit zu leisten, lautet die Fortführung dieses Gedankens. Der Geist droht zum Gespenst zu werden, wenn der exzessive Opferdiskurs der 50er Jahre im neo-nationalen Gewand im Kontext der EU-Osterweiterung belebt wird. Herzlich willkommen: Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Slowakei und wer sich da sonst noch im Osten tummelt."

Weitere Artikel: Adam Olschewski findet, dass alles, was der deutsche Pop in diesem Sommer zu bieten hat, auf eine CD passe. Ute Evers unterhält sich mit dem kubanischen Dichter Carlos M. Luis über seine Arbeit, die kubanische Kulturszene und sein inzwischen vierzigjähriges Exil in Miami. Rudolf Maria Bergmann beklagt, dass Eichstätt durch "Banalität und Investorengeiz" seinen Ruf als Zentrum der Architektur und des Städtebaus aufs Spiel setzt. Alexander Schnackenburg berichtet von einem Hochschul-Streit um den Erziehungswissenschaftler Freerk Huisken, der in einem Buch den Erfurter Amoklauf vom Frühjahr 2002 "als folgerichtige Konsequenz schulischer Selektionsprozesse" erklärt. Karin Ceballos Betancur schreibt zum Tode der Salsa-Königin Celia Cruz. Ernst Piper erinnert daran, dass am 20. Juli 1933 die katholische Kirche das Reichskonkordat mit den Nationalsozialisten schloss. In Times mager lässt Jochen Stückmann seiner Enttäuschung darüber Lauf, dass der Kanarienvogel trotz Jod-Futters nicht schöner singt und auch die Mittelmeer-Diät nicht geholfen hat.

Besprochen werden Chen Kaiges Film "Xiaos Weg" und Bücher, darunter Ulrich Bielefelds Studie "Nation und Gesellschaft", zwei Publikationen zum Alltag von behinderten Menschen und Navid Kermanis Band "Schöner neuer Orient" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 18.07.2003

Marc Zitzmann kritisiert die Methoden der französischen Kulturstreikenden in Frankreich: "Die Vorgehensweise vieler Streikender erscheint als eine Mischung aus verzweifelter (Selbst-)Zerstörungswut, Lust an der Inszenierung des eigenen Untergangs und tiefer Ratlosigkeit." Er meint damit die Festivals in Aix-en-Provence und La Rochelle, die zum Teil gegen den Willen des Personals von "fremden Demonstranten" sabotiert wurden. Zitzmann hält die Existenzangst der Protestierenden zwar für berechtigt, gibt jedoch zu bedenken: "Das derzeitige System ist auf Dauer nicht zu halten, weil die Intermittents von der Arbeitslosenversicherung Unedic jedes Jahr ein Vielfaches des Betrags zurückerhalten, den sie und ihre Arbeitgeber einzahlen. 2002 betrug das entsprechende Defizit 828 Millionen Euro, heuer soll es eine Milliarde überschreiten".

Roman Hollenstein schwärmt vom Wiener Architekturmarathon, deren Höhepunkt für ihn die Installation "Ice-Storm" im Museum für angewandte Kunst der in London tätigen Irakerin Zaha Hadid (mehr hier) ist: "Diese höhlenartig wuchernde Wohnlandschaft der Zukunft bietet mit Ausnahme von Tischen und Liegen keine ebenen Flächen".

Weitere Artikel: Thomas Burkhalter erinnert an die kubanische Salsa-Sängerin Celia Cruz. Besprochen wird die Retrospektive des Fotografen Allan Sekula in der Wiener Generali Foundation, die Inszenierung von Leos Janaeks "Schlaues Füchslein" im Festspielhaus Bregenz und die Filme "El crimen del Padre Amaro" von Carlos Carrera, "28 Days Later" von Danny Boyles und "The Quiet American" von Phillip Noyce.

SZ, 18.07.2003

Gustav Seibt schaltet sich in die Debatte um ein Zentrum gegen Vertreibung ein. Er findet den Anspruch der Vertriebenen auf "Wahrheit und Respekt" durchaus berechtigt, schließlich könne man auch um etwas trauern, dessen Verlust man selbst verschuldet habe. Aber Seibt will auch "die untergegangenen Geschichtslandschaften des Ostens" erinnert sehen. "Erst in solchen Verlusterfahrungen hört Deutschland auf, jenes beunruhigend geschichtslose Land zu sein, als das man, nicht zu Unrecht, die alte Bundesrepublik bezeichnet hat. Unsere Nachbarn, vor allem im Osten Europas, pflegen ein reich artikuliertes, oft tragisch grundiertes Geschichtsbewusstsein, und Deutschland würde sich aus einem ganzen Kulturzusammenhang ausschließen, wollte es an seiner Fixierung auf die Gegenwart und die Nahvergangenheit festhalten."

Johannes Willms hat in Ravenna Gore Vidal (mehr hier) getroffen und sich einmal ordentlich dessen Meinung sagen lassen über die USA, George Bush und den Irakkrieg. Das liest sich so: "Präsident Bush schwadroniert immer davon, dass es nur darum ginge, diesen Ländern und Völkern Freiheit, Frieden und Demokratie zu bringen. Das ist nicht ohne Ironie, denn die Amerikaner haben weder Freiheit noch Demokratie. Der Begriff 'Demokratie' kommt weder in der Verfassung der Vereinigten Staaten noch in der Unabhängigkeitserklärung vor. Wir sind vielmehr eine kalte, steinerne calvinistische Republik, die dem antiken römischen Vorbild nachgebildet ist... Jetzt lässt es sich diese Regierung angelegen sein, auf der ganzen Welt Völker von schlechten Regierungen zu befreien. Wer wird aber uns befreien?"

Weitere Artikel: Da dem amerikanischen Militär ein Guerilla-Kampf im Irak droht, lässt uns Dierk Walter, Militärhistoriker am Hamburger Institut für Sozialforschung, nicht unvorbereitet und schreibt eine kurze Geschichte des kleinen Krieges. Mit "Kopfschütteln, Bedauern, Widerspruch" begleitet Fritz Göttler den Einzug des Kinos in den Schulunterricht, für den die Bundeszentrale für politische Bildung einen Kanon mit 35 Filmen zusammengestellt hat. Oliver Fuchs fragt sich, warum die Popkomm eigentlich nach Berlin zieht: "Herr Pop, den wir für smart hielten, kommt uns plötzlich vor wie einer, der den Hauptstadt-Hype verschlafen hat."

Für seine Kolumne "Code Orange" hat sich Andrian Kreye zur New Yorker Al-Farooq Mosque begeben, die sich schwer tut, dem Dschihad abzuschwören. Sonja Zekri würdigt zum siebzigsten Geburtstag den russische Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko (mehr hier), gleichermaßen "Stalins Erbe", Dissident und "strahlender Star des verglühten Sowjetreichs". Unter dem schönen Titel "Glück muss man können" schreibt Jonatha Fischer zum Tod der kubanischen Sängerin und "Reina de la Salsa" Celia Cruz.

Außerdem druckt die SZ einen Auszug aus Rudolf Borchardts (mehr hier) bisher unveröffentlichtem autobiografischen Fragment "Anabasis", in dem es um den italienischen Kriegsschauplatz im Sommer 1944 geht. Eine kurze Einführung in das Thema finden Sie hier.

Besprochen werden Janaceks Oper "Das schlaue Füchslein" bei den Bregenzer Festspielen, eine Werkschau des Jugendstilkünstlers Alfons Mucha in der Münchner Villa Stuck sowie die Konzerte des Kissinger Musiksommers.