Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2003. In der NZZ beobachtet Joseph S. Nye, wie sich die USA in der dritten Dimension verheddern. Die FAZ geriet bei den Gesängen des irakischen Superstars Kazem al-Sahir in Trance. Der belgische Maler Luc Tuymans erklärt im Interview mit der SZ, warum Kunst nicht zum Journalismus werden darf. Die FR fürchtet Blutrache an einer Million Mitgliedern der Baath-Partei. Die taz findet, dass nicht nur der Westen schuld ist.

NZZ, 10.03.2003

Die USA mögen eine Supermacht sein, meint der Harvard-Politologe Joseph S. Nye (mehr hier), doch sie ist keine Macht, die ohne andere Mächte auskäme. "Vielmehr verteilt sich in einer Zeit globaler Information die Macht auf die Länder nach einem Muster, das einem dreidimensionalen Schachspiel gleicht. Auf dem oberen Brett ist die militärische Macht weitgehend unipolar. Aber auf dem mittleren Brett ist die wirtschaftliche Macht multipolar; hier stehen die Vereinigten Staaten, Europa und Japan für zwei Drittel des Weltprodukts, und China könnte dank seinem enormen Wachstum zum vierten großen Spieler werden. Das untere Brett ist die Sphäre der transnationalen Beziehungen, die außerhalb staatlicher Kontrolle über die politischen Grenzen hinweggehen... Auf diesem unteren Schachbrett ist die Macht weit verteilt, und von Uni- oder Multipolarität oder von Hegemonie zu sprechen, hat keinen Sinn... Ein dreidimensionales Spiel verliert man, wenn man nur das oberste Brett im Auge hat."

Weiteres: Wenig ruhmreich waren bisher Österreichs Ansätze, die NS-Opfer zu entschädigen. Mehr als vier Jahre hat nun die Historikerkommission über den Raub jüdischen Vermögens gearbeitet. Der Vorsitzende der Kommission, Clemens Jabloner, warnt im Gespräch mit Paul Jandl davor, den Abschlussbericht als "Schlussstrich" zu betrachten. Früher waren die Winter kälter, die Himmel blauer, die Höllen tiefer und das Theater war noch richtiges Theater - Barbara Villiger Heilig räsoniert darüber, ob es auch besser war. Georges Waser berichtet, dass die walisische Regierung endlich grünes Licht für den Bau von Richard Rogers Parlamentsgebäude gegeben hat.

Besprochen werden eine Ausstellung über tschechiches und slowakisches Exil im 20. Jahrhundert im Haus der Kunst in Brünn (mehr hier), eine Aufführung von Max von Schillings' "Mona Lisa" in St. Gallen sowie Igor Bauersima "FILM"-Inszenierung am Schauspiel Hannover.

FAZ, 10.03.2003

Ivan Nagel antwortet auf György Konrad, den einstmaligen Schulkameraden aus Budapest, der in der FAZ neulich den Krieg befürwortete: "Besetzung durch eine übermächtige Fremdarmee, die dem unterworfenen Staat das eigene beglückende System aufzwingt: hat Konrad damit in Ungarn gute Erfahrungen gemacht?"

Heinrich Wefing porträtiert in einem sehr hübschen kleinen Artikel einen der bekanntesten Popstars der arabischen Welt, den Iraki Kazem al-Sahir, der im amerikanischen Exil lebt und sich jeder politischen Äußerung enthält. Zur Zeit ist er auf Amerikatournee, und Wefing konnte in einem Konzert anhand des Liedes "Beauty and his Love" nachvollziehen, dass das Publikum seinen Star trotzdem versteht: "Ein Mann gesteht darin seiner Frau, dass er eine andere liebt, dass er immerfort an eine andere denkt, und wo Sahir dieses Lied auch singt, zuletzt im kalifornischen Berkeley, da wartet das Publikum atemlos auf den Moment, wenn er den Namen der Angebeteten herausbellt, seufzend, klagend, jubelnd: 'Bagdad'." Hier eine Seite mit Hörproben.

Weitere Artikel: Der irakische Autor Hussain Al-Mozany legt die politischen Positionen einiger bekannter irakischer Exilautoren dar. Niklas Maak, der jüngst in der FAZ die Wiederauferstehung der deutschen Malerei feierte, zeigt sich nicht einverstanden mit der Wolfsburger Ausstellung "Painting Pictures", die die Malerei in Auseinandersetzung mit neuen Medien zeigt, ein "Bilderpüree aus Comicfragmenten, abgemalten Computergrafiken, nachgemalten Zellhaufen", findet er. Siegfried Stadler besucht das neu bestückte Lutherhaus in Wittenberg. Dietmar Polaczek greift, leider sehr kurz, den berühmten Fall Enrico Mattei auf - nach 40 Jahren scheint sich herauszustellen, dass dieser Ölboss offensichtlich von Mafia und Democrazia Cristiana ermordet wurde, und nun wird das Verfahren eingestellt. Jordan Medias berichtet über den Orchesterstreik am Broadway. Andreas Rossmann schreibt zum Tod des englischen Architekten Peter Smithson. Si. war dabei, als Gregor Gysi im Deutschen Theater Berlin eine Gesprächsreihe eröffnete und Peter Zadek im ersten Gespräch der Reihe Gerhard Schröders Politik "komplett erstaunlich, total toll" nannte. Gemeldet wird, dass nun auch Köln die Frankfurter Buchmesse will.

Auf der letzten Seite begleitet Regina Mönch die Staats-, Haupt- und Bundeskulturministerin Weiss auf einer Reise durch den Osten und singt nebenbei ein Hohelied auf Städte wie Neubrandenburg und Greifswald, die sechs und mehr Prozent ihrer mageren Etats für Kultur aufwenden. Siegfried Stadler berichtet über ein Ereignis, das die Alte-Musik-Szene in Aufruhr versetzt: Die Instrumente der Engel aus dem Freiberger Dom - echte Stücke, nur vergoldet - sollen jetzt zum ersten mal gespielt werden! Andreas Rossmann besucht eine Peter dem Großen geweihte Ausstellung in Dortmund. Auf der Medienseite berichtet Dirk Schümer, dass eine neue Führung die italienische Staatsanstalt RAI retten soll. Und Patrick Bahners setzt die ausführliche Berichterstattung dieser Zeitung über das Superstar-Spektakel mit einem Artikel über die Nacht der Entscheidung fort.

Besprochen werden Sarah Kanes Stück "Phaidras Liebe" in Christina Paulhofers Inszenierung an der Schaubühne, Heiner Goebbels' neues Stück "Kurze Eintragungen", das in Berlin uraufgeführt wurde, eine Ausstellung über Dali in Düsseldorf, eine Ausstellung über die Römer in Mainzund einige Sachbücher, darunter eine Caligula-Biografie von Aloys Winterling.

FR, 10.03.2003

Lou ist zwar kein "Superstar", vertritt Deutschland dafür aber im Grand Prix Eurovision. Nach dem Genuss der Vorrunde in Kiel warnt Frank Keil: "Alle Versuche, diesen seit 1956 ausgetragenen Wettbewerb über Maßen mit Bedeutung aufzuladen und Jahr um Jahr erneut nach ausbaufähigen Bezügen zum Tagesgeschehen Ausschau zu halten - in diesem Jahr lag als Folie der angekündigte Krieg und/oder die miese Wirtschaftslage verlockend nahe -, sind so mit äußerster Vorsicht zu genießen." Keil findet trotzdem, der Grand Prix passt zum bundesrepublikanischen Alltag. "Am Ende des Abends erging es einem somit wie tagsüber bei einer normalen Bundes- oder Landtagswahl: Sich aus dem, was geblieben ist, für etwas entscheiden müssen, was man dann oft tut, ohne mit ganzem Herzen dabei zu sein."

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Politikberater (mehr hier, dauert aber, aufgrund riesiger Dateien) Michael Lüders erklärt, warum der Irak auf absehbare Zeit nicht demokratisch werden wird. "Sobald Saddam Hussein gestürzt und amerikanische Truppen in Bagdad einmarschiert sind, dürften die Konflikte, die das Regime jahrzehntelang gewaltsam unterdrückt hatte, offen ausbrechen. Die Schergen und Parteigänger des Diktators müssen damit rechnen, Opfer grausamer Vergeltung zu werden - die Blutrache gehört auch im Nahen Osten zum Ehrenkodex. Die regierende Baath-Partei hat immerhin eine Million Mitglieder."

Weitere Artikel. Rolf Wörsdorfer schreibt ein kleines Porträt von Slowenien, seiner Geschichte, seiner Literatur und seinen Busfahrern mit ihrem "Radiogedudel aus westlichem Rock und alpinem Folk". Elke Buhr präsentiert in Times mager ein Dramolett, das aus Versatzstücken eines ganz gewöhnlichen Chatroom-Aufenthalts besteht. Gemeldet wird, dass Köln um die Buchmesse wirbt und dass der Broadway dieses Wochenende dunkel blieb - es wird gestreikt.

Auf der Medienseite betreibt Karin Ceballos Betancur die "Superstar"-Nachlese und attestiert Deutschland eine Vorliebe für Typen ohne Ecken und Kanten. Na ja, zumindest das Deutsch von Bohlen ist schon mal nicht wirklich fließend und glatt.

Die Besprechungen widmen sich der Uraufführung von Pierre Bartolomees dreistündiger Oper "Oedipe sur la route" am Brüsseler Theatre de la Monnaie sowie Sarah Kanes Stück "Phaidras Liebe" an der Berliner Schaubühne.

TAZ, 10.03.2003

Reifer sind die Deutschen nach dem 11. September geworden, lobt Eberhard Seidel. Und toleranter. "Im Gegensatz zu Großbritannien, Italien und den Niederlanden fehlt in Deutschland jeder Ansatz von antiarabischer und antiislamistischer Kampfbereitschaft. Daran können auch die beinharten Transatlantiker der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und der Zeit wenig ändern. Ihre Appelle, die Deutschen mögen doch ein wenig aggressiver gegen den Terror aus einer reformunfähigen arabischen Welt auftreten, verhallen ungehört." Ein Hindernis für den interkulturellen Dialog sieht Seidel aber dennoch. "Offensichtlich ist es einfacher, den Westen für den desolaten Zustand der arabischen Welt verantwortlich zu machen, als zu sagen: Die Menschen in den arabischen Ländern werden von einem verkommenen Haufen von Despoten regiert und drangsaliert. Aber wie fruchtbar kann ein Dialog sein, der mit Kritik spart und mit masochistischer Selbstbezichtigung beginnt?"

Auf der Tagesthemenseite erklärt Egon Bahr im Interview, warum 1. Der Irakkrieg praktisch nicht mehr vermeidbar ist . 2. Bundeskanzler Schröder Recht hat: Die USA müssen ihren Krieg ohne die Deutschen machen. 3. Dass man durch Nichtbeteiligung "irrelevant" wird, sei ein "Kindermärchen".

Auf der Meinungsseite kommentiert Bahman Nirumand die landesweiten Kommunalwahlen im Iran, an denen sich nur 25 bis 30 Prozent der Wähler beteiligt haben. Für Nirumand haben die Wahlen "das Ende der Ära Chatami und der Reformversuche innerhalb des Gottesstaates eingeläutet. Abermals hat die überwiegende Mehrheit des Volkes Nein gesagt, und dieses Nein galt nicht allein den Konservativen, sondern dem gesamten System. Deutlicher konnte die Botschaft nicht ausfallen."

Weitere Artikel im Feuilleton: Tom Holert weist darauf hin, wie das amerikanische Militär die "Ästhetik des Schocks" benutzt, um (ebenso wie die Terroristen) ihre Operationen mystisch zu überhöhen - Beispiel shock and awe. Besprochen wird Sarah Kanes Stück "Phädras Liebe", inszeniert von Christina Paulhofer in der Berliner Schaubühne.

Und Tom.

SZ, 10.03.2003

Der belgische Maler Luc Tuymans erklärt im Interview, warum Kunst nicht zum Journalismus werden darf und warum Kunst wie Kultur immer mit Gewalt zu tun haben. "Nehmen Sie den Holocaust. Er gründet auf einem kulturellen Prinzip, das die Vernichtung von Leben an den Konsum bindet. Aber das ästhetische Prinzip der Gewalt gab es zu allen Zeiten. Die Kolonnaden von Bernini in Rom, vor dem Dom St. Peter, sind reine Propaganda. Die Architektur umarmt buchstäblich das Volk. In der Renaissance waren die Künstler und ihre Privilegien extrem abhängig von der jeweils herrschenden Macht. Kunst repräsentiert Macht. Es ist kein Zufall, dass Hitler ein durchgefallener Künstler war." Im Augenblick sind Arbeiten von Tuymans (hier einige Beispiele) im Kunstverein Hannover zu sehen.

Weitere Artikel: Andrian Kreye berichtet von den schon angelaufenen Operationen der amerikanischen PSYOP-Truppen (mehr hier), die irakische Soldaten mit wachsendem Erfolg durch Radiosendungen und Gefechtsbeschallung zum Aufgeben zwingen. Rudolph Chimelli hat das Strategiepapier Rebuilding America's Defenses des konservativen Thinktanks Project for the New American Century studiert und in dem schon im September 2000 entstandenen Dokument eine genaue Blaupause der gegenwärtigen US-Politik gefunden. Alexander Kissler weiß von Plänen der EU-Kommission, die Stammzellenforschung und damit auch den Embryonenverbrauch im Rahmen des sechsten Forschungsrahmenprogramms (mehr hier) zu intensivieren. Heribert Prantl geißelt im Aufmacher die Diskussion über eine begrenzte Zulassung der Folter als eines Rechtsstaates unwürdig und "Indiz für zvilisatorische Regression". Claus Koch macht sich Noten und Notizen, diesmal auch über die verschwundene Kaste der Kremlinologen.

Fritz Göttler schreibt zum Tod des französischen Schriftstellers und Filmemachers Sebastien Japrisot (mehr hier). Florian Coulmas weist darauf hin, dass "Ground Zero" vor dem Fall der Twin-Towers die Bezeichnung für das Epizentrum einer Atombombenexplosion war und im Besonderen für Hiroshima galt. "jri" meldet, dass Österreichs Universitäten jetzt staatliche Universalräte vor die Nase gesetzt bekommen, darunter viele von der FPÖ und davon fast alle vom rechten Rand der Partei. Schließlich bringt die SZ noch einen kurzen Nachruf auf den deutschen Filmemacher Manfred Durniok (hier die Seite seiner Produktionsfirma).

Auf der Medienseite verbeugt sich Roger Willemsem in der Reihe Große Journalisten vor dem Idealisten, Monomanen und Meister der Polemik Karl Kraus, der in seiner Zeitschrift "Die Fackel" einige "Kronjuwelen deutscher Essayistik" geschaffen hat.

Besprochen werden Stephan Märkis Inszenierung von Kristo Sagors "Werther. Sprache der Liebe" in Weimar, David R. Ellis Horrorfilm "Final Destination 2", und Bücher, darunter Carl-Wilhelm Reibels solider Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit, "Das Fundament der Diktatur", Mo Yans feiner und brutaler Roman "Die Schnapsstadt" (Leseprobe) und eine gelungene Werkauswahl mit Gedichten und Prosafragmenten von Andre du Bouchet (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 10.03.2003

Da wir es am Samstag nicht getan haben, weisen wir hir auf einen "Offenen Brief an den Friedesndemonstranten" vom viel gefeierten Romancier Leon de Winter hin, der vorgestern in der Welt veröffentlicht wurde: "Ich sage Ihnen auch, was mich an Ihren Demonstrationen gestört hat. Saddam Hussein, einer der menschenverachtendsten Diktatoren der vergangenen Jahrzehnte, der unmittelbar für die heutige Krise verantwortlich ist, wurde auf den meisten Transparenten nicht genannt. Der Akzent lag auf den Führern zweier westlicher Demokratien, zwei Politikern, die sich vor ihren Parlamenten verantworten müssen."