Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2003. In der SZ warnt Jeremy Rifkin die Alteuropäer: Führt bloß keine genmanipulierte Nahrung ein! Die taz interviewt Daniel Cohn-Bendit zu Berlusconis Entgleisung, die auch in allen anderen Feuilletons kommentiert wird. Die FAZ fragt, warum es keine Gesetze gegen die Verharmlosung des GULag gibt.

SZ, 04.07.2003

Viel Berlusconi in der SZ: Der Turiner Philosoph Gianni Vattimo - der erst kürzlich eindringlich vor Berlusconis EU-Präsidentschaft gewarnt hatte - sieht in der "Parlamentssitzung am Mittwoch die traurige Vorwegnahme des Schlimmen, was noch auf uns zukommt: ideenlose Rhetorik zusammen mit einigen Kraftakten bei Angelegenheiten, die der römischen Rechtskoalition am Herzen liegen." Und Christopher Schmidt erklärt, inwiefern es sich bei Berlusconis Ausfall nicht um Ironie, dafür aber um "Ironismus" gehandelt habe. "Wäre Silvio Berlusconi dem Beispiel des Ironikers Marc Anton gefolgt, hätte er seinen Dolch gegen den Parlamentarier Schulz im Gewande eines überschwänglichen Lobes verborgen. Stattdessen wählte er ein plumpes und naheliegendes Mittel, um den Deutschen zu diskreditieren." Eine ausführliche Linkliste am Ende beider Artikel verweist auf weitere Texte zum Thema.

Die Amerikaner setzen Europa zur Zeit stark unter Druck, die Einfuhr gentechnisch veränderter Nahrungsmittel zuzulassen. Nur nicht nachgeben, ruft Jeremy Rifkin (mehr hier) uns zu. Bushs Argument, Europa nehme "mit seinem Widerstand sehenden Auges den Tod von Millionen hungernder Menschen in der Dritten Welt in Kauf", findet er perfide. Denn die "darbenden Bauern Afrikas" könnten sich gar kein Gen-Saatgut leisten. "... weil Gen-Saatgut dem Patentschutz unterliegt, sind die Bauern nicht in der Lage, das neue Saatgut auf Vorrat zu kaufen, um es im nächsten Frühjahr auszusäen, denn dieses Saatgut gehört den Biotech-Firmen", und die sind amerikanisch. Vielleicht hat der Streit jedoch sein Gutes, meint Rifkin: "Wie schon die Irak-Krise eint die Schlacht um Gen-Food die europäische Öffentlichkeit. Sie stärkt den Sinn einer gemeinsamen europäischen Identität".

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn setzt die "Spurensicherung" bezüglich Leo Strauss und dessen angeblicher Mentorfunktion für die rechtslastige US-Politik fort und beschäftigt sich in ihrem Text mit der wenig populären "Rolle von Geheimhaltung und Täuschung in der Politik". Ihr Befund: "Es geht nicht um eine Kabale der Schüler und ihren esoterischen Lehrmeister, sondern um eine Umstrukturierung des Politischen, die weit über eine universitäre Seilschaft hinausreicht."

Weitere Artikel: Andrian Kreye bringt uns Formen der "Zelebrierung des amerikanischen Patriotismus" am 4. Juli nahe. Sonja Zekri resümiert eine Konferenz im Rahmen der "Potsdamer Begegnungen" zum Thema "Literatur zwischen Macht und Marginalisierung", Alexander Kissler zeigt sich ergriffen von einem Vortrag des Philosophen Ernst Tugendhat über "Unsere Angst vor dem Tod". Nix "zauberhaft": In einem Interview warnt Klaus Zehelein, Präsident des Deutschen Bühnenvereins, vor einer "Querfinanzierung" der Berliner Opern. "aw" kommentiert die kartellrelevanten Kaufgelüste von Random House (dazu gibt es auch einen Artikel im Wirtschaftsteil), und in einer Glosse erklärt "korc", was "featuring" eigentlich mit Duettsingen zu tun hat. Nachrufe lesen wir auf den Literaturkritiker Reinhard Baumgart (hier) und den Jazzflötisten Herbie Mann (hier).

In einem kleinen Schwerpunkt zum UNESCO-Kulturerbe informiert ein Artikel über Neuzugänge auf der Liste, Steffen Krafft erklärt die Satellitentechnik, mit der das Erbe überwacht wird, und Ira Mazzoni deckt die Abgründe auf, die zwischen Hoffnung auf den Titel und diesbezüglich nicht erfüllten Verpflichtungen lauern.

Anlässlich des Münchner Filmfests liefert der Regisseur Rudolf Thome einen Text, der eine Art Mischung aus sentimentaler Erinnerung, Drehbericht und Hommage an Hannelore Elsner darstellt. Außerdem gibt es Kürzesthinweise auf laufende Filme, unter anderem auf Kinderfilme des iranische Regisseurs Mohammad Ali Talebi, das Ang-Lee-Porträt von Vera Tschechowa, den Film "City by the Sea" mit Rober de Niro und - bei aller Kürze geradezu hymnisch empfohlen - ein neuer Film von Jean-Claude Brisseau.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten des südafrikanischen Fotografen David Goldblatt im Münchner Kunstbau, die Präsentation des Goldschatzes von Nimrud in Bagdad, der Film "Bulletproof Monk" mit Chow Yun-Fat und Bücher, darunter die erste Werkausgabe des "Lebenswelt"-Soziologen Alfred Schütz und der Fotoband "Sintflut" über gleichnamiges Ereignis im letzten Sommer (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

TAZ, 04.07.2003

"Prügel für den Großkotz" Berlusconi satt: In einem Interview relativiert Daniel Cohn-Bendit, der die Eklat-Szene miterlebte, seinen grundsätzlichen Glauben daran, dass man Berlusconi doch noch "zivilisieren" könne. Das sei "noch schwieriger zu gestalten, als ich angenommen habe. Die Attacke brach so richtig aus ihm heraus, eine Eruption aus den Tiefen des Gemüts. Es war im Kern eine infantile Reaktion." Des weiteren stellt Cohn-Bendit fest, dass ein "Medienmogul noch lange kein Meister medialer Auftritte" sein müsse. Das habe Berlusconi bereits in Italien "hinreichend unter Beweis gestellt". Michael Braun referiert die italienischen Reaktionen und prophezeit in einem Kommentar: "Vielleicht wird Berlusconis 'historischer' Auftritt schon bald in die Annalen eingehen: als Anfang von seinem politischen Ende." Stille Hoffnung.

Im 7. Teil der taz-Serie über die Zukunft der Arbeit berichtet Sandra Löhr über die wahren Schrecken der Arbeitslosigkeit: oktroyiertes "Bewerbungstraining und Weiterbildung - nur keine Joberwartung". (Geschworen: wir kennen den Ressortleiter einer Hamburger Computerfachzeitschrift, der einen "Computerkurs" machen musste. Dahin entschwindet also das Geld!)

Weitere Artikel: Im Interview sprechen Judith Holofernes und Pola Roy, Mitglieder der Berliner Gruppe "Wir Sind Helden", über Konsumverzicht als Verkaufsschlager, Ende der Spaßgesellschaft und kontrollierten Imagetransfer. Gemeldet werden schließlich der Tod des Literaturwissenschaftlers, Essayisten und Kritikers Reinhard Baumgart (hier) und von Jazz-Flötist Herbie Mann (hier).

In seiner Kritik der neuen CD von Gang Starr mit dem leicht "anachronistischen" Titel "The Ownerz" fragt sich Uh-Young Kim, ob "es heute noch Sinn [macht], Grenzen zwischen 'wahrem' und 'falschem' HipHop zu ziehen, wenn sich Hardcore-B-Boys mittlerweile problemlos zum Boygroup-Ableger Justin Timberlake bekennen können?" Besprochen werden außerdem Paul Justmans Dokumentation "Standing in the shadows of Motown", die sich mit Studiomusikern des Sixties-Soul beschäftigt, und ein Berliner Konzert der "Hoffnungsträgerin des Elektro-Bossa", der Brasilianerin Cibelle.

Und hier wie immer TOM.

FR, 04.07.2003

Muss ja doch ein bisschen gruslig sein, die bis Ende Juli mögliche Besichtigung des Palasts der Republik in Berlin. Hans Wolfgang Hofmann jedenfalls weiß anschaulich zu berichten, dass der Palast selbst "weniger über seine vierzehn Jahre als Zentralbau der DDR [erzählt] als vielmehr über die kaum kürzere Skelettierung danach. Auf den ersten Blick ist er nur ein rostiges Gerippe aus gewaltigen Stahlträgern. Doch schon das neonrote Graffiti, das alle paar Meter von Asbestfreiheit kündet, schließt jede Verwechslung mit einem ausgedienten Großkraftwerk aus."

"Was kann Kunst gegen die Wirklichkeit" fragt sich Peter Iden und hat die 2. Biennale von Valencia auf Antworten abgeklopft. Mit dem Prädikat "alles andere als ein Elfenbeinturm" gratuliert Martina Meister dem Potsdamer Einstein Forum (mehr hier) zum zehnjährigen Bestehen, und in der Kolumne Times mager interpretiert die gleiche Autorin die "lobenswerte" Tätigkeit der Beamten, die ab Herbst im Auftrag der Enquetekommission Kultur selbige in Deuschland "vermessen" sollen, als "Kulturverwesung". Nachrufe gelten dem Autor und Kritiker Reinhard Baumgart (hier) und dem Jazzflötisten Herbie Mann (hier). Auf der Medienseite wird der neue Chef des Nachrichtensenders n-tv, Johannes Züll, porträtiert und der die "klischeereiche" südafrikanische Big-Brother-Variante vorgestellt.

Rezensent Jan Distelmeyer beurteilt Jeff Kanews Holocaust-Spielfilm "Babij Jar - Das vergessene Verbrechen" distanziert: "Es scheint, als sei jede Szene in 'Babij Jar' nicht nur gegen ein Vergessen, sondern zugleich auch gegen jede Form von Zweifel inszeniert", und er befürchtet, dass der Film "das große Publikum, das er mit allen Mitteln zu greifen und zu erschüttern sucht, gerade deshalb wohl nicht erreichen wird." Zur CD der Woche wird schließlich "der Musiker" Luomo mit seinen House-Beats gekürt. Besprochen werden außerdem: Paul Justmans filmdokumentarische "Ehrenrettung" der Studiomusiker des Soullabels Motown "Standing in the Shadow of Motown" , eine Inszenierung von "Wie es euch gefällt" am Freiburger Theater und politische Bücher, darunter Alois Prinz' Lebensgeschichte der Ulrike Meinhof, zwei Bücher über Malerinnen und Wolfgang Sofskys Buch "Operation Freiheit" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 04.07.2003

Für die NZZ berichtet Angelika Overath über die Tübinger Kinder-Universität, in der seit dem Sommersemester 2002 Kinder zwischen acht und 13 Jahren die Hörsaalbank drücken dürfen. Die Themen, die die Professoren in diesem Semester behandeln, sind zum Beispiel: warum wachsen Pflanzen, warum haben wir einen kleinen Mann im Ohr, warum träumen wir oder warum fallen Sterne nicht vom Himmel? Schließlich wird noch auf das Buch "Die Kinder-Uni" von Ulrich Janssen und Ulla Steuernagel hingewiesen, das die bisherigen Vorlesungen zusammenfasst.

In weiteren Artikeln wird über die verhinderte Berliner Opernschließung, den vierten Hamburger Architektursommer (mehr hier) und eine Azteken-Ausstellung (mehr hier) in Berlin berichtet. Den Nachruf auf den "Präzisionsdialektiker" Reinhard Baumgart schreibt Martin Krumbholz. Und Nick Liebmann gedenkt des Jazzflötisten Herbie Mann.

Auf der Filmseite werden besprochen Joe Carnahans hinterhältiger Polizeithriller "Narc", der Film "Chouchou" von Merzak Allouache und eine Art Biographie zu Götz George.

Auf der Medien- und Informatikseite beschreibt Beat Schmid unter der Überschrift "Schallplattenfirmen jagen ihre Kunden" die Großoffensive "der Recording Industry Association of America (RIAA), die dieser Tage eine breit angelegte Kampagne gegen Kopiernetzwerk-Nutzer gestartet hat. Sie will illegale Anbieter von urheberrechtlich geschütztem Material selber identifizieren und mit hohen Schadenersatzforderungen belegen."

Weitere Artikel: Detlef Borchers schildert den Versuch von Simpay, das Bezahlen im Internet mittels Natel zu standardisieren und für den Benutzer zu vereinfachen. Roland Löffler hat Norwegens größter Regionalzeitung "Bergens Tidende" besucht, die gerade mit dem European Newspaper Award ausgezeichnet wurde. Und "ras." meldet einen neuen Plagiatsfall: "Laut deutschen Presseberichten hat ein Reporter des Tagesspiegels aus der New York Times abgeschrieben beziehungsweise unter seinem Namen einzelne Passagen daraus bloß übersetzt."

Weitere Medien, 04.07.2003

Keine Angst, gründet die europäische Föderation doch einfach - so könnte man Marcia Pallys (mehr hier) Artikel in der Berliner Zeitung zusammenfassen. Die Vereinigung Europas muss die Unterschiede der regionalen Sprachen und Kulturen nicht zerstören, selbst wenn Englisch zur Zweitsprache in Europa wird. "Für uns in Amerika kommt die Vorstellung, es handle sich bei unserer Kultur um eine Monokultur, ... ziemlich überraschend. Hier gibt es Hunderte von Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern, in denen man in anderen Sprachen als Englisch kommuniziert. Öffentliche Verlautbarungen werden oft in zwei bis fünf Sprachen abgegeben, nicht nur in den Großstädten. Man werfe einen Blick auf die Hmong-Gemeinden im Mittleren Westen und die 'Englisch-als Zweitsprache'-Kurse allüberall. Man sehe sich die aufkeimenden 'Roots'-Programme an, die in den USA geborenen Kindern helfen sollen, die Muttersprache ihrer Eltern zu lernen, ob Koreanisch oder Farsi." Europa brauche "keine gemeinsamen religiösen Feiertage und keine paneuropäische Liebe zu Benigni-Filmen", um eine Identität zu konstruieren. "Europa braucht ein gesetzliches und politisches Rahmenwerk, das religiöse, philosophische und geschmackliche Unterschiede zulässt, und eine zusätzliche lingua franca obendrein. Aber dieses Fundament ist schon lange vorhanden ..."

FAZ, 04.07.2003

Dietmar Polaczek hatte uns ja vor Monaten schon vor Berlusconi gewarnt. Der Mann macht gerne Witze, erläutert Polaczek heute in der Leitglosse: "Wenn irgendwo ein Fettnäpfchen steht, tritt er hinein und lässt keines aus. Er tritt kaum je zweimal in dasselbe. Kaum hat er mit einer Äußerung zu Israel die arabische Welt vergrätzt, besucht er offiziell die römische Moschee und begeistert die arabischen Diplomaten mit seinem Charme: Das war ja nicht so ernst gemeint. Kaum hat er sich wieder als Kommunistenfresser profiliert, lässt er den früheren KGB-Chef wissen: Das war ja nicht so ernst und jedenfalls nicht persönlich gemeint... Es ist alles nur ein Witz. Ist die ganze Person nur ein Witz?"

Auch Adolf Muschg, Präsident der Berliner Akademie der Künste, sieht sich durch die Affäre zu einem sehr kurzen Kommentar gedrängt: "Herr Berlusconi mag in Italien Rollen zu verteilen haben, in Europa nicht."

Lorenz Jäger nutzt eine neue europäische Regelung, welche die Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts verbieten will, zu folgender Überlegung: "In keinem Land der Welt kann man Gesetze gegen die 'Billigung, Leugnung oder Verharmlosung' des Archipels GULag oder gegen die Aufhetzung zum Klassenhass verabschieden. Eine Gleichbehandlung von Stalinismus und Nationalsozialismus vor dem Gesetz wäre unmöglich: Dem Widerstand der Intellektuellen gegen eine Kriminalisierung linksradikaler Ideen, und wären diese noch so gewalttätig, würde kein Regierungsentwurf standhalten."

Weitere Artikel: Martin Halter resümiert die erste viel beachtete Theatersaison der Intendantin Amelie Niermeyer in Freiburg. Hubert Spiegel schreibt zum Tod des Kritikers Reinhard Baumgart. Martin Kämpchen beschreibt die Politik der Symbole in der Auseinandersetzung zwischen den Religion in Indien. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Jazzflötisten Herbie Mann. Christian Schwägerl kritisiert die Aktionen von Greenpeace gegen genmanipulierte Lebensmittel als Panikmache. Dieter Bartetzko freut sich, dass der Schatz von Nimrud in Bagdad nicht verlorenging und wünscht sich nun Forschungen über die Herkunft der rätselhaften Kunstwerke.

Auf der letzten Seite wird aus einer demnächst erscheinenden Anthologie kolumbianischer Erzählungen ein Text des Autors Santiago Mutis über Gabriel Garcia Marquez abgedruckt. Andreas Rossmann fürchtet, dass die Stiftungskonstruktion für das Duisburger Lehmbruck-Museum zerbricht, weil die Beteiligung der Industrie- und Handelskammer der Stadt an dieser Stiftung gerichtlich in Frage gestellt wird. Auf der Medienseite berichtet Alexander Bartl, dass der notorische Wetterunternehmer Jörg Kachelmann über dpa jetzt auch die Zeitungen erobern will. Und Hajo Friedrich annonciert die Zustimmung der EU zum Kauf der Bundesligarechte durch die öffentlich-rechtlichen Sender.

Besprochen werden eine Ausstellung des Bildhauers Elie Nadelman im New Yorker Whitney Museum, der von Artur Brauner produzierte dokumentarische Spielfilm "Babij Jar" und Tage für Alte Musik im spanischen Aranjuez.