Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2003. Diedrich Diederichsen obduziert in der SZ den Pop und seinen Journalismus. Die FAZ bringt eine unbekannte Kriegsreportage von Albert Camus. Die Zeit besucht die Autostadt von VW. Alle kommentieren den Kauf des Berlin Verlags durch Bloomsbury.

Zeit, 24.04.2003

Christof Siemes besucht die VW-Autostadt, mit der der Konzern die Menschheit und mehr noch sich selbst beglückt: "Sechs Millionen Besucher in drei Jahren, die zweiterfolgreichste Freizeiteinrichtung der Republik! 15.500 Zeitungsartikel!" 15.501.

Weitere Artikel: Thomas Mießgang schickt eine Reportage aus der Stadt Memphis/Tennessee, die sich endlich wieder ihres bedeutendsten musikalischen Erbes, nämlich der Soulmusik des Stax-Labels erinnert. Robert Leicht kommentiert den Beschluss des Papstes, doch kein Abendmahl mit den Protestanten zu feiern ("War je etwas anderes zu erwarten?"). Klaus Harpprecht skizziert die geopolitische Lage nach dem Irak-Krieg und prüft die Haltbarkeit der Achse Paris-Berlin-Moskau. Peter Kümmel unternimmt eine Tour d'horizon durch neue Theaterstücke von Caryl Churchill, Christian Kracht, Ulrike Syha und Christoph Marthaler in den deutschen Theatern. Jens Jessen porträtiert den Humoristen Helge Schneider als letzten Dadaisten. Konrad Heidkamp schreibt zum Tod von Nina Simone.

Besprochen werden eine Austellung des belgischen Malers Luc Tuymans in Hannover, Oskar Roehlers neuer Film "Der alte Affe Angst" (mehr hier und hier) und Debussys Oper "Pelleas und Melisande" in Basel und Hannover.

Aufmacher des Literaturteils ist Ulrich Greiners Besprechung von Cees Nootebooms wieder aufgelegtem Erstlingsroman "Philip und die anderen".

Im sehr lesenswerten Dossier recherchieren mehrere Zeit-Autoren zu den Museumsplünderungen in Bagdad und den Theorien, wer dahintersteckt. Im Leben erzählt Wladimir Kaminer von seiner Einbürgerung als Deutscher.

SZ, 24.04.2003

Popjournalist Diedrich Diederichsen, dessen Buch "Sexbeat" von 1985 jetzt wiederveröffentlicht wird, erklärt im Interview den Popjournalismus für tot. "Dass Leute ... die aus einem emphatischen Pop-Interesse heraus versucht haben, das große Ganze abzuleiten, dass es diese Leute trotz ihrer Einflussmöglichkeiten nicht geschafft haben, im Feuilleton hegemonial zu werden", habe jüngst erst die Debatte im Zuge der Einstellung des SZ-Jugendmagazins jetzt und der Berliner Seiten der FAZ gezeigt. "Das ist ein strukturelles Problem. Aus der Musik heraus alles andere abzuleiten, also dann auch diesen Film gut zu finden und jenen Politiker zu verachten, das scheint nicht mehr möglich zu sein. Nicht, weil es die Journalisten nicht können, sondern weil es dafür kein Korrelat im echten Leben gibt."

Rainer Erlinger hat sich Gedanken über die Lungenkrankheit SARS (mehr hier und hier) gemacht: "Noch nie in der Geschichte der Virologie habe man so schnell einen neuen Erreger identifizieren können, sagt Hans-Dieter Klenk, Präsident der Gesellschaft für Virologie. Gelungen sei das dank der weltweiten Zusammenarbeit von Labors, die miteinander vernetzt die aktuellen Befunde in Echtzeit austauschen und diskutieren können. Wahrscheinlich konnte sich aber auch noch nie eine völlig neue Krankheit innerhalb so kurzer Zeit so weit ausbreiten. Vermutet wird der erste Fall am 16. November 2002 in der chinesischen Provinz Guangdong, Jetzt, fünf Monate später, sind Erkrankte auf fünf Erdteilen gemeldet. Das Virus reist real per Flugzeug, die Information, die seiner Bekämpfung dient, parallel dazu via Internet. Es ist, als hätten sich die Welten getroffen bei SARS, eine alte und eine neue.

Den Nachruf auf SZ-Reporter Herbert Riehl-Heyse schreibt Gernot Sittner auf der Seite 3.

Weitere Artikel: Jörg Häntschel berichtet vom beispiellosen Gigantismus US-amerikanischer Museumsplanung, die jetzt an ihre finanziellen Grenzen stößt. Friedrich Kassebeer schreibt über die Prozesse gegen 75 kubanische Schriftsteller und Intellektuelle, in deren Verlauf sich zeigte, dass Kubas Kulturszene jahrelang von Agenten durchsetzt war. Helmut Schödel regt sich über die Spielplanpläne von Burgtheater-Direktor Klaus Bachler auf. Fritz Göttler freut sich über die Restaurierung des Heny-Ford-Westerns "Bucking Broadway" von 1917. Alexander Görlach berichtet von seiner Privataudienz beim Papst. Eva-Elisabeth Fischer gratuliert dem Schauspieler Helmut Lohner zum 70. Geburtstag. Ijoma Mangold kommentiert die Nachricht, dass Arnulf Conradis soeben von Random-House zurückgekaufter Berlin-Verlag jetzt vom Londoner Verlagshaus Bloomsbury als hundertprozentige Tochter übernommen wird. Gemeldet wird außerdem, dass der Akademische Senat der Berliner Humboldt-Universität gestern in einem beispiellosen Akt beschlossen hat, zum Wintersemester keine neuen Studenten aufzunehmen, womit er auf die Ankündigungen des Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD) reagiert, den Etat der Universitäten vom Jahr 2006 an um 200 Millionen Euro zu senken.

Besprochen werden Oskar Roehlers neues Psychodrama "Der Alte Affe Angst" (hier ein Interview mit Roehler), David Twohys Film "Below" ("kluge submarine Versuchsanordnung"), die Party-Performance "What's wrong?" von She She Pop im Hamburger Westwerk ("der gelassene Umgang mit menschlichen Konflikten, der dieser satirischen Lebenshilfe von She She Pop zugrunde liegt, ist allemal eine Alternative zum psychologischen Tamtam des bürgerlichen Großdramas", wie Till Briegleb findet) und Bücher, darunter eine Monografie der Architekturfotografin Candida Höfer (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 24.04.2003

"Der Berlin Verlag war ja nie wirklich unabhängig", sagt der Verleger Arnulf Conradi im Interview über sein Haus, dass nun beim Londoner Bloomsbury-Verlag untergekommen ist. "Mehr als 25 Prozent habe auch ich an dem Verlag nie gehalten...Völlige Unabhängigkeit ist eine Illusion.... Bloomsbury passt von seinem Zuschnitt her besser zu uns. Es ist ein sehr viel kleinerer Verlag als Random House, ein Verlag, der in vielerlei Hinsicht verblüffende Parallelen zu uns aufweist. Beispielsweise gibt es bei den Autoren ein hohes Maß an Überschneidungen - Margaret Atwood oder Nadine Gordimer sind auch Bloomsbury-Autoren. Nicht zuletzt verbindet mich mit Liz Calder und Nigel Newton, die 1986 Bloomsbury gegründet haben, eine enge Freundschaft."

Weitere Artikel: Christian Thomas kniet vor dem Schriftsteller Bela Balazs ("Jugend eines Träumers"), den der Berliner Verlag das Arsenal wiederentdeckte ("Bela Balazs war in manchem seiner Sätze ein Ciscisbeo einer schlafwandlerisch sicheren Verfremdung der scheinbar selbstverständlichen Sachen."). Ulrich Speck war auf einer Tagung über transatlantische Beziehungen in Elmau, Alexander Kluy schreibt über den "Berliner Alptraum" um die Realisierung von Peter Zumthors Entwurf für das Internationale Besucher- und Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors", und in der Kolumne Times Mager erzählt Jürgen Roth, wie er Otto Rühles (mehr hier) "Illustrierte Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats" in einer Bananenkiste fand.

Besprochen werden George Clooneys Regiedebüt "Confessions Of A Dangerous Mind", Handan Ipekcis Film "Hejar", eine Ausstellung mit Architekturzeichnungen im Münchner Architekturmuseum, die Oliver Herwig als wunderbare Schau feiert, die Zeichenkunst kurz vor ihrem Verschwinden im digitalen Einheitsbrei von Computer-Konfektionsprogrammen zeige, und John Irvings neuer Roman "Die vierte Hand" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 24.04.2003

Manfred Riebe hat sich kritisch mit Studien befasst, die belegen wollen, dass fiktive Gewaltdarstellungen zu realer Gewalttätigkeit Anreiz geben: "Dekontextualisierung ist ein wiederkehrendes Merkmal in Gewaltwirkungsstudien - so auch in der ... Schlüsselstudie von Jo Groebel, die "pure Gewaltakte" als "Einzelbilder ohne größere szenische Einbindung" definiert. Bekannt wurde Groebels "Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms" durch die griffige Zahl von 70 Morden pro Tag. Ein realer Zuschauer jedoch kann so viele Tote beim besten Willen nicht zählen, weil die Studie auf einem Simultan-Zusammenschnitt von mehreren Programmen basiert. Die Prüfer schaffen erst die Versuchsanordnung, deren Ergebnisse sie anschließend beklagen."

Das Schweizer Dokumentarfilmfestival "Visions du Reel" hat es schwer, "sich gegen die Masse an dummen und unreflektierten Fernsehbilder zu wehren, zumal auch sein Material, seine Filme, immer häufiger reine TV-Auftragsproduktionen sind", schreibt Veronika Rall in ihrer Vorschau. "Die Vermeidung 'dummer Bilder' produziert nicht notwendig intelligente. Angesichts der Bilder vom Krieg habe Georg Seeßlen von der 'Militarisierung der Wahrnehmung unter der Maske der Kriegsgegnerschaft' geschrieben. "Ähnlich verhält es sich mit dem Voyeurismus, der sich unter dem Schleier der Betroffenheit versteckt, dem insbesondere der digital produzierte Dokumentarfilm heute nur selten eine ästhetische oder politische Strategie entgegensetzt."

Besprochen werden Tim Storys Film "Barbershop", Joachim Deutschlands Debütalbum "Musik wegen Frauen", das Thomas Winkler über den "Primat des Proll-Humors" grübeln lässt, und Oskar Roehlers Spielfilm "Der alte Affe Angst".

Und schließlich TOM.

NZZ, 24.04.2003

Harry Potter und die Folgen. Der Berlin Verlag schlüpft unter die Fittiche des Bloomsbury-Verlags, der mit Geld aus den Harry-Potter-Büchern auch in Deutschland auf Shoppingtour geht. Joachim, Güntner kommentiert: "Arnulf Conradi scheint erneut glänzend gepokert zu haben: Er behält als Leiter des Berlin-Verlages auch künftig 'volle verlegerische Freiheit'." Und noch etwas: "Ein Kinderbuchprogramm soll ins Leben gerufen werden. Was das für die deutschen Ausgaben von Harry Potter heisst, sobald die laufenden Lizenzverträge mit dem Carlsen-Verlag kündbar sind, kann sich jeder selbst ausrechnen."

Und sonst nur Besprechungen: Marc Zitzmann bespricht zwei Inszenierungen von Alexander Ostrowskis "Schuldlos Schuldige" und "Der Wald" in Paris. Dabei hat Ostrowski (mehr hier) immer einen "Blick auf eine schreckliche Welt, ein erstaunter Blick, manchmal bewundernd, immer großzügig. Der Idiotenblick von Myschkin." Frank Schäfer feiert die Auferstehung des Punk in Gestalt der Platte "Scandinavian Leather" der norwegischen Band Turbonegro, und Hanspeter Künzler bespricht das erste Soloalbum es Produzenten Daniel Lanois, der sonst Größen wie U2, Bob Dylan oder Peter Gabriel "zu neuen Schwung" verhilft.

Und Bücher: Angela Schader bespricht Kader Abdolahs Roman "Die geheime Schrift" (mehr hier), Felix Philipp Ingold begutachtet "Die russische Idee" von Tomas Spidlik, Roman Bucheli liest Iso Camartins (mehr hier), und Andreas Nentwich bespricht den Roman "Montgomery" von Sibylle Lewitscharoff, die sich so "einen großen Brocken Deutschland von der Seele" wälzte (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 24.04.2003

Eine bemerkenswerte Reportage eines eingebetteten Reporters hat die FAZ aufgestöbert: Albert Camus' bisher unbekannter Bericht aus dem besetzten Deutschland von 1945 für das Resistance-Blatt Combat. Besonders frappierend dabei: Der deutsche Wille zur Idylle. "Die auffälligste Eigenschaft der Deutschen unter der Besatzung ist, immer noch nach den ersten Eindrücken geurteilt, ihre Natürlichkeit. Nach diesen fünf Jahren, in denen so viele Dinge, die alles, nur nicht natürlich, zu sein schienen, muss man darüber tatsächlich staunen. Die Menschen im Süden Deutschlands leben neben den französischen Soldaten, als hätten sie seit je so gelebt. Ich habe (in Uniform) bei Einheimischen gewohnt. Man hat mich dort herzlich begrüßt, man wünschte mir eine gute Nacht, man sagte mir, dass der Krieg keine gute Sache war, dass der Frieden besser sei - vor allem der ewige Frieden."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier verabschiedet den "Reporter der heiteren Abgründe", den gestern verstorbenen SZ-Journalisten Herbert Riehl-Heyse. Auch wenn die Nachrichtenlage noch sehr unsicher ist, eröffnet Dieter Bartetzko eine Serie, in der vermisste irakische Kunstwerke vorgestellt werden sollen - von der 4500 Jahre alten Harfe von Ur bis zur 5200 Jahre alten Uruk-Vase. Zwei Monate nach Öffnung des vatikanischen Geheimarchivs kommt Thomas Brechenmacher zu dem Schluss, dass Kardinal Pacelli (mehr zum Beispiel hier) zwar kein Held gewesen sei, Hitler aber immerhin nicht unterstützt habe. Felicitas von Lovenberg begrüßt die freundliche Übernahme des Berlin Verlages durch den britschen Bloomsbury, die sich dank des Harry-Potter-Erfolges Autoren wie Nadine Gordimer, Margaret Atwood und Jeffrey Eugenides oder Will Self leisten können. Andreas Rossmann erzählt, wie Deutschlands größtes Filmtheater, die Lichtburg in Essen, erfolgreich den Multiplexen und der Verödung der Innenstädte trotzt. Regina Mönch füchtet, dass die Berliner Humboldt Universität zum Wintersemester keine neue Studenten mehr aufnehmen wird. Erna Lackner gratuliert dem Schauspieler Helmuth Lohner (mehr hier) zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite stellt Jörg Becker den indischen Medien-Mogul Subhash Chandra vor, der mit seinem Zee-TV den indischen Mittelstand derartig erfolgreich mit anspruchsloser Unterhaltung bedient, dass sogar Rupert Murdoch klein beigeben musste.

Besprochen werden Oskar Roehlers Film "Der Alte Affe Angst", Jossi Wiehlers "traumklare" Inszenierung von "Pelleas et Melisande" in Hannover, eine Erich-Mühsam-Ausstellung im Lübecker Buddenbrookhaus, die Schau "How Human: Life in the Post-Genome Era" im International Center of Photography in New York und Bücher, darunter Henning Mankells neuer Roman "Tea-Bag" und Manuel Rivas Erzählungen "Die Nacht, in der ich auf Brautschau ging" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).