Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2003. Die Zeit besucht New Yorker Linke - manche sind gegen den Krieg, manche dafür. In der SZ würdigt Slavenka Drakulic den "kleinen Slobodan" Zoran Djindjic. Die FR will Gerhard Schröders morgige Rede schon jetzt an Franklin D. Roosevelts Antrittsrede von 1933 messen. In der taz verteidigt Todd Haynes das Melodram als kritisch und traurig zugleich. Die NZZ bewegt sich mit Michael Lentz auf leisen Versfüßen.  

Zeit, 13.03.2003

Jörg Lau durfte auf Redaktionskosten nach New York fliegen und besuchte bei der Gelegenheit ein paar Intellektuelle der Stadt - linke Kriegsgegner wie Katrina vanden Heuvel von der Nation, dem Zentralorgan der Pazifisten, aber auch linke Skeptiker wie Todd Gitlin (mehr hier und hier) und linke Kriegsbefürworter wie Paul Berman, dessen gerade erscheinendes Buch "Terror and Liberalism" (mehr hier und hier) von sich reden macht. Nebenbei notiert Lau eine Umkehrung der Vorzeichen: Linke führen plötzlich Vokabeln wie "Stabilität in der Region" und "Balance der Mächte" im Munde, "wohl wissend, dass Stabilität und Balance im Nahen Osten für die meisten Menschen Unfreiheit und Repression bedeuten. Die linken Parolen von der Befreiung der unterdrückten Massen und der Demokratisierung des Mittleren Ostens haben sich hingegen die Falken der Regierung Bush auf die Fahne geschrieben."

Weitere Artikel: Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel (mehr hier) fürchtet, dass die Amerikaner in ihrem Kriegswillen alle internationalen Rechtsstandards fallen lassen. Jens Jessen will Maxim Billers Roman "Esra" in der Leitglosse nicht als Literatur anerkennen, weil den darin porträtierten türkischen Frauen, die gegen das Buch klagten, die Freiheit genommen wurde, "sich nicht gemeint zu fühlen". Die Journalistin Uta von Kardoff erinnert sich an ihre Zeit als Volontärin in der Hannoverschen Presse, wo sie Rudolf Augstein kennen lernte, der damals noch schriftstellerische Ambitionen hegte. Hanno Rauterberg freut sich über die Widereröffnung der Wiener Albertina mit einer Edvard-Munch-Ausstellung.

Besprochen werden Verdis "Troubadour" in Hannover, eine Heiner-Goebbels-Uraufführung der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle, der Film "Adaptation", Todd Haynes' Melodram "Far from Heaven" und Ry Cooders neue CD "Mambo Sinuendo" (Hörproben).

Aufmacher des Literaturteils ist Hubert Winkels' Besprechung von Jonathan Safran Foers Roman "Alles ist erleuchtet" (Leseprobe). Im Dossier schildert Stefan Willeke den Wiederaufbau der Brücke von Mostar.

SZ, 13.03.2003

Die Schriftstellerin Slavenka Drakulic (mehr hier) hält den gestern ermordeten serbischen Premierminister Zoran Djindjic nicht nur für einen Politiker, "der unter den Bedingungen des Balkan arbeiten musste. Er war vielmehr selbst zu einem balkanischen Politiker geworden." Wer ihn besser kannte, schreibt Drakulic, "nannte ihn den 'kleinen Slobodan', nicht nur, weil er so heftig nach Macht begehrte, sondern auch, weil sein Verhältnis zur Demokratie sehr flexibel war. Und doch lag, in den Augen der Welt, sein wichtigstes Verdienst in der Verhaftung von Slobodan Milosevic. Djindjic zögerte nicht, ihn an das Jugoslawien-Tribunal auszuliefern. Er hatte verstanden, dass dieses Gericht die Voraussetzung war, um einen Zugang zum demokratischen Europa zu finden... Es ist schwierig zu sagen, wer Zoran Djindjic tötete, die politische Mafia oder die 'Tabakmafia'. Es sei, wie es sei: Auch dieser Tod offenbart, dass Serbien noch immer zum Wilden Osten gehört."

Per Olov Enquist sieht dagegen die ganze Welt gegen den Großen Kameraden von Washington aufmucken. "Es ist ein Murren, ein Toben, ein anschwellender Volksaufstand gegen die Vorstellung, dass es eine globale Führungsmacht geben soll, dass jemand das Recht haben soll, im Namen aller zu sprechen, sich über andere hinwegzusetzen, alles zu bestimmen." Er freut sich über "Großmütter, Kinder, Linke und Rechte vereint in einer Demonstration", in der sich für ihn unterschwellig noch etwas anderes ausdrückt als der Protest gegen den Irakkrieg: "Wir fügen uns nicht. Wir sind keine Untertanen des Weißen Hauses."

Weitere Artikel: Für Clemens Pornschlegel geht das autoritäre Gerede der französischen Innenpolitik an der realen sozialen Misere der Vorstädte vorbei. Knuth Hornboge blickt zurück auf zwanzig Jahre Swatch ("So genial hat es das Marketing nie wieder geschafft, einen Wegwerfartikel durch Musealisierung vor dem Müll zu bewahren."). Fritz Göttler erinnert an den verstorbenen amerikanischen Filmregisseur Stan Brakhage. Alex Rühle beobachtet einen hormonell euphorisierten Rainer Langhans beim Verlassen eines TV-Containers, in dem er eine Woche lang für die Doku-Soap "Kommune - Fünf Frauen und ein Mann" mit seinen fünf Frauen kameraüberwacht gewohnt, diskutiert, gekocht und Müll getrennt hat.

"bern" berichtet über das bevorstehende Ende des finanziellen Engagements der Bertelsmann-Stiftung an der Universität Witten/Herdecke. Ralph Hammerthaler war auf einer Lesung unverwirklichter Drehbücher im Berliner Tränenpalast, auf der Peter Märtesheimer zugab, dass es zu Fassbinders Lebzeiten überhaupt kein Rosa-Luxemburg-Drehbuch, sondern bloß ein Treatment gab. Gottfried Boehm eröffnet den XXVII. Deutschen Kunsthistorikertag in Leipzig, und Lothar Müller findet: "Der Kanzler nicht zu beneiden."

Besprochen werden die Uraufführung von Pierre Bartholomees Oper "Oeudipe sur la route" am Brüsseler Opernhaus "La Monnaie", Alan Parkers neuer Film "Das Leben des David Gale", Todd Haynes' Melodram "Dem Himmel so fern" und Maxim Billers neuer Roman "Esra" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 13.03.2003

Alexander Kluy kommentiert die erste Trendstudie des Designhauses "Stilwerk", die die Zukunft des Wohnens untersucht: "In Zeiten der Krise wird aus der eigenen Wohnung eine feste Burg. Rezession steigert sich zur Regression. Hier, scheinbar unbeobachtet, kann man alle zivilisatorischen Bande fahren lassen. "Mood-Management" und "Rekreationsnester zum Entspannen" laden ein, sich in eine atmende Schwimmkerze im "Il Bagno Alessi" zu verwandeln oder die eigene niedergedrückte Seele in einem Akt der Psychohygiene in "BD Relax", einer Kombination aus Leder-Schlafsack und Liege, zu läutern."

Peter Michalzik bereitet uns auf die morgige Rede unseres Bundeskanzlers vor, die er mit Franklin D. Roosevelt Antrittsrede von 1933 vergleicht. Damals sei die Industrieproduktion gegenüber 1929 um 50 Prozent gefallen. "Die Vereinigten Staaten erlebten, was als die Große Depression in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat. Die meistdiskutierte Frage vor Roosevelts Rede war, ob er eine grundlegende politische Wende herbeiführen kann. Der neugewählte Präsident tat, was in seiner Macht stand, um genau diesen Eindruck zu erwecken." 

Weitere Artikel: Hinter der Standortdiskussion um die Frankfurter Buchmesse verbirgt sich für Christoph Schröder die Frage nach der Positionierung des Buchs zwischen Kulturgut und austauschbarer Handelsware, die Kolumne Times Mager umkreist die Frage, ob Hegel übertrieben hat oder am Ende doch George Bush, und für Daniel Kothenschulte ist Todd Haynes' "wunderbares Melodram" "Dem Himmel so fern" der Beweis, dass man heute noch Filme machen kann wie Douglas Sirk.

Bespochen werden die erste deutsche Retrospektive des kanadischen Künstlers Rodney Graham im Düsseldorfer K21, die Lyrik-Tagung "Grenzüberschreitung" auf Schloss Elmau und Hal Sirowitz' Hommage an die jiddische Mamme "Sagte Mutter" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 13.03.2003

"Das Melodrama ist eine radikale, populäre Form, einerseits äußerst banal und bürgerlich, andererseits ausgesprochen kulturkritisch und rettungslos traurig. Ich finde, das ist eine ziemlich aufregende Kombination" sagt Todd Haynes im Gespräch mit Manfred Hermes über seinen neuen Film "Dem Himmel so fern". "Man kann heute sicher vieles aussprechen, nicht zuletzt im Fernsehen. Aber deshalb hat sich an unseren Ängsten, die sehr tief sitzen, kaum etwas geändert... Im Grunde leben wir heute in einem politischen Klima, das die Fünfziger- aussehen lässt wie die Sechzigerjahre, woran der unverfrorene Radikalkonservatismus der Bush-Regierung sicher nicht unschuldig ist."

Weitere Artikel: Angesichts der Kino-Erfolge von Jennifer Lopez und Salma Hayek mit "Manhattan Love Story" und "Frida" blickt Cristina Nord zurück auf Zeiten, als es im amerikanischen Kino noch nicht so cool war, hispanischer Abstammung zu sein. Brigitte Werneburg informiert, wie man in New York unliebsame Friedensaktivisten wie den Autor Lyte Shaw und die Künstlerin Emilie Clark schikaniert. Auf der Medienseite berichten Heide Platen und Steffen Grimberg, dass ausgerechnet die Landesregierung unter Roland Koch die "Frankfurter Rundschau" per Bürgschaft vor dem Ruin retten soll.

Besprochen werden Roberto Beninis "Pinoccio"-Verfilmung und Alan Parkers Film "Das Leben des David Gale".

Und TOM.

NZZ, 13.03.2003

Die NZZ bringt heute nur Besprechungen. Die ausführlichste gilt dem Gedichtband "Aller ding" von Michael Lentz. "Der vage Anschein von Ordnung ist immer subversiver als ihre demonstrative Zerstörung", schreibt Beatrix Langner da, "und so schleicht sich auch einmal ein eleganter Jambus ein, kommen auf leisen Versfüßen durch die Hintertür der Anarchie konformistische Momente wieder herein, aus Sehnsucht nach dem verlorenen Glück: 'Einmal noch gerne', so ruft Lentz 'die immergrüne mutter' an, möchte er 'konstant im zeitfluss wittern sprechen'. Etwas wie Getragenheit hält dieses Poem über das Mysterium des Sterbens, 'ohne rütteln ohne spreißfuß', in einem hölderlinisch zarten Klang." Mehr darüber in der Bücherschau ab 14 Uhr.

Besprochen werden ferner eine Ausstellung über den Schuhkünstler Manolo Blahnik im Design Museum London, das Album "Statues" von Moloko (auf deren Homepage keine Hörproben zu finden sind), "Reasons" - das zweite Soloalbum des Ex-Spice-Girls Mel C., ein Band mit Gedichten von John Ashbery, der Roman "Sommerweide" von Guido Bachmann, ein Band über den Architekten Rafael Vinoly, der mit dem Twin-Towers-Entwurf der Gruppe Think bekannt wurde und ein Konzert mit Till Fellner, Heinz Holliger und dem Zürcher Kammerorchester.

Claudia Schwartz hat im übrigen einer Pressekonferenz beigewohnt, in der Friedrich-Carl Flick die ersten anderthalb Jahre seiner "Stiftung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz" bilanzierte.

FAZ, 13.03.2003

Eine Meinungsumfrage der Hindustan Times hat gezeigt, dass "die gebildete Mittelklasse einen Krieg missbilligt. 87 Prozent der Befragten finden, ein Krieg gegen den Irak sei nicht gerechtfertigt, 92 Prozent glauben gar, ein solcher Krieg könne ihr Leben unmittelbar belasten" berichtet Martin Kämpchen. "Vir Sanghvi, ein angesehener Journalist, bewertet dies als Folge der Enttäuschung darüber, wie Amerika nach dem 11. September den Terrorismus bekämpft habe. Die Tatsache, dass die Regierung Bush den Terror, der von Pakistan ausgeht, durchweg übersehen hat und das Land weiterhin als Verbündeten im Kampf gegen Bin Ladin hofiert, habe in Indien 'ehrliches Entsetzen' ausgelöst. Der Kolumnist Sham Lal weist im Telegraph darauf hin, dass sich unter den Augen der pakistanischen Regierung terroristische Gruppen erneut formieren. Wie könne sich Bush im Irak engagieren, wo doch seine Kampagne in Afghanistan noch längst nicht ausgestanden sei?"

Silvio Berlusconi war ja fix dabei, George W. Bush im Krieg gegen den Irak zu unterstützen. Doch seine "Selbstdarstellung im Dialog mit Bush erinnert an die Maus, die dem Elefanten rät, sich umzudrehen, damit er sieht, wieviel Staub sie beide zusammen aufwirbeln", schreibt Dietmar Polaczek. Jetzt habe sich leider gezeigt, dass die Mehrheit der Italiener einen Krieg gegen den Irak ablehnt. Seitdem seien Berlusconi und seine Medien "auffallend still" geworden.

Weitere Artikel: Heinrich Wefing stellt Tadao Andos (mehr hier) Museum der Moderne in Fort Worth vor ("Wieder hat ein Bauwerk von eminenter Qualität eine Stadt fast über Nacht zur Kunstmetropole geadelt, mit dem bedeutenden Unterschied freilich, daß Andos Architektur die Gespreiztheit Gehrys fremd ist. Sie dient der Kunst, statt sie niederzuschlagen.") Andreas Rosenfelder hat einen Stammtisch besucht, der Möllemann gewidmet war, der wiederum heute im Münchner Vier Jahreszeiten eine Lesung hält. Eduard Beaucamp beschreibt die 362 Bremer Meisterzeichnungen Dürers, die von Russland zurückgegeben werden. Auf der Filmseite ist die Lobrede Peter Lilienthals auf den Kameramann Robby Müller abgedruckt. Müller wurde mit dem Marburger Kamerapreis ausgezeichnet. Michael Althen erinnert sich an Douglas Sirks Melodram "Was der Himmel erlaubt" von 1955. Andreas Kilb meldet, dass die Deutsche Columbia Pictures Production dicht macht.

Auf der Medienseite liefert Heike Hupertz ein kurzes Porträt des mutmaßlichen Kirch-Käufers Haim Saban. Auf der letzten Seite lesen wir eine Reportage von Tobias Hülswitt, der junge Künstler in Kairo kennengelernt hat: Alle wollen in den Westen, aber keiner mag Amerika. Patrick Bahners porträtiert Lord Bingham of Cornhill, der gern Kanzler der Oxford Universität werden würde. Und Christoph Albrecht dreht mühsam Löckchen über einen Spruch Carl Friedrich von Weizsäckers, wonach der Mensch dem Menschen ein Löwe sei.

Besprochen werden eine Ausstellung über die dunklen Geschäfte der Spionagedienste in Leipzig, Roberto Begninis Film "Pinocchio", ein Konzert zu Ehren Ligetis mit dem Ensemble Modern Orchestra und Bücher, darunter Walter Gronds Roman "Almasy" (Leseprobe) (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).