Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2003. Die FAZ hält den Achtundsechzigern vor, nichts gegen die Macht der Banken unternommen zu haben. In der NZZ fürchtet Faraj Sarkohi, den aus der laizistischen Despotie befreiten Geist des schiitischen Fundamentalismus. Die SZ führt auf eine Konzertreise durch das SARS-geplagte China. In der FR fürchtet Michael Eberth den obszönen Blick der Dana Horakova. Und die taz mag nicht an glückenden Sex glauben.

FAZ, 07.05.2003

Patrick Bahners kommt mit der Berliner Veranstaltung "1968 und die deutschen Unternehmen" zu einem "verheerenden Urteil" über die Achtundsechziger: Die Macht der Banken ist für sie einfach kein Thema gewesen. "Und haben sie sich etwa die Maßschneider vorgeknöpft? Was ahnt, wer über den Konsumterror jammert, vom Schrecken der Bügelfalte? Es konnte nichts werden aus der Revolution, weil der mächtigste Feind erst gar nicht identifiziert wurde." Schön auch der Vortrag von Klaus von Dohnahny, den Bahners so fasst: "Dreißig Jahre haben 'wir' verloren, weil mit den Schreihälsen - man glaubt es kaum - die Tradition der deutschen Bildungsbürger triumphierte, die 'ungeheure Arroganz gegenüber dem ökonomischen Prozess'."

Der Politologe Iring Fetscher schaltet sich in die Debatte um die angeschlagene Autorität der UNO mit dem Hinweis ein, dass Institutionen nicht allein deshalb sinnlos würden, weil sie nicht funktionieren. "Sonst wären ja auch Gesetze gegen Mord, Totschlag und Raub, die bekanntlich Tag für Tag übertreten werden, und Polizei, Gerichte und Strafverfolgung sinnlos."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg berichtet von den kulturellen Verwerfungen um den Röstigraben herum, die die BuchBasel als neue Konkurrenzmesse zum Genfer Salon du Livre ausgelöst hat. Im Kurzinterview beklagt der Historiker Hans-Ulrich Wehler, dass das türkische Außenministerium Ressentiments gegen die Bundesrepublik schürt, wie die FAZ aufgedeckt hat (mehr dazu hier). Gerhard Koch sieht angesichts der Opernkrise in Hamburg, Köln und Graz "Sittenverluderung und Einfallslosigkeit" um sich greifen. Michael Siebler fordert, dass sich auch Deutschland an den Kosten für den Wiederaufbau des irakischen Nationalmuseums beteiligt. Dass Polen Teilungsmacht wird, nimmt Gerhard Koch zum Anlass, Nationalheld Jan Sobieski zu porträtieren, der Europa schon einmal vor der "türkischen Gefahr" bewahrt hat. Hannes Hintermeier zollt dem publizistischen Coup seinen Respekt, den Merkur in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut als GoetheMerkur herauszubringen.

Ausgerechnet auf der Stilseite beschäftigt sich Ingeborg Harms mit dem Masochismus, dem Graz (Geburtsstadt von Sacher-Masoch) eine "reiche und klug konzipierte" Schau in der Neuen Galerie widmet. Jürgen Dollase goutiert die Klassik der Kochkunst. Auf der Medienseite lässt Siegfried Stadler im Vergleich der ARD-Produktionen zum 17. Juni "Zwei Tage Hoffnung" besser abschneiden als "Tage des Sturms".

Besprochen werden der Film "City of Gods" des Brasilianers Fernando Meirelles ("der alle Vorstellungen, wie lateinamerikanisches Kino aussehen könnte, locker über den Haufen wirft"), Vladimir Malakhovs "glanzvoller" Ballettabend in der Berliner Staatsoper, die Ausstellung "Sieben Mal Malerei" im Leipziger Museum der bildenen Künste, Roland Schäfers Inszenierung "Kaltes Kind" in Dortmund und Bücher, darunter Marcel Atzes Studie "Unser Hitler" und Pierre Bayles "Historisches und kritisches Wörterbuch" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 07.05.2003

Faraj Sarkohi (mehr hier) hinterfragt die Möglichkeiten einer "Renaissance der Schiiten im Irak" und erzählt eine Geschichte aus Tausend und einer Nacht: "In dem bekannten orientalischen Märchen stellt der Geist, den Aladin aus der Wunderlampe befreit, seine Zauberkräfte in den Dienst seines Retters. Zwei amerikanische Präsidenten, der liberale Jimmy Carter in Iran und der konservative George Bush im Irak, befreiten den Geist des schiitischen Fundamentalismus aus der Despotie laizistischer Herrscher. Doch statt auf Dankbarkeit zu treffen, wurden beide mit Feindschaft konfrontiert."

Weitere Artikel: Max Nyffeler stellt das Orchestre Philharmonique du Luxembourg, dass sich mit ungewöhnlichen Initiativen sein "Publikum von morgen" sichert: "Die Orchestermusiker gehen neuerdings in die Schulen, um die Stücke im Musikunterricht vorzustellen und die Kinder mit den Instrumenten vertraut zu machen." Auch in Schweden heißt es sparen, sparen, sparen - und das vor allem am Kulturetat, weiß Aldo Keel zu berichten. "Bedroht ist auch die schwedisch-dänische Biennale "Kulturbrücke", die im Jahre 2004 zum dritten Mal stattfinden sollte. Bereits zweimal hat das Festival mit seinem reichhaltigen Programm die Menschen auf beiden Seiten des Öresunds einander näher gebracht. Die erste Ausgabe fand vor bald drei Jahren zur Eröffnung der Öresundbrücke statt, die Kopenhagen mit Malmö verbindet. Vor einigen Tagen wurde nun bekannt, dass das Budgetdefizit der Region Skane mit über 900 Millionen Kronen doppelt so hoch wie erwartet ausfallen wird, weshalb an allen Fronten, auch im Gesundheitswesen, gespart werden muss."

Besprochen: ein verschämter Jürg Huber lauschte dem Können des Flötisten James Galway in der Zürcher Tonhalle, Michael von Graffenried zeigt "Zwischen Welten" - Panoramafotos aus Algerien und der Schweiz - im Kunstmuseum Bern, sowie viele Bücher: Louis-Ferdinand Celines (mehr hier) "Lumpenroman" "Reise ans Ende der Nacht"in einer deutschen Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und Lucette Destouches weniger poetisches "Mein Leben mit Celine", das Logbuch der "Iwakura-Mission" des japanischen Sondergesandten Kume Kunitake in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Jahre 1873, ein Büchlein mit Kafka-Zeichnungen und Geschichten des zu einem Klassiker heranwachsenden tschechischen Autoren Bohumil Hrabal (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 07.05.2003

Die FR dokumentiert Auszüge eines Aufsatzes, den der Chefdramaturg des Hamburger Schauspielhauses, Michael Eberth, als momentane Positionsbestimmung des Hauses geschrieben hat. Es geht darin einerseits um die ungeliebte Kultursenatorin Dana Horakova, ihrem "Kunstbegriff, der die Werte unsrer Kultur ohne Rücksicht auf Verluste dem schönen Spektakel opfert", und was dem entgegenzusetzen sei: "Wenn es wahr ist, dass unsere Welt an der Schwelle zu einem globalen Umbruch steht, und wenn unsre Art, mit eingezogenen Schultern in einer schön dekorierten Scheinwelt zu leben, die Angst vor dem Kommenden offenbart - dann sollten wir damit beginnen, gegen einen obszönen Blick, der uns in unsre Verblendung bannt, Formen des Widerstands zu entwickeln. Ein in der Selbst-Umkreisung erstarrtes Theater kann daraus neue Begründungen schöpfen. Und eine im Sparwahn erstarrte Kulturpolitik kann beweisen, dass ihr die Zukunft des Menschen am Herzen liegt."

Stephan Hilpold widmet sich ausführlich der Ausstellung "Phantom der Lust" in der Neuen Galerie des steirischen Landesmuseums Johanneum, die "mit über 1000 Exponaten einen wahrhaft enzyklopädischen Zugriff auf 'Visionen des Masochismus in der Kunst' bietet". Yvonne Strecke berichtet vom Dokumentarfilmfestival "Visions du Reel" im Schweizerischen Nyon, und in der Kolumne Times mager erklärt Rudolf Walther, warum der berühmte Fotograf Henri Cartier-Bresson den Ort einer Pariser Ausstellung seiner Werke unzulänglich findet und glaubt, ein "Programmloch füllen zu müssen".

Besprochen wird schließlich noch die Ausstellung "Our true intent is all for your delight - The John Hinde Butlin's Photographs" in der Berliner Galerie C/O.

TAZ, 07.05.2003

Die Bild-Bildeserie mit Herrn Effenberg und Madame Strunz hat den Literaturredakteur der taz, Dirk Knipphals, zu einem deutenden Tagebuch veranlasst. Eintrag 29.4.: "Die Plakate beim Heraustreten aus der U-Bahn gesehen. Im Kopf sofort Ambivalenzen. Einerseits: Bilder, die vom glückenden Sex erzählen sollen, haben immer etwas Verdächtiges. Andererseits: Die Verbindung mit den Sprüchen ist eine geniale Idee. "Liebe kennt kein Fairplay." - "In der Liebe bin ich Egoist." Vieles an dieser Kampagne ist absehbar, das nicht. Es betont den asozialen und amoralischen Aspekt, den die Liebe eben auch hat. Mal nachschlagen, wie sich Amour fou schreibt. Ist eben nicht alles nur Beziehungsprojekt mit Weekend-Feeling und Joghurtessen im Einfamilienhaus. (...)Vorabdruck nachgelesen. Banal. Aber die Bilder haben was!"

Pier Paolo Pasolinis De-Sade-Verfilmung "Salo oder Die 120 Tage von Sodom" kommt jetzt wieder in die Kinos. Dietrich Kuhlbrodt erinnert sich an den Wirbel, den der Film 1975 in Deutschland verursachte. Schnittauflage Nummer 4 schrieb damals vor: "In der Bildfolge, wenn Blanges mit dem Fernglas durch Fenster die brutalen Vorgänge auf dem Hof beobachtet, ist das Zunge-Abschneiden an einem Jungen auf ein Minimum zu reduzieren."

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg stellt eine Monografie der Fotografin Candida Höfer vor, die Deutschland in diesem Jahr auf der Biennale in Venedig vertritt. Jan Engelmann berichtet von einer "desillusionierenden" Veranstaltung zum Thema "1968", die im Berliner Springerhochhaus stattfand. Unterm Strich werden schließlich die Gewinner der Kurzfilmtage Oberhausen gemeldet.

Und hier TOM.

SZ, 07.05.2003

Der Pianist und Journalist Tim Ovens (mehr hier) berichtet von einer vierwöchigen Konzertreise durch China, bei der es ihm gelegentlich dann doch, SARS-bedingt, etwas mulmig wurde. "Ein Konzert und ein Klavierkurs mit ausgewählten Klavierstudenten sind vereinbart. Beim offiziellen Empfangsessen erzählt mir Frau Xie, die Leiterin der Klavierabteilung, mit betretener Miene, soeben habe sie die Weisung erhalten, dass an den Hochschulen keine öffentlichen Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Das Konzert muss ausfallen. Sie habe aber einen Vorschlag: ich könne doch trotzdem am Vormittag auf der Bühne proben und mein Programm durchspielen. Die Türen zum Saal würden währenddessen einfach offen stehen. Eine klassisch chinesische Lösung des Problems."

Weitere Artikel: In Vorbereitung des SPD-Parteitags beschäftigt sich Sonia Zekri mit der sogenannten Basis ("Die Basis ist kein Birkenwald: Wie man hineinruft, so schallt es noch lange nicht wieder hinaus"). Reinhard J. Brembeck porträtiert irgendwie ehrenrettend die Violinistin Anne-Sophie Mutter, die im Juni auch schon 40 wird. Jürgen Berger zeigt am Beispiel von Amelie Niermeyer, Freiburg, und Barbara Mundel, Köln, wie man sich derzeit einmal wieder "unbequemer Theaterintendanten entledigt". "bgr" schließlich wirbelt in einem kleinen Text allerlei Staub auf und durcheinander.

Heute ist außerdem Musiktag. Vorgestellt werden eine DVD mit historischen Filmdokumenten großer Musiker - Mitschnitte von Konzerten oder TV-Auftritten aus den fünfziger und sechziger Jahren, die Violinistin Ulla Schneider, die mit der Barockgeige den Mozart-Zeitgenossen Joseph Schuster entdeckt, eine Tondokumentation sämtlicher erhaltener Silbermann-Orgeln, sowie CDs von Alexander Vynograd, Juan Diego Florez, Ragna Schirmer und Eduard von Beinum.

Des weiteren werden besprochen: das Filmepos "City of God" von Fernando Meirelles und Katia Lund, die Inszenierung zwei neuer Einakter von Woody Allen in New York und Bücher, darunter Jeffrey Eugenides' Familienroman "Middlesex" und ein Band mit späten Arbeiten von Ernst Jünger (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).